Anatol Ginelli: Der Zeit voraus
Eduard Kögel
5. Juli 2023
Selbstbildnis © Anatol Ginelli
Diesen Frühling war im Haus der Architektur in Graz eine Ausstellung zur Grazer Schule zu sehen. Von 1975 bis 1996 lehrte an der dortigen Universität Anatol Ginelli, der bei Hans Scharoun in Berlin studiert hatte. Ein Porträt
Hans Scharoun (1893–1972) blieb in seiner Genialität immer auch etwas eigenbrötlerisch. Nach dem Zweiten Weltkrieg unterrichtete er an der Technischen Universität Berlin die Nachkriegsgeneration in seinem besonderen Architekturverständnis des Neuen Bauens, das von Frank Lloyd Wright inspiriert war, und er betrieb sein eigenes Büro, in dem eine Reihe von jungen Architekten arbeiteten. In einer kleinen Serie stellen wir hier einige seiner ehemaligen Mitarbeiter und Studenten vor, die aus unterschiedlichen Gründen in seinem großen Schatten blieben.
Als Anatol Ginelli vor über zehn Jahren ein Büchlein publizierte, gab er ihm den Titel »Meine durch und durch erdachte Stadt«. Im Ankündigungstext heißt es dann: »Der Autor entwirft ein Programm von Funktionen, Strukturen und Räumen, in Assoziationsschüben seines Gedankenstroms, im fragmentarischen Redefluss ohne Punkt und Komma entsteht eine Vorlesung zum Nach- und Vordenken als Bild einer neuen Stadt und als Aufforderung, die ideale Stadt zu denken und zu visualisieren.« Und Ginelli kann wirklich fabulieren über Städte, Architektur und Raumlandschaften, denen er mit seinen gebauten und gezeichneten Projekten ein Fundament gegeben hat.
Wohnturm Siena, 1992 © Anatol Ginelli
Pflanzenschutzamt in Bonn 1956–58 © Anatol Ginelli
Der heute 96-jährige Anatol Ginelli wurde 1927 in der Kleinstadt Zduńska Wola im Westen Polens geboren, die damals etwas über 25’000 Einwohner hatte. Die Vorfahren der Familie kamen aus der italienischen Schweiz und aus Russland, das die Eltern 1919 verlassen hatten. 1940 siedelte die Familie nach Deutschland über. Ab 1948 studiert Ginelli an der TU Berlin, unter anderen bei Hans Scharoun (Städtebau), bei Herta Hammerbacher (Landschafts- und Gartengestaltung) und bei Willy Kreuer (Hochbau). Bei letzterem schloss Ginelli im November 1955 das Diplom mit einem Entwurf für einen Zoo ab, der Landschaftsgestaltung und Architektur verband und als hervorragende Leistung ausgezeichnet wurde. Nach mehreren Stationen als angestellter und freier Architekt, kehrte er 1960 für zwei Jahre als Assistent an den Lehrstuhl von Herta Hammerbacher an die TU Berlin zurück. Bereits zuvor wurde in Bonn das von ihm entworfene filigrane Pavillonsystem für das Pflanzenschutzamt der Landwirtschaftskammer Rheinland fertiggestellt.
Friedhofgebäude in Ulm 1963–70 © Anatol Ginelli
Friedhofsgebäude in Ulm 1963–70 © Anatol Ginelli
Station in Ulm
1963 wechselte Ginelli in die Entwurfsabteilung des Planungsamtes in Ulm, wo er drei Jahre später zum Leiter des Hochbauamtes und 1973 zum Baudirektor ernannt wurde. In Ulm war er auch als Dozent für Städtebau an der Hochschule für Gestaltung tätig. Unter seiner Leitung wurden mehrere Schulen erweitert und neu gebaut, dazu kamen der Neubau der Frauenklinik in Ulm (1963–64), ein Friedhofsgebäude (1963–70), Mehrzweckhallen in Ulm-Wiblingen (1967) und in Jungingen (1972/73), und mehrere städtebaulichen Planungen sowie individuelle Wohnbauten.
Gemeinschaftshaus in der Gropiusstadt
Parallel zu seinem Engagement in Ulm gewann Ginelli 1965 in Berlin den Wettbewerb zum Gemeinschaftshaus in der Gropiusstadt, das er zusammen mit seiner Frau Ingrid bis zur Fertigstellung 1973 betreute. Dazu schrieb er: »Dieser Bau soll ein ›Mehrzweckhaus‹ und gerade deshalb ein ›Mehr-als-Zweck-Haus‹ sein.« Im Zentrum des Bauensembles entstand ein zum Himmel offener, kleiner Stadtplatz, der jeweils von den vier Ecken her mit einer überbauten Gasse erschlossen wurde. Wie bei Scharoun oft zu finden, bezeichnete auch Ginelli den zentralen offenen Platz im Zentrum als einen »Raum der Mitte«, den er als sozialen Ort des Ensembles konzipierte.
Gemeinschaftshaus Berlin Gropiusstadt, Hauptfassade 2023 © Eduard Kögel
Gemeinschaftshaus Berlin Gropiusstadt, Treppenanlage 2023 © Eduard Kögel
Gemeinschaftshaus Berlin Gropiusstadt WB 1965 © Anatol Ginelli
Die vielfältigen, teils kleinteiligen Nutzungen von Werkräumen, Bibliothek, Gastronomie, Kegelbahn im Keller und Hausmeisterwohnung im Erdgeschoss, bis zum Festsaal im ersten Obergeschoss waren vom Innenhof her erschlossen. Die unterschiedlichen Funktionen sind in eigenen Bauvolumen untergebracht, die von einem asymmetrischen und den jeweiligen Höhen angepassten Dach überspannt werden. Die polygonale Dachfläche zieht den Komplex als eigenwillige Bauskulptur zusammen, die dem von Hugo Häring erfundenen Begriff der ›Verdächerung‹ nahekommt. Dabei tritt das Dach von außen und vom Innenhof als breiter Betonstreifen in Erscheinung, der den jeweils überdeckten Bauteil mit einem Überstand überragt und somit kräftig die Kontur mitbestimmt. Die Fassaden sind durchgehend mit rotem Backstein verkleidet und fassen den heterogenen Baukomplex zusammen.
Der große Saal ist auf einer Ebene für unterschiedliche Nutzungen ausgelegt. Die Deckenlandschaft aus geschwungenen Streifen ist von Alvar Aalto inspiriert und gibt ihm hervorragende akustische Eigenschaften. Die beiden Aufgänge links und rechts des Saales sind mit dreieckigen Oberlichtern ausgestattet, die in der Dachhaut expressiv hervortreten.
Das Gemeinschaftshaus wurde zwischen 2004 und 2007 von Atelier Borgelt Jost den heutigen Bedingungen angepasst und saniert. Dabei wurden unter anderem zwei der vier Durchgänge zum Platz in der Mitte überbaut. Die Südseite wurde mit einer großzügigen Verglasung geöffnet und es entstand ein durchgängiges Foyer. Der ebenfalls sanierte Festsaal und die Bibliothek dienen auch nach 50 Jahren noch ihren ursprünglichen Zwecken.
Wohnbebauung Märkisches Viertel Berlin 1965–67, unrealisiert © Anatol Ginelli
»Die schönsten sind die nicht gebauten Entwürfe«
Dieses Zitat von Frank van Klinkeren stellt Ginelli vor seine vielen nicht realisierten Entwürfe. In den Jahren von 1965 bis 1967 arbeitete er an einem Wohnbauprojekt für das Märkische Viertel in Berlin. Vor Jahren kam ich mit ihm über das unrealisiert gebliebene Projekt ins Gespräch, das den Verantwortlichen in seiner ersten Fassung als hufeisenförmige ›Wohnburg‹ wohl zu unordentlich erschien. Aus der zweiten Fassung, in der Ginelli nach urbanen Strukturen suchte, mit Gasse, Weg und Platz, ist dann auch nichts geworden. Dem viel gescholtenen Märkischen Viertel ist da sicher eine Baugruppe entgangen, die dem damals gängigen radikalen Funktionalismus etwas entgegengestellt hätte.
Als Hochschullehrer in Graz
Ab 1975 unterrichtete Ginelli am Institut für Baukunst an der Technischen Universität in Graz, wo er unter anderem die Grundlagen der Gestaltung sowie Architektur und Kunsttheorie vermittelte. Zu seiner Lehre schrieb er einmal: »Entwerfen ist Denken. Eine Schule des Entwerfens ist eine Schule des Denkens« und weiter, »Gibt es Architektur ›an sich‹? Architektur an sich ist nutzlos, aber gerade dann ist sie Architektur. Nur im Bereich des Nutzlosen, Sinnlosen ist ein ›an sich‹ möglich.« Ginelli wollte die Studenten sensibilisieren über die reine Funktion hinauszudenken, um so einen produktiven Beitrag zur Entwicklung der Architektur zu leisten. Mit dem Blick in die Zukunft, ließ er im Rahmen eines Seminars die Studenten einen 18-geschossigen Turm konzipieren, zu dem jeder eine individuelle Einheit beitrug, mit dem er auf die Endlichkeit des Baugrundes aufmerksam machte.
Neben seiner Tätigkeit als Hochschullehrer beteiligte er sich als Kritiker und Juror bei Architekturwettbewerben und nahm selbst zusammen mit wechselnden Partnern an Wettbewerben teil. Zum Beispiel beim Wettbewerb zum Opernhaus in Graz kooperierte er mit Hubert Hoffmann und Arnold Weber, und beim Wohnbauwettbewerb Kapfenberg/Diemlach arbeitete er mit Ingrid Eberl und Friedrich Gollmann zusammen.
Turmbau zu Graz, Studentenarbeit 1992 © Anatol Ginelli
Wandgemälde Gemeinschaftshaus Berlin Gropiusstadt, unausgeführt © Anatol Ginelli
© Anatol Ginelli
Ginelli’s Blick richtet sich immer nach vorne: »Wie viel historische Institute, Lehrstühle, Vereinigungen gibt es, wie viel Historiker, Denkmalschützer, Archäologen, Archivare, Altstadterhalter, Revitalisierer, Kunstgeschichtler, Konservatoren und Konservative, wie viel der Vergangenheit gewidmete Ausstellungen, Veröffentlichungen, Fonds- und Gelder – im Vergleich zur Zukunftsforschung?«
Mit bunten Collagen, Skizzen und Grafiken kommentiert er sein eigenes Tun und machte mit einem Augenzwinkern auf Alternativen aufmerksam, die sich mit ernsten Problemen der Gestaltung befassen und oft als Kommentar gelesen werden können. Für seine Architektur orientiert sich Anatol Ginelli an einem breiten Kulturbegriff, der ihm aus vielen Ausdrucksformen über die Jahrhunderte die Inspiration liefert, und die maßgeblich seine Auffassung einer kritischen Umweltgestaltung prägt.
Projektliste Anatol Ginelli (Auswahl)
– Pflanzenschutzamt, Bonn 1958
– Friedhofsgebäude, Ulm 1963–70
– Gemeinschaftshaus in der Gropiusstadt, Berlin-Neukölln 1964–73 (mit Ingrid Ginelli)
– Wohnungsbau im Märkischen Viertel, Berlin 1965–67 (unrealisiert)
Bisher in der Reihe erschienen:
Der Name Jan Beng Oei ist außerhalb eines kleinen Kreises in der Fachöffentlichkeit so gut wie unbekannt. Das erstaunt, denn er hat seit den Sechzigerjahren als starker Entwerfer sein Büro mit öffentlichen Wettbewerben aufgebaut. Als chinesischer Emigrant aus Indonesien gelang ihm eine bedeutende Karriere im süddeutschen Raum, die ihre Anfänge auch im Büro von Hans Scharoun in Berlin hatte. Zum Beitrag
Architekt Chen Kuen Lee sah das Bauen als die Fortsetzung der Landschaft mit anderen Mitteln, um so das alltägliche Leben der Nutzer mit der Natur zu verknüpfen – lange bevor Ökologie ein Schlagwort war. Lee arbeitet zwischen 1937 und 1941 sowie 1949 bis 1954 bei Hans Scharoun, den er als seinen Meister ansah. Im Rückblick wird deutlich, dass es eine gegenseitige Einflussnahme war, denn im Diskurs mit ihm lernte Scharoun etwas über die traditionelle chinesische Philosophie, die den Menschen als Teil der Umwelt sieht. Eduard Kögels Artikel zum Architekten erschien bei uns im Mai.
Die Liste der von Stephan Heise (1928 – 2017) realisierten Bauten blieb kurz. In seinem von ihm selbst angelegten Werkverzeichnis werden zwar 53 Positionen aufgelistet, wozu er auch die im Studium gemachten Entwürfe zählte. Er selbst verstand sich als baumeisterlichen Künstler, der von Hans Scharoun die wesentlichen Impulse empfangen hat und den er bis ins hohe Alter sehr verehrte. Obwohl seine Bauten durchaus hohen künstlerischen Stellenwert haben, sind sie eigentlich fast nie in der Fachpresse besprochen worden. Den Artikel über ihn können Sie hier nachlesen.
Gisela Schmidt-Krayer (*1938) stammt aus einer Architektenfamilie, wo bereits der Großvater, der Vater und der Bruder den Beruf des Architekten ausübten. Sie studierte bis zum Vordiplom an der TH Stuttgart. Für ein Praktikum kam sie dann nach Berlin, u. a. ins Büro von Hans Scharoun. Das Hauptstudium an der TU Berlin schloss sie im Juni 1965 bei Bernhard Hermkes ab. Die Scharounsche Idee eines „Raums der Mitte“, der dem Bauensemble ein Zentrum geben sollte, finden sich nicht nur in der Diplomarbeit, sondern auch in anderen frühen Projekten der Architektin. Den Beitrag zu ihren Arbeiten finden Sie hier.
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