Eine Gemeinde zieht um

office03 // waldmann & jungblut architekten
6. September 2023
Über ein Lichtband entlang der Kapellenwände verändert sich die Lichtstimmung im Kapellenraum kontinuierlich. Der maximale Lichteinfall auf der Wand hinter dem Altar akzentuiert diesen Bereich intensiv zur klassischen Gottesdienstzeit. (Foto: Viola Epler)
Worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?

Für eine Kirchengemeinde mit einer jahrhundertealten Geschichte galt es, neue Räume zum Treffen, Feiern und Beten zu schaffen, da das gesamte Dorf für den Braunkohleabbau im Rheinische Revier umziehen musste – ein Prozess, der in den 1970er-Jahren gestartet und nun realisiert wurde. Zurückgelassen wurde im alten Dorf eine Kirche im Neogotischen Stil aus dem 19. Jahrhundert und eine damit verknüpfte lange Geschichte, die im Neubau weiter präsent sein sollte, ohne museal zu wirken. Gleichzeitig soll das neue Gemeindezentrum der Gemeinde auch die Möglichkeit geben, sich wieder neu entwickeln und auf die Aufgaben der Zukunft reagieren zu können.

Eine großzügige Schiebetüranlage aus Glas schafft eine Blickbeziehung nach außen und ermöglicht es den Kapellenraum in den Außenraum zu erweitern. (Foto: Viola Epler)
Eine »hölzerne Wolke« schwebt über dem Kapellenraum. Das Licht gelangt ausschließlich über eine Fuge zwischen Dach und Außenwand in den Raum. (Foto: Viola Epler)
Welche Inspiration liegt diesem Projekt zugrunde?

Städtebaulich haben wir versucht, geometrisch eine neue Mitte zu formulieren. Das Gemeindezentrum befindet sich im Knotenpunkt zweier Straßenzüge. Der Bau beherbergt zwei unterschiedliche Nutzungsgruppen – den weltlichen Teil mit Pfarrsaal und Bücherei sowie den sakralen Teil mit Kapelle und Glockenturm. Beide Bereiche benötigen ganz unterschiedliche Räume: Die Kapelle einen eher introvertierten Raum für Feier und Gebet, der Pfarrsaal mir Bücherei eher einen extrovertierten Raum mit Kontakt nach außen. Spannend fanden wir es, diese beiden Welten so miteinander zu verknüpfen, dass ein unmittelbarer Wechsel zwischen ihnen möglich ist, um ein lebendiges Gemeindeleben zu ermöglichen zu können. Der eingefasste Pfarrgarten ist »Volumenjoker« für die Kapelle und den Pfarrsaal und ein Bindeglied dieser Bereiche.

Glockenturm und Kapellenraum (Foto: Viola Epler)
Wie reagiert der Entwurf auf den Ort?

Die Kirche steht im Zentrum eines vollständig neu entworfenen Dorfes. Den Kirchplatz haben wir als Verlängerung des Dorfplatzes konzipiert, an dem auch der 21m hohe Kirchturm steht – Kapelle, Gemeindesaal und Pfarrgarten sind über eine Mauer miteinander verbunden. Die Mauer schafft für die Kapelle und Kirchhof die erwünschte Abgeschiedenheit und Ruhe und gibt im Bereich des Pfarrsaals und der Bücherei mit einzelnen Öffnungen den Blick in das Gemeindeleben frei. 

Der Kirchvorplatz als Fortführung des Marktplatzes im Dorf (Foto: Viola Epler)
Unterschiedliche Winkel erzeugen eine Eigenständigkeit der einzelnen Baukörper. (Foto: Viola Epler)
Haben Sie den Auftrag über einen Wettbewerbsbeitrag oder direkt erteilt bekommen?

Der Auftrag ging aus einem Einladungswettbewerb mit zehn Teilnehmern hervor, den das Erzbistum Köln 2013 auslobte. Unser Büro erhielt den 1. Preis. 

Die großen Glasmalereien der Chorfenster des Vorgängerbaus wurden als hinterleuchtete Kästen im neuen Kapellenraum integriert. (Foto: Viola Epler)
Der Kapellenraum lässt sich durch eine Schiebetüranlage zum Pfarrgarten nach außen erweitern. Das Vordach ist gleichzeitig überdachter Übergang zum benachbarten Gemeindesaal. (Foto: Viola Epler)
Die Integration der alten Elemente aus der Vorgängerkirche im Kontrast zum Baustoff Beton. (Foto: Viola Epler)
Welche besonderen Anforderungen wurden gestellt? Wie haben Sie diesen im Projekt Rechnung getragen?

Eine besondere Aufmerksamkeit während des Entwurfsprozesses war für die Integration einzelner Elemente aus der Vorgängerkirche der Gemeinde in das neue Gebäude erforderlich. Von Beginn an war das Ensemble in einer Einfachheit homogen materialisiert gedacht, ähnlich einer Wand, die man schmücken und behängen kann. Die vorhandenen Kirchenbänke, Heilgenskulpturen, Altar, Ambo, Altarkreuz, die Kirchenglocken und Glasmalereien geben Zeugnis über die lange Geschichte der Kirchengemeinde. Auf einem einheitlichen Hintergrund sind diese Elemente einzeln erkennbar aus einer anderen Zeit. Den Baustoffe Beton haben wir gewählt, um einen maximalen Kontrast zu den mitgenommenen Artefakten aus dem Vorgängerbau zu erzeugen. Der rohe Beton mit seinen sichtbaren Herstellungsspuren tritt in Dialog mit den translozierten Elementen aus dem Vorgängerbau, die aus den verschiedensten Jahrhunderten ausnahmslos sehr aufwendig in Materialität, Form und Farbe gestaltet sind. Mithilfe der räumlichen Abstraktion und dem entstehenden Spiel zwischen Neu und Alt lassen die neuen Räume auch dem zukünftigen Gemeindeleben genug Spielraum für Neues. 

Die Reduktion der Materialität erzeugt einen Kontrast zu den Versatzstücken aus der alten Kirche. (Foto: Viola Epler)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren Nutzer*innen den Entwurf beeinflusst?

Dem Wettbewerb waren bereits intensive Abstimmungen mit der Gemeinde vorausgegangen und als Aufgabe für den Wettbewerb formuliert. Im weiteren Planungsverlauf wurden in einem siebenjährigen Prozess alle Details, insbesondere zur Integration der alten Versatzstücke, genau abgestimmt und mehr mitgenommen als ursprünglich vorgesehen. Aus Kostengründen musste auch das Raumprogramm verkleinert werden.

Ein Schaufenster zum Marktplatz ermöglicht Einblicke in die Bücherei und das Gemeindeleben. (Foto: Viola Epler)
Welche Überlegungen stecken hinter den Entscheidungen für die eingesetzten Materialien?

Zusätzlich zu dem Wunsch nach erkennbarem Kontrast zu den alten Versatzstücken der Vorgängerkirche sollte das Material der Gemeinde ein Gefühl der Beständigkeit nach dem schmerzlichen Umzug des ganzen Dorfes geben. Möglich ist dies unter der Verwendung von Beton, der ohne Sockel aus dem Boden wächst. Aus Kostengründen war die Zumischung von zerstoßenen Ziegelsteinen der Vorgängerkirche leider nicht möglich. Zudem steht der Baustoff Beton in der Rheinischen Bautradition der klassischen Moderne wie kein anderer Baustoff für die Errichtung sakraler Orte.

Bei der CO2-Bilanzierung ist zu berücksichtigen, dass der Lebenszyklus eines Sakralbaus üblicherweise den eines Profanbaus deutlich übersteigt. Die zum größten Teil monolithische Bauweise aus Dämmbeton ermöglicht es zukünftig, den Beton sortenrein der Wiederverwendung zuzuführen. Als zweite Schicht wurde der Beton durch das Stocken der Oberfläche zusätzlich bearbeitet. Das Stocken des Dämmbetons legt seine schwarzen Zuschlagstoffe aus Blähton frei und erzeugt in der Sichtbetonoberfläche deutliche Reliefs. 

Das Scharrieren der Oberfläche des Dämmbetons legt die Zuschläge frei und erzeugt einen deutlichen Kontrast, der Eingang und Beschriftung besonders betont (Foto: Viola Epler)
Beschäftigten Sie sich im Büro mit den Tendenzen des zirkulären Bauens und der sozialen Nachhaltigkeit?

Ein großer Schwerpunkt unserer Arbeit ist Planung von Wohnungsbauten mit Baugruppen und neu gegründeten Genossenschaften. Hier haben wir es unseres Erachtens mit einer Art der Projektentwicklung zu tun, die ganz stark sozial nachhaltig, sehr experimentierfreudig und nah am (nachhaltigen) Bedarf der zukünftigen Bewohnerinnen und Bewohner ist. Immer mehr können wir hier auch das Thema Holzbau und Nachhaltigkeit bei der Materialauswahl in die Projekte einbringen. Versuche, auch Aspekte des zirkulären Bauens zu berücksichtigen, scheiterten häufig an den im Bauen sehr komplexen Abläufen und Nachweisführungen. Dennoch ist unser erstes Projekt mit wiederverwendeten Glaselementen in der Realisation. 

Lageplan (Zeichnung: office03)
Grundriss (Zeichnung: office03)
Längsschnitt (Zeichnung: office03)
Querschnitt (Zeichnung: office03)
Gemeindezentrum mit Kapelle in Kerpen Manheim/neu
2022
Manheimer Ring 27
50171 Kerpen Manhem/neu

Auftragsart
Wettbewerb, 1. Preis – Beauftragung LPH 1-9
 
Bauherrschaft
Katholische Kirchengemeinde St. Martinus in Kerpen
 
Architektur
office03 // waldmann & jungblut architekten Partnerschaft mbB
Team: Dirk Waldmann, Berthold Jungblut, Lara Frisch, Ronja Monshausen, Nadinde Lubeley
 
Fachplaner
Landschaftsarchitektur: hermanns landschaftsarchitektur / umweltplanung, Schwalmtal 
Tragwerksplanung: Ingenieurgemeinschaft Führer-Kosch-Jürges, Aachen 
Haustechnikplanung: energiebüro vom Stein GmbH, Köln 
Lichtplanung (LPH 1-3): Lichtplanung A. Hartung, Köln 

Ausführende Firmen
Rohbau: Zervos Hoch- und Schlüsselfertigbau GmbH, Erftstadt
Dach: Jodo Stein GmbH, Kerpen-Manheim
Stahlbau: Claus Queck GmbH, Düren
Schlosser: Fröbel Metallbau GmbH, Brühl
Glasfassade: Vorwerk Thole GmbH & Co.KG, Haselünne
Zimmermannsarbeiten: Zimmerei Glöde, Köln
Lüftung: Grün + Weber GmbH, Kerpen
Heizung: Kaltenberg & Mehmedagic GbR, Elsdorf
Elektro: Meuthen Elektrotechnik, Langerwehe
Innenputz: Proceram GmbH & Co.KG, Düsseldorf
Fliesen: Lambertz Objekt GmbH & Co.KG, Kerpen-Manheim

Hersteller
Dämmbeton: Liapor GmbH & Co. KG
Glasfassade: Schüco International KG
Sichtestrich: R. Bayer Betonstein- und Terrazzogruppe
Oberlichter: Lamilux GmbH & Co. KG
WC Trennwände: Kemmlit-Bauelemente GmbH

Bruttogeschossfläche
1.281 m²
 
Gebäudevolumen
5.170 m³

Gesamtkosten
k.A.
 
Fotos
Viola Epler

Andere Artikel in dieser Kategorie