Auf gutem Weg
Leonhard Fromm
27. März 2024
Foto: IBA Stuttgart
Pandemie, Ukrainekrieg und Wohnungsnot verstärken den Bedarf an Inspiration und Innovation. Eine Halbzeitbilanz zur IBA’27 in Stuttgart.
26 Projekte mit einem Finanzierungsvolumen von sechs Milliarden Euro hat die IBA’27 für die Region Stuttgart seit ihrer Gründung vor sechs Jahren auf den Weg gebracht. Das entspricht 9000 Wohnungen und 11'800 Arbeitsplätzen auf 84 Hektar Bestandsflächen, die saniert, revitalisiert und transformiert werden. Dafür wurden rund 100 vielversprechende Vorhaben eingereicht, gesichtet und bewertet. Zehn Quartiere und Objekte liegen in Stuttgart, 16 in den umliegenden Landkreisen.
Gut die Hälfte aller IBA’27-Projekte haben Kommunen initiiert, weil sie im Besitz der Flächen und Gebäude sind. Teils werden für deren Umsetzung aber noch Investoren gesucht, weshalb das eine oder andere Vorhaben wieder herausfallen könnte. All diese Zahlen nennt IBA’27-Pressesprecher Tobias Schiller. Demnach werden zehn der 26 Projekte von lokalen Genossenschaften oder kommunalen Wohnbauträgern realisiert. Neun Vorhaben wie etwa die ehemalige Spinnerei in Wendlingen sind rein private Initiativen, denen Grundstücke und Gebäude gehören. Den Rest bilden Mischformen, in denen sich unterschiedliche Akteure zusammengeschlossen haben.
Bei rund 45 Vorhaben und Projekten sehen die Macher der IBA’27, deren Gesellschafter die Architektenkammer Baden-Württemberg, die Stadt Stuttgart, die Universität Stuttgart, der Verband Region Stuttgart und die Wirtschaftsförderung der Region Stuttgart sind, derzeit Potenzial, Teil der Ausstellung zu werden. Dabei reicht das Spektrum von Quartieren, in denen Arbeiten und Wohnen oft über Generationengrenzen hinweg verschwimmen, über vielfältig anpassbare Grundrisse für bezahlbares Wohnen in allen Lebensphasen bis hin zu einfach, ressourcenschonend und modular konstruierten Häusern mit Materialen aus nachwachsenden Rohstoffen, die in 100 oder 200 Jahren leicht demontier- und wiederverwendbar sind.
Foto: IBA Stuttgart
Zwar hätten die Corona-Pandemie, der Ukrainekrieg und die damit einhergehende Inflation und hohen Zinsen der IBA’27 viele Dämpfer verpasst, doch habe die Geschichte der Ausstellung, die auf die Mathildenhöhe in Darmstadt 1901 zurückgeht, gezeigt, dass gerade diese Initiative immer wieder innovative Antworten gegeben habe auf Herausforderungen ihrer jeweiligen Zeit, so Tobias Schiller. »Die IBA’27 punktet angesichts der Wohnungsnot und inflationärer Kosten mit ihren kooperativen und nachhaltigen Ansätzen und markiert gesellschaftliche Wendepunkte«, meint der IBA-Sprecher.
So sind alle IBA-Projekte von einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Immobilienökonomie, künftigen Bedürfnissen und Anforderungen sowie innovativen Stadtplanungskonzepten geprägt. Und: Bislang wurden durch die verschlechterten Rahmenbedingungen nur wenige Projekte zurückgestellt. Nach heutigem Stand, März 2024, werden mindestens 20 Vorhaben zumindest in Teilen fertiggestellt sein. Andere sind 2027 in der Bauphase und können zumindest einzelne Häuser oder Bauabschnitte zeigen. Bei einigen Vorhaben werden die Prozesse samt Plänen gut dokumentiert sein, was nach 2027 kommt. Auch die Themen Um- und Zwischennutzung oder temporäre Lösungen im Bestand gewinnen bei der IBA’27 an Bedeutung.
Die meisten Projekte sind große Quartiersentwicklungen – wesentlich mehr, als 2018 erwartet. Diese sind komplex und brauchen Zeit: Die Bebauung von Quartieren mit bis zu 17 Hektar Fläche wie in Backnang weisen weit über den Zeitraum einer IBA hinaus. Einige Quartiere werden bis zur Ausstellung voraussichtlich vollständig realisiert sein, in anderen werden zumindest erste exemplarische Häuser fertiggestellt und zu besichtigen sein. Mit und durch die IBA werden zudem die Grundlagen für die wirtschaftlich, ökologisch und sozial anspruchsvolle Weiterentwicklung dieser Quartiere nach dem Ausstellungsjahr geschaffen.
Neugestaltung in Winnenden (Grafik: JOTT architecture & urbanism GbR)
Das Quartier Böckinger Straße in Stuttgart etwa ist dafür ein gutes Beispiel: Die SWSG baut hier im Dialog mit der IBA’27 und der Evangelischen Gesellschaft (eva) ein sozial durchmischtes Stadtquartier mit 400 Wohnungen bis 2027. Eine Besonderheit ist das zentral gelegene »IBA-Haus« als Experimentierfeld für neue Bau- und Wohnformen. Oder das genossenschaftliche Quartier am Stuttgarter Rotweg: Hier entwickeln die Baugenossenschaften Neues Heim und Zuffenhausen mit der IBA’27 ein Quartier für genossenschaftliches Zusammenleben. Derzeit läuft der Rückbau der Bestandsobjekte, 2027 sollen die zehn Neubauten fertig sein.
Oder das Postareal in Böblingen: Anstelle der alten Post am Bahnhof entsteht ein Ensemble aus drei großen Gebäuden, darunter ein Holzhochhaus, mit einer Mischung aus Handel, Gastronomie, öffentlichen Einrichtungen, unterschiedlichen Wohnungstypen und öffentlichen Grünflächen. Der städtebauliche Vertrag ist unterzeichnet und der Bebauungsplan genehmigt. Das Projekt soll bis 2027 teilweise realisiert sein.
Am Rand von Echterdingen entwickeln Investoren, Stadtverwaltung und Planungsteams in einem von der IBA vorgeschlagenen und begleiteten Verfahren ein beispielgebendes Wohngebiet mit bezahlbarem Wohnraum in klimaneutralen Gebäuden: Alle Häuser im sogenannten KaepseLE Goldäcker entstehen in modularer Holzbauweise, auch Recyclingmaterialien und lokal verfügbare Baustoffe werden eingesetzt. Das Quartier soll 2027 fertiggestellt sein – und nach 15 Jahren CO2-neutral in Betrieb und Errichtung.
Gegenüber des Inselbads in Stuttgart-Untertürkheim verwandelt die Bietigheimer Wohnbau ein bisher gewerblich genutztes Grundstück in ein lebenswertes Quartier, das Wohnen und Arbeiten am Fluss zusammenbringt. Das Projekt zeigt beispielhaft, wie in einem industriell geprägten Umfeld Lebensraum mit hoher Aufenthaltsqualität entsteht. 140 Wohnungen sind vorgesehen, in den Erdgeschossen sollen Gewerbe und soziale Nutzungen unterkommen. 2027 soll mit dem Umbau eines Bestandsgebäudes der erste Bauabschnitt realisiert sein.
Die Baugenossenschaft Münster entwickelt in Stuttgart direkt am Neckar mit Unterstützung der IBA’27 ein ambitioniertes sozial und ökologisch nachhaltiges Quartier in Holzbauweise – ein vorbildliches Projekt mit großen Häusern, die unterschiedliche Wohnformen mit Flächen für die Gemeinschaft ermöglichen. Das Projekt wurde in mehrere Bauabschnitte aufgeteilt, was eine Rochade der Bestandsmieter ermöglicht. 2027 wird der erste Bauabschnitt mit 55 von insgesamt 195 Wohneinheiten fertiggestellt – inklusive Sonderformen wie Pflege- und Senioren-WG sowie Clusterwohnung.
Vorstadt Schorndorf (Visualisierung: Atelier Kaiser Shen)
Weitere Vorzeigeprojekte sind das Quartier Backnang-West oder das Quartier der Generationen in Schorndorf auf dem ehemaligen Areal des Bauhofs direkt an der Rems und fußläufig zur Innenstadt. Oder das Tobias-Mayer-Quartier in Esslingen, wo mehrere Partner gemeinsam bezahlbaren Wohnraum für gemeinschaftliches Leben schaffen. Neben den Quartieren fördert die IBA’27 Einzelgebäude, zum Beispiel im legendären Stuttgarter Weissenhof im Bauhaus-Stil, wo bis 2027 ein Besucherzentrum entsteht.
Bei einigen Vorhaben kann man bereits heute erkennen, dass 2027 wohl noch wenig tatsächlich Gebautes sichtbar sein wird. Mit ihren vorbildlichen Prozessen und konkreten Planungen können sie dennoch wertvolle Beiträge zur Ausstellung leisten. Stellvertretend hierfür sei das Sindelfinger Krankenhausareal genannt, dessen Gebäude aus den 1960er-Jahren zu einem durchmischten Wohnquartier umgebaut werden, sobald der neue Klinikstandort 2025/26 bezogen ist. Schließlich wollen die IBA’27-Macher auch gescheiterte Projekte dokumentieren, weil man aus ihnen gleichfalls sehr viel lernt.