Vergessen wir die letzten hundert Jahre einfach

Ulf Meyer
17. September 2019
Brix & Genzmer: Grünflächenplan im Maßstab 1:60'000 für den Wettbewerb Groß-Berlin 1910 (einer der beiden 1. Preise); Original: Druck koloriert auf Papier (102,4 x 123,8 cm); Quelle: Architekturmuseum der TU Berlin (Abk. AMTUB), Nr. 20122

Die Hauptstadt des größten Landes in der EU gibt derzeit ein trauriges Bild ab: Nur die Politbürokratie wuchert, der architektonische Esprit scheint restlos aufgebraucht und die Stadt ist nicht in der Lage, sich einen mittelgroßen Flughafen bauen zu lassen geschweige denn eine halbwegs moderne Wirtschaftsstruktur zu geben. Sauf- und Billigtouristen vor tristen Neubaufassaden und ungeliebten Schloss-Attrappen bestimmen das Bild, die tragische Geschichte der Stadt im letzten Jahrhundert inklusive Weltkriege, Holocaust und Teilung wird gnadenlos verrummelt. Der Stadt fehlt es an nennenswerten Industrien und Dienstleistungsbranchen – stattdessen wuchern Shopping-Malls. Bekannte Qualitäten wie Kino-, Zeitungs- und Theatervielfalt, Bezahlbarkeit und Nischen für Unerwartetes zerrinnen indessen. „The failed state“ wird Berlin angesichts seiner inkompetenten Politik genannt. 

Die nachhaltigsten Qualitäten der Stadt beruhen meist auf Entscheidungen, die noch zu Zeiten James Hobrechts gefällt wurden. Davon zehrt die Stadt bis heute. Das war vor hundert Jahren anders: Als am 1. Oktober 1920 Groß-Berlin geschaffen wurde, erhöhte sich über Nacht die Stadtfläche von 66 auf 878 km² und die Bevölkerung von 1,9 auf 3,9 Millionen Einwohner. Groß-Berlin wird 2020 hundert Jahre alt. Der Architekten- und Ingenieur-Verein zu Berlin (AIV) nimmt das Jubiläum zum Anlass, einen großen städtebaulichen Ideenwettbewerb für „Berlin-Brandenburg 2070“ zu initiieren. Zur Jury gehören u.a. Jo Coenen (70 Jahre alt), Werner Durth (70 Jahre alt), Hans Kollhoff (73 Jahre alt) und Arno Lederer (72 Jahre alt).

In der Ausstellung der Wettbewerbsbeiträge im Oktober 2020 im Berliner Kronprinzenpalais sollen „die Leistungen Berlins seit 1880 gezeigt“ und ein Blick in die Zukunft von 2070 geworfen werden. Begleitet wird die Ausstellung von Kolloquien über „Mobilität, Wohnen und Arbeiten, Gesundheit, Erholung und Sport, Klima und Energie, Wissenschaft und Kultur, und die digitale Stadt“. Der offene, zweiphasige, internationale städtebauliche Ideenwettbewerb lockt mit Preisgeldern von 200'000 Euro, wovon auf den ersten Preis 70'000 Euro entfallen. Teilnehmerberechtigt sind Architekt*innen oder Stadtplaner*innen mit Landschaftsarchitekt*innen. Berlin wäre zu wünschen, dass im Zuge des Wettbewerbs eine frischere Diskussion um die Zukunft der Stadt entsteht – und ein feiner Entwurf prämiert wird!

Von links nach rechts: Benedikt Goebel, Kurator; Christina Gräwe, Kuratorin; Wolfgang Schuster, Kurator; Jan Drews, Abteilungsleiter Gemeinsame Landesplanungsabteilung Berlin-Brandenburg; Johanna Sonnenburg, Stadtforscherin; Harald Bodenschatz, Kurator; Patrick Zamojski, Berlin 2020 gGmbH; Tobias Nöfer, Vorstand des Architekten- und Ingenieur-Verein zu Berlin e.V. (AIV) (Foto: Till Budde)

Andere Artikel in dieser Kategorie