Do you care?

Katinka Corts
11. Oktober 2023
Auf dem Podium von audacity architecture talks 2023: Johannes Hohenauer, Christian-Thomas Kari, Magdalena Maierhofer, Monika Purschke, Peter Schwehr, Richard Klinger, Michael Kerbler (Bild: Videostill)

Es gibt Gemeinschaften und Orte auf der Erde, in denen Menschen scheinbar problemlos gesund sehr alt werden können. »Blue Zones« nannte sie der US-amerikanische Autor Dan Buettner erstmals 2005 in einer Publikation bei National Geographic. Fünf Regionen waren damals identifiziert worden: in Europa die griechische Insel Ikaria sowie das italienische Sardinien, zudem Okinawa in Japan, die Nicoya-Halbinsel von Costa Rica und die kalifornische Stadt Loma Linda. Einige Faktoren fielen auf, die das Leben der dort lebenden Menschen prägt: neben ausreichend natürlicher Bewegung und der Wahrnehmung, ein sinnstiftendes Leben zu führen, geht es auch um ein starkes Zugehörigkeitsgefühl in der Gemeinschaft, die räumliche Nähe zur Familie und um das soziale Umfeld. Doch wie lassen sich diese guten Muster in unseren Lebensräumen und -situationen wiederholen? Beim Audacity Talk kamen erneut, wie schon vor zwei Jahren, Vertreter*innen mehrerer Sichtweisen zusammen zum Gespräch.

Richard Klinger, der CEO von Architects Collective, benannte die demografische Entwicklung als Verpflichtung zum Handeln, schließlich seien Pflege und Pflegenotstand weiterhin in vielen Ländern ein Dauerbrenner. Seit 2018 gibt es, so Klinger, global mehr 65-jährige Menschen als unter 5-jährige, und das sei zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit so. Aktuell beziehen in Österreich etwa eine halbe Million Menschen Pflegegeld, bis 2050 soll sich diese Zahl fast verdoppeln. Was heißt das für Gesellschaften, in denen Pflege sehr oft von ebenso eher alten Menschen (die Statistik sagt: Pflege ist weiblich und meist über 60 Jahre alt) geleistet wird? In Gesellschaften, in denen alt werden, krank sein und gepflegt werden tendenziell in Einrichtungen am Stadtrand passiert, nicht in die Umgebung integriert? Klinger fordert ein gesundheitspolitisches Umdenken bei der Planung von Räumen: Statt Menschen in Institutionen an den Stadtrand zu stecken, sollte ihnen dort geholfen werden, wo auch das Leben ist – also inmitten der Stadt oder mitten im Dorf.

»Zwei Jahre sind seit unserer letzten Gesprächsrunde zu Healing Architecture vergangen. Aber wenn die Budgetziele nicht erreicht werden können, wird weiterhin immer zuerst bei diesen Softskills und der Architektur gekürzt.«

Richard Klinger, CEO Architects Collective

Idealerweise leben Menschen in großen, altersdurchmischten Gemeinschaften. Junge helfen Alten, Alte bekommen Unterstützung im Haushalt, dafür können sie wiederum zeitweise auf Kinder aufpassen – jeder wird gebraucht und ist wichtig im System. Dieses »wichtig sein« und eine Bedeutung haben ist essentiell für uns Menschen. Es hilft auch, die Pflegebedürftigkeit zu verzögern – in einer Gemeinschaft können Schwache viel länger unterstützt werden, wenn sie alleine längst in eine Institution hätten umziehen müssen. Das eingesparte Geld kann anders, besser und in die Prävention investiert werden und zu einem positiven Kreislauf an guten Impulsen führen. »Wir brauchen die Expertise und Solidarität aller Beteiligten«, so Klinger. »Es geht längst nicht mehr um nationale Bedürfnisse, sondern um alle Menschen, das Problem ist global.«

Peter Schwehr, der an der HS Luzern lehrt, unterstütze Klingers Ansicht und meinte, Klimawandel, Dichtestress, Einsamkeit und fehlende Mobilität seien die heutige Pest und Cholera. Das Ziel muss sein, die Pflegestufe so lange wie möglich zu vermeiden und mit Architektur und Städtebau, lange vor dem Bau von Spitälern und Pflegeeinrichtungen, präventiv zu wirken. Wer sich erinnert: Im Februar 2022 berichteten wir vom Symposium »The Future of Cities. Not for granted.«, das in Leipzig stattfand. 2007 war in Leipzig von allen 27 in der Europäischen Union für Stadtentwicklung zuständigen Ministerinnen und Ministern eine Charta unterzeichnet worden. Bereits in der ersten Fassung 2007 waren darin Bausteine zur resilienten Stadt enthalten, in der neueren Fassung von 2020 ging es auch um die Prinzipien, mit denen europäische Stadtplanung funktionieren muss, um gerechte, grüne und produktive Städte zu ermöglichen. Die Stadt im Wandel brauche mehr temporäre Strukturen, denn es gehe in der Zukunft nicht darum, Räume zu gestalten, sondern vielmehr darum, dem Gemeinsamen Formen zu geben – das bestätigte auch die Zusammenkunft 2022. Genau auf dieses Gemeinsame bezog sich auch Schwehr, der die kommende Zeit als eine Chance betrachtet: »Wir haben jetzt die Möglichkeit, die gesunde und grüne Stadt zu bauen – präventiver Siedlungsraum trägt aktiv zu sozialer Interaktion und zu Gemeinschaft bei, wenn darin genug Raum für das Dazwischen bleibt.«

»Ich sehe die Krise als Chance. Wir müssen weniger Betten bauen, diese dann aber in einer schönen Umgebung. Wir bekommen sonst auch schlichtweg keine Mitarbeiter*innen mehr.«

Johannes Hohenauer, Partner BDO Health Care Consultancy GmbH

Architektin Monika Purschke, die als Partnerin bei Albert Wimmer ZT GmbH Großprojekte im Gesundheitsbereich leitet, kam in diesem Zusammenhang auf die 10-Minuten-Stadt zu sprechen. »Wir sind jene, die Masterpläne für Stadtentwicklungsgebiete gestalten. Wir sollten also auch gesunde Räume und Städte entwickeln können, in denen Menschen zusammentreffen und inklusiv leben können.« Natürlich zeigen viele einzelne Projekte heute modellhaft, wie eine neue Art von Zusammenleben funktionieren kann. Diese Leuchttürme könnten aber, so Purschke, das weltweite Problem nicht lösen. Dafür brauche es eine Art kollektive Ermächtigung der gesamten Gesellschaft, wie Monika Purschke es nennt und sich damit auch auf Beispiele aus Japan bezieht. In dieser sehr deutlich überalterten Gesellschaft wird der Umgang mit Demenzkranken bereits in Schulen unterrichtet und Angestellte im öffentlichen Dienst werden als Ersthelfer für Alte und Kranke ausgebildet. 

Christian Thomas Kari, der das Pflegewohnheim St. Klemens leitet, wünscht sich diesbezüglich auch ein anderes Verständnis von Pflege: »Arbeit in der Pflege kann schwer, aber auch sehr schön sein. Grundsätzlich muss der Beruf attraktiver gestaltet und dargestellt werden.« Und es sein auch eine Einstellungssache, ob Menschen in einer Gesellschaft füreinander Verantwortung tragen wollen. »Kinder kann man früh sensibilisieren, dass es auch das Alter gibt«, so Kari. »Man kann Einstellungen zwar nicht lernen, aber eine gewisse Anregung zu schaffen ist möglich.«

»Das Freiwillige Soziale Jahr sollte vielmehr ein verpflichtender Teil für jeden und jede sein. So versteht man, dass ein Teil der Gesellschaft abhängig ist von anderen.«

Christian-Thomas Kari, Haus- und Pflegedienstleiter des Hauses St. Klemens Caritas der Erzdiözese Wien

Die Regierung Österreichs hat 2020 unter anderem zehn Ziele für eine gesunde Gesellschaft als Leitbild und zentrale Public-Health-Strategie erarbeitet – durch sozialen Zusammenhalt soll die Gesundheit aller gestärkt werden. Die Gesundheitsziele wurden mit Vertreter*innen unterschiedlicher Politik- und Gesellschaftsbereiche verfasst und sollen bis 2032 umgesetzt werden. Dies sei definitiv eine Chance, so Monika Purschke, und die Ansätze träfen auf Resonanz. Jedoch blieben die Fragen, inwieweit die Mittel dafür zur Verfügung stehen und wie das Konzept zu einer Gesellschaft passt, die sich eher individualisiert anstatt gemeinschaftlicher zu werden. Peter Schwehr verwies auf das Modell der Zeitbank, das in der Schweiz initiiert wurde: Jede Stunde, die man ehrenamtlich arbeitet, wird einem bis zu einem gewissen Umfang auf einem »Zeitkonto« gutgeschrieben. Das Guthaben wird geparkt und man kann es beziehen, wenn man es selber braucht. Das sei dann zwar nicht mehr ganz so altruistisch wie es das Ehrenamt eigentlich sein soll, aber es ist ein interessanter Ansatz, mehr Menschen in die Pflegeunterstützung zu bekommen.

Moderator Michael Kerbler stellte abschließend die Frage, welche Einzelmaßnahme sich die Teilnehmenden auf dem Podium wünschen würden, wenn sie sofort in Erfüllung gehen könnte. Menschen zu mehr eigenem Einsatz bringen, Heranwachsende früh an das Thema heranführen und die Unterstützung pflegender Angehöriger waren jene Punkte, die sehr schnell genannt wurden. Auch eine positivere Konnotation des Pflegeberufes wurde gewünscht, genauso wie ein neues Miteinander in der Gesellschaft. Denn würde sich jede und jeder fragen, was sie oder er für ein besseres Miteinander beisteuern kann, wäre schon viel getan.

Auf dem Podium
– Johannes Hohenauer, BDO Health Care Consultancy GmbH
– Christian-Thomas Kari, Haus St. Klemens Caritas der Erzdiözese Wien
– Magdalena Maierhofer, Örtliche Raumplanung TU Wien
– Monika Purschke, Albert Wimmer ZT GmbH
– Peter Schwehr, Hochschule Luzern
– Richard Klinger, Architects Collective
– Michael Kerbler, Moderation

Die Diskussion zum Anschauen und -hören (youtube)


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