Chen Kuen Lee: Bauen als Fortsetzung der Landschaft

Eduard Kögel
4. Mai 2022
Chen Kuen Lee (Foto: privat)


Vor 50 Jahren starb Hans Scharoun (1893–1972), der in seiner Genialität immer auch etwas eigenbrötlerisch blieb. Nach dem Zweiten Weltkrieg unterrichtete er an der Technischen Universität Berlin die Nachkriegsgeneration in seinem besonderen Architekturverständnis des Neuen Bauens, das von Frank Lloyd Wright inspiriert war, und er betrieb sein eigenes Büro, in dem eine Reihe von jungen Architekten arbeiteten. In einer kleinen Serie stellen wir hier einige seiner ehemaligen Mitarbeiter und Studenten vor, die aus unterschiedlichen Gründen in seinem großen Schatten blieben.


Bis heute bleiben homosexuelle Architekten und Architektinnen mit einer Menge Tabus behaftet und mit Verspätung werden die eigentlich privaten Aspekte im Kontext ihrer Werke angesprochen. Bei Politikern und Künstlern aller Gattungen wird dies bereits seit Jahren als identitätsstiftender Aspekt ihrer Arbeit diskutiert, denn durch die sexuelle Orientierung resultierten Benachteiligungen – und im Nachkriegsdeutschland der Fünfzigerjahre drohte sogar Haft. Ähnlich tabuisiert wie bei Architekten ist das Thema lediglich bei Fußballern. Als ich vor einigen Jahren in einem Beitrag über Chen Kuen Lee (1914–2003) in einer renommierten deutschen Fachzeitschrift auf dessen sexuelle Orientierung hinwies, wurde dieser Absatz aus dem gedruckten Text ersatzlos gestrichen. Aber wie sonst soll man sein Werk verstehen? Deshalb ist es wichtig darüber zu schreiben und die damit verbundene Benachteiligung beim Namen zu benennen.

Chen Kuen Lee kam 1930 im jugendlichen Alter aus China nach Deutschland und studierte Architektur. Kurz war er in der Meisterklasse des 1936 verstorbenen Hans Poelzig; im darauffolgenden Jahr erhielt Lee sein Diplom an der Technischen Hochschule Charlottenburg, der heutigen TU Berlin. 1937 überfielen die Japaner seine Heimatstadt Shanghai und der Vater riet ihm erst einmal in Deutschland zu bleiben. Hier waren die für ihn interessanten Architekten bereits in der Emigration oder saßen auf gepackten Koffern. Einer der wenigen, der noch in Berlin arbeitete, war Hans Scharoun. Bei ihm fand Lee Unterschlupf. 
 

Haus Straub Senior, Eingang (Foto: Eduard Kögel)
Haus Straub Senior, Gartenfassade (Foto: Eduard Kögel)
Haus Straub Senior (Plan: Lee und Mattern, Foto: Eduard Kögel)
Haus Straub Senior, Treppe (Foto: Eduard Kögel)
Haus Straub Senior, Gartenpavillon und Glaskunst (Foto: Eduard Kögel)
Haus Straub Senior


Nach dem Krieg traf Lee durch die Vermittlung von Scharoun auf den Möbelfabrikant Carlheinz Jonny Straub, der für seine Familie ein Haus außerhalb des Siedlungsgebietes einer Kleinstadt in Süddeutschland bauen wollte. Für Lee war es eines der ersten Projekte seiner Selbständigkeit. Das Grundstück lag im Landschaftsschutzgebiet und für die Baugenehmigung brauchte es einige Gutachten. Beim Haus Straub Senior (1955–1956) musste aus diesen Gründen mit unterschiedlichen Behörden verhandelt werden und erst bei einem Termin vor Ort konnte er mit einem Model überzeugten. Aber wie man Eindruck macht, wusste Lee. In einem Brief nach einem der Treffen auf dem Grundstück schrieb ein Beteiligter an ihn: „Wir haben immer noch vor Augen (besonders Annemarie), wie du, in todschickem Mantel, lässig elegant mit der Zeichenrolle winkend, den Stratocruiser bestiegst.“ Da er selbst keinen Führerschein hatte, reüssierte sein Lebenspartner als Fahrer.

Das komplexe Raumgefüge des Hauses erforderte auch einen kreativen Bauingenieur, den Lee in Christian Sättele fand, der in den folgenden Jahren bei den meisten seiner Bauten die Statik rechnete und ohne dessen Beitrag die Architektur so nicht möglich gewesen wäre. Für den Außenraum arbeitete Lee mit dem renommierten Landschaftsarchitekten Hermann Mattern zusammen, der dazu beitrug, dass Landschaft und Architektur zu einer Einheit zusammenkamen. Lee kannte Mattern aus dem Büro Scharoun, der mit ihm seit den Dreißigerjahren zusammenarbeitete. Der Clou bei Haus Straub Senior war ein sichelförmiger Teich, der unter der Wohnzimmerverglasung aus dem Garten bis in den Innenraum ging. Es ist nicht schwer vorzustellen, dass diese Idee aus bauphysikalischen Gründen durchaus problematisch war, wie mir die Bauherrin bei einem Gespräch vor 20 Jahren versicherte.

Für das Haus entwickelte Günter Ssymmank, der von 1955 bis 1957 als Assistent bei Scharoun an der TU Berlin arbeitete, die elegante freistehende Treppe aus Aluminium mit Trittflächen aus Ulmenholz. Der Künstler Christian Oehler trug ein dekoratives Betonglasfenster bei, das durch ein stark vergrößertes traditionelles chinesisches Muster – das gesprungenes Eis symbolisiert – strukturiert ist. Mit den ersten spektakulären Projekten im Portfolio konnte Lee weitere Bauherren gewinnen, die entweder einer alternativen Szene oder aber der liberalen kulturellen Boheme zuzuordnen waren. Seine Auftraggeber blieben aber privat, da er mit seiner sexuellen Orientierung bei öffentlichen Aufträgen bis Anfang der Siebzigerjahre aufgrund des Paragraphen 175 mit Schwierigkeiten zu rechnen hatte. Dazu kam, dass er ab den Fünfzigerjahren staatenlos war – in Kombination mit schwul war das ganz sicher kein Karrierebeschleuniger.
 

Haus Gilliar in der Topografie (Foto: Eduard Kögel)
Haus Gilliar
Haus Gilliar


In der bayerischen Provinz entstand das Haus Gilliar (1966–1968) ebenfalls in einem Landschaftsschutzgebiet. Die Widerstände gegen den Standort wurden zum einen durch den Einfluss des Bauherrn eliminiert, andererseits aber auch, weil Lee sich mehrere Tage auf dem Gelände aufhielt und das Bauvolumen so gruppierte, dass es in der Topografie verschwand. Hier arbeitete er im Innenraum mit Günter Ssymmank und im Außenraum mit dem Landschaftsarchitekten Hannes Haag zusammen. Ssymmank entwickelte neben einer individuellen Treppe, Lampen und weiteren Einrichtungen auch ein Dachfenster, das sich über einen Motor wie eine Blüte öffnen lässt.
 

Lee, Märkisches Viertel (Foto: Eduard Kögel)
Sozialer Wohnungsbau


Seinen größten Auftrag im Berliner Märkischen Viertel mit über 1700 Wohneinheiten verdankte Lee dem für den Städtebau verantwortlichen Georg Heinrichs, der die Architekten auswählte. Heinrichs beauftragte vor allem Architekten, die ganz sicher nicht in den Nationalsozialismus verwickelt waren, unter denen er selbst als Kind einige Zeit im Arbeitslager verbringen musste. Aber das Märkische Viertel wurde noch bevor es fertig war zum Synonym für einen verfehlten Städtebau. Auch die Energiekrise Ende der Siebzigerjahre wirkte sich negativ auf Lees Auftragslage aus. Deshalb ging er von 1981 bis 1996 mit seinem Partner nach Taiwan, wo er an der Tunghai Universität unterrichtete. Danach kehren beide nach Berlin zurück, wo sie bis zu seinem Tod in einer der von ihm geplanten Sozialwohnungen im Märkischen Viertel lebten. 

Während der Kriegsjahre hatte Lee zusammen mit Scharoun und Hugo Häring in informellen Zusammentreffen die traditionelle chinesische Architektur studiert, und daraus Aspekte destilliert, die nach dem Krieg ihre architektonische Haltung eines fließenden Raumes definierte. Die Idee, geneigte Dächer als Fortsetzung der Landschaft zu sehen und die Natur mit der Architektur zu verschmelzen, setzte ein Grundthema, das sich bei den Architekten aus dem Umfeld von Scharoun nach dem Krieg wiederfindet. 

Chen Kuen Lee baute fast nur für private Bauherrn Ein- und Mehrfamilienhäuser. Dass er keine öffentlichen Aufträge bekam, hing sicher auch mit seiner Homosexualität zusammen, denn dadurch wäre er für missgünstige Konkurrenten leicht zu einer öffentlichen Zielscheibe geworden. Viele seiner Häuser stehen heute unter Denkmalschutz. Denn die ungewöhnlichen Wohnlandschaften, die Verbindung zwischen Innen und Außen sowie die Kooperation zwischen verschiedenen Disziplinen zeitigte außergewöhnliche Architektur, die bis heute beeindruckt.
 

Projektliste Chen Kuen Lee 
(Auswahl, aus den mehr als sechzig realisierten Bauten)

– Haus Scharf, Obersdorf 1953–54

– Haus Ketterer, Stuttgart 1954–55

– Haus Straub Senior, Süddeutschland 1955–56

– Haus Kiekert, Heiligenhaus 1960

– Kettenhäuser Adolf Haag, Stuttgart 1961–62

– Apartmenthaus Bense, Stuttgart 1961–62

– Sozialer Wohnungsbau Märkisches Viertel, Berlin 1965–70

– Haus Dr. Gilliar, Nabburg 1966–68

– Haus Audry, Steinfort, Luxemburg 1967–69

– Haus Straub Junior, Süddeutschland 1975–78

– Haus Gärtner, Bretten 1979–81

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