Digitalisierung im Gesundheitsbereich

Susanna Koeberle
3. April 2024
Telekonsil in der Intensivmedizin aus Telekonsilgebersicht im Telemedizinzentrum derUniklinik RWTH Aachen (Foto: ZTG GmbH/Artvertise)

Krankenhäuser widerspiegeln die Fortschritte der Wissenschaft. Inwiefern verändert die fortschreitende Digitalisierung Ihre Arbeit? 

Gernot Marx: Das tut sie in vielfältiger Weise und schon seit längerer Zeit. Gerade im Bereich Intensivmedizin hatten wir schon früh, also seit den 1990er-Jahren, digitale Dokumentation zur Verfügung. Der Datenaustausch und die leistungsfähige IT-Struktur erlaubt Ärzt*innen, Pfleger*innen und anderen Menschen, die in Krankenhäusern arbeiten, eine neue Form der Gesundheitsversorgung zu etablieren. Davon profitieren natürlich auch Patient*innen. 

Es geht dabei um Verfügbarkeit von Daten, um einen schnelleren Austausch und darum, die Vernetzung zwischen Institutionen und Krankenhäusern zu ermöglichen. Durch diese digitalen Innovationen werden neue Prozesse und Strukturen in der Gesundheitsversorgung induziert. Ein schönes Beispiel dafür ist die Telemedizin. Die Telemedizin ermöglicht, dass die Expertise und das Fachwissen von Kolleg*innen von Universitätskliniken den Ärzt*innnen und Patient*innen regionaler Krankenhäuser flächendeckend zur Verfügung gestellt werden können. Das ist sehr wirkungsvoll.

Können Sie ein konkretes Beispiel dafür nennen?

In der ersten Welle während der Corona-Pandemie beispielsweise haben wir als eine der ersten Kliniken viele Patient*innen versorgt. Dieses Wissen konnten wir umgehend digital  telemedizinisch, mit den Kolleg*innen der anderen Häuser teilen. Wie bei einer neuen Krankheit üblich gab es ganz viele Fragen. Ich nenne das gerne ein lebendiges Qualitätsnetzwerk. 

Das ist heute umso wichtiger, da aufgrund der alternden Gesellschaft aktuell ein Ungleichgewicht besteht zwischen immer weniger Menschen, die versorgen, und immer mehr Menschen mit einer hohen Versorgungsnotwendigkeit. Die digitale Vernetzung kann das optimieren und dadurch die Versorgung besser aufrechterhalten.

Welchen Einfluss hat diese Entwicklung auf die Nutzung der Räume in einer Klinik?

Die Stationen müssen zum Beispiel eine sichere WLAN-Ausstattung haben. Auch die Räume, in denen man Telemedizin betreibt, müssen entsprechend ausgestattet sein. Wir haben dort fahrbare Wagen mit Kamera und Bildschirm. Auch am Patientenbett sollte mehr Platz für große Bildschirme vorhanden sein. In der Zukunft werden wir immer mehr mit Touch- oder Spracherkennungs-Funktionen arbeiten. Diese Infrastruktur muss für uns und für die Patient*innen besser erreichbar und einsehbar sein. Die Geräte haben zudem einen Einfluss auf die Klimatechnik. Ganz allgemein sind steigende Temperaturen ein Thema, auf die es eine architektonische Antwort braucht.

Was sind grob skizziert die wichtigsten Bereiche der Digitalisierung im Gesundheitswesen?

Ich weiß gar nicht, ob es unwichtige gibt. An sich ist das Ziel der Digitalisierung, die sogenannte »Patient Journey« im Krankenhaus komplett zu digitalisieren. Da sind wir aber heute noch nicht. Es geht darum, dass die digitalen Patient*innen-Akten schon vor der Aufnahme in die Klinik mit allen wichtigen Informationen vorhanden sind und am Ende wieder zur Verfügung gestellt werden können, etwa für die ambulante Versorgung. Das Ziel ist eine 360-Grad-Begleitung. 

In der Klinik selbst ist etwa die Radiologie besonders digital. Auch die Interventions- und Operationsbereiche, also die sogenannten High-Level-Care-Bereiche, sind Orte, wo Digitalisierung wichtig ist. Dazu kommen die Verwaltung und die Labore. Diagnose und Therapie basieren auf einem Puzzle, bei dem man verschiedene Informationen zusammen aggregieren muss. Wir möchten dahin kommen, dass wir bestimmte Erkrankungen schon vorher identifizieren können. Das ist teilweise schwierig zu erkennen, wenn man viele Patient*innen mit vielen Daten versorgt. Zu viele Daten überfordern die menschliche Auffassungsgabe. Bei einem Intensivpatienten entstehen pro Stunde etwa 1000 Daten – hier sind Algorithmen, die auf künstlicher Intelligenz zur Entscheidungsunterstützung basieren, wünschenswert, um zum Teil lebensbedrohliche Erkrankungen wie die Blutvergiftung (Sepsis) früher erkennen zu können.

Teleintensivmedizinisches Konsil aus Sicht des Konsilnehmers. In einem kollegialen Beratungsgespräch werden Patient*innen-Werte und Bilddatein besprochen. (Foto: ZTG GmbH/Artvertise)

Sehen Sie bei dieser Entwicklung auch Nachteile oder Gefahren? 

Die Gewährleistung der Datensicherheit ist eine große Herausforderung – dies ist natürlich auch in vielen nicht-medizinischen Bereich der Fall. Der Schutz vor Hackerangriffen ist sehr wichtig. Es ist zugleich naiv zu glauben, dass man eine hundertprozentige Sicherheit erreichen kann, ein Restrisiko bleibt immer bestehen. Wichtig ist, dass wir uns und unsere Mitarbeitenden dafür sensibilisieren. Dementsprechende Skills sind gefragt: zum einen die Anwendung, aber auch das Identifizieren von Gefahren.

Besteht nicht auch die Gefahr, dass man sich als Mediziner*in zu stark auf die Daten verlässt?

Nein, das sehe ich weniger. Ich kann mich erinnern, als in den 1990er-Jahren von einem Todescomputer die Rede war, der die Sterbewahrscheinlichkeit von Menschen errechnete und damit vorhersagte. Aber das heißt nicht, dass sie deswegen dann auch tatsächlich starben. Er zeigte höchstens, wie schwer krank jemand war. Die Entscheidungen liegen in der ärztlichen Verantwortung und werden letztendlich von Ärzt*innen getroffen. Es wird auch in Zukunft nicht dazu kommen, dass Computer entscheiden. Das individuelle Zusammenspiel zwischen Daten, Evidenz und klinischer Eindruck zu interpretieren, kann ein Computer nicht so gut. Die Angst, komplett der Technik ausgeliefert zu sein, sehe ich in der klinischen Praxis als unbegründet. Computer liefern uns eine wichtige Entscheidungsunterstützung.

 Inwiefern verändert die Digitalisierung aus Ihrer Sicht die Ansprüche der Ärzt*innen und Pfleger*innen an die Räume in den Krankenhäusern?

Sicher spielt in erster Linie die Ergonomie der Geräte eine Rolle. Was die Räume an sich betrifft, müssen sie zum einen groß genug sein. Zum anderen brauchen wir sowohl Räume mit Tageslicht als auch solche ohne. Der Datenschutz muss gewährlistet sein, man sollte also nicht von außen in die Räume schauen können. Andererseits möchten Patient*innen nach dem Aufwachen rausschauen können. Dieser Aspekt ist technisch relativ einfach zu lösen.

Lassen Sie uns in die Zukunft blicken: Was sind die nächsten Schritte? Wo geht die Reise hin?

Eine wichtige Aufgabe ist etwa, die einzelnen Expertisen – Medizininformatiker*innen, Informatiker*innen oder AI-Expert*innen – künftig konsequent zusammenzuführen. Deswegen bauen wir hier in Aachen auf unserem Campus ein Innovationszentrum für digitale Medizin. In diesem Gebäude bringen wir all diese Expert’*innen der Digitalisierung und künstlichen Intelligenz zusammen. In den einzelnen Etagen planen wir Treffpunkte, wo man sich automatisch über den Weg läuft und ins Gespräch kommt. 

Es ist wichtig, dass die Architektur versucht, diesen Austausch zu stimulieren. Durch die Digitalisierung und Standardisierung werden wir immer mehr Datenmengen haben. Dadurch können wir immer genauere Prognosen erstellen und auch Verläufe besser simulieren. Auch die Möglichkeit der personalisierten Medizin nimmt zu. Das ist alles keine Utopie, wie das Beispiel einer der häufigsten Erkrankungen, der Sepsis, zeigt. Durch Algorithmen können wir die Blutvergiftung zwölf oder mehr Stunden vorhersagen und dadurch früh reagieren. Ich bin zuversichtlich, dass wir in zehn Jahren aufgrund dieser Entwicklung eine wesentlich effektivere Medizin als heute praktizieren können.

Prof. Dr. med. Gernot Marx ist Facharzt für Anästhesiologie und leitet die Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care an der Uniklinik RWTH in Aachen. (Foto: Uniklinik RWTH Aachen)

Sie haben vorhin die Wichtigkeit von Wissensaustausch betont. Wie müsste der Dialog zwischen Mediziner*innen und Architekt*innen aussehen? Was sind Ihre Wünsche diesbezüglich? 

Architekt*innen planen ja sehr weit voraus, danach sind die Entwürfe fix. Mit so langen Vorläufen arbeiten wir Mediziner*innen nicht, in vier Jahren haben wir ein bis drei Entwicklungszyklen. Bei einem Neubauprojekt werden wir häufig so spät hinzugezogen, dass unsere Wünsche nicht mehr umsetzbar sind. Man bekommt dann ein Gebäude, das zwar schön ist, doch eigentlich sinnvoller sein könnte. Mit anderen Worten: Frühes Einbeziehen ist wichtig. Mit Virtual Reality Tools könnte man frühzeitig diverse Dinge durchspielen und gemeinsam schauen, ob es funktioniert. So könnten unsere Inputs entsprechend in den Entwurf integriert werden.

 Können Sie über Ihre Klinik und den Campus Auskunft geben?

Wir sind Teil der Universität RWTH, dazu gehören viele verschiedene Fakultäten. Der Campus der RWTH Aachen ist mit der Vision entstanden, mehr Forschung zu betreiben und dabei auch mit Firmen und Institutionen kooperieren zu können. Das ist ein neues Modell, in dem über ein Investorenmodell zeitnah neue Flächen und Gebäude für die Forschung entstehen können. Die Firmen bauen die Gebäude und vermieten sie uns dann. Die Mieten generieren wir u. a. durch Projekte mit verschiedenen Firmen. Dadurch verkürzen sich die Zyklen und wir entwickeln unsere »Technical Readiness« schneller weiter. 

Sie besuchen viele Kongresse und tauschen sich unter Expert*innen aus: Wie sieht es mit dem Thema Digitalisierung im internationalen Vergleich aus? 

Das ist sehr unterschiedlich. Einige Länder sind da schon sehr weit. Zum Beispiel osteuropäische Länder, die sich vor über zwanzig Jahren neu aufstellen mussten und bereit waren, etwas zu wagen. Auch skandinavische Länder wie Finnland und Norwegen sind in der Digitalisierung sehr weit. Die Akzeptanz in der Bevölkerung ist größer als bei uns. Man muss dazu sagen, dass die Pandemie diesbezüglich sicherlich einen ordentlichen »Boost« induziert hat. Dadurch haben viele Menschen eingesehen, wie sinnvoll Digitalisierung ist. 

Die Geschwindigkeit der Entwicklung hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, auch in der Gesetzgebung. Deutschland war etwa mit den DiGA (Digitale Gesundheitsanwendungen) sehr weit vorne; das sind Apps, die Ärzt*innen verschreiben können. Die Bereitschaft von Menschen solche Apps zu verwenden, ist deutlich gestiegen. Insgesamt muss man sagen, dass die Entwicklungsdynamik in Deutschland viel besser geworden ist. Die europäische Kommission hat bereits viele Strukturen etabliert und diese Entwicklung durch große Programme unterstützt gerade auch während der Corona-Phase. Dadurch sind wir momentan in der Lage, ein europäisches Referenznetzwerk aufzubauen. Die Digitalisierung hilft bei der Krisenbewältigung.

Dieser Artikel erscheint im Rahmen des Themenspecials »Healing Architecture«. Darin diskutieren wir mit wichtigen nationalen und internationalen Fachleuten darüber, mit welchen Kriterien in Gesundheitsbauten eine hohe Aufenthaltsqualität geschaffen werden kann. Zudem stellen wir Gesundheitsbauten vor, in denen diesem Thema bereits ein hoher Stellenwert beigemessen wird. Bereits erschienen sind:

Der Weg zu mehr Aufenthaltsqualität im Krankenhaus: Wirtschaftliche Aspekte der Krankenhausplanung

Heilende Räume gestalten: Fokus Europa

Mit Krankenhausarchitektur globale Herausforderungen meistern

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