Margrethe Vestager: »Ich hoffe, Sie merken, dass wir große Ambitionen haben. Aber wir sind nichts ohne die Menschen«

Katinka Corts
12. Juli 2023
Margrethe Vestager (Foto: UIA World Congress of Architects 2023)

Die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben sich 2015 siebzehn Ziele gesetzt, mit denen sie bis 2030 entscheidende Schritte hinsichtlich eines nachhaltigen Wirtschaftens, Umweltschutz und sozialer Gerechtigkeit gehen wollen. Die Europäische Fortführung kam im Dezember 2019, als die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen den Europäischen Green Deal verabschiedete: Mit dessen Umsetzung könnte die EU bis 2050 die Netto-Emissionen von Treibhausgasen auf null reduzieren. Die Klimapolitik der EU soll zudem darauf fokussieren, wie die Staatengemeinschaft eine ressourceneffiziente und wettbewerbsfähige Wirtschaft erreicht. Die kulturpolitische Initiative »Neues Europäisches Bauhaus«, ebenfalls von der EU-Kommission, ergänzt dieses Vorhaben auf nationaler Ebene und soll das Umwelt- und Wirtschaftsprojekt European Green Deal zu einem europäischen Kulturprojekt erweitern. 

Um die theoretischen Ansätze und besten Absichten in die Praxis zu überführen, braucht es das Gespräch und den direkten Austausch zwischen Architekt*innen und Fachleuten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, statt alle in ihren jeweiligen abgegrenzten, thematischen »Blasen« agieren zu lassen. Mit den Keynote-Dialogen am UIA-Kongress in Kopenhagen war genau diesem Gedanken eine große Bühne geboten. Connie Hedegaard führte als Moderatorin souverän durch alle Gespräche und man merkte der Journalistin und ehemaligen EU-Kommissarin für Klimaschutz ihr Hintergrundwissen und das Bewusstsein um die Problematik jederzeit an. Der erste Austausch dieser Art brachte die dänische Politikerin und EU-Kommissarin Margrethe Vestager und den dänischen Architekten Bjarke Ingels zusammen. Sie diskutierten u. a., wie diese sinnvollen Ansätze für ein neues Bauen stärker in das Bewusstsein von Politik, Wirtschaft und auch Bevölkerung gelangen können.

Bjarke Ingels (Foto: UIA World Congress of Architects 2023)
»Heute haben wir grob eine Milliarde Menschen, die in informellen Siedlungen leben – und 2050 werden es voraussichtlich 2.5 Milliarden sein. Dafür brauchen wir skalierbare Market Models. Den größten Einfluss auf das Leben in diesen Siedlungen ist heute die Verfügbarkeit von billigem Metall zum Bau der Hütten. Wie wäre es aber, wenn es Paneele gäbe mit integrierten PV-Lösungen? Oder Trocknungsgeräte, die aus der Luft Feuchtigkeit gewinnen und so Trinkwasser gewinnen? Es ist ein interessanter Markt, denn immerhin ein Viertel der Erdbevölkerung wird in diesem Kontext leben.«

 Bjarke Ingels

Bjarke Ingels sprach sie dafür aus, nachhaltige Alternativen attraktiver zu machen, indem man den Anwender*innen die Scheu nimmt. Gäbe es eine Reihe von »First Movers«, die neue Konzepte ausprobieren und so Referenzbauten schaffen, würde die Skepsis sinken. Als Beispiel brachte er ein eigenes Projekt: Im Norden Kopenhagens baut sich BIG den neuen Hauptsitz. Dabei kommt eine neuartige Beton-Lehmmischung zum Einsatz, die den den CO2-Fußabdruck des Gebäudes reduziert – das Projekt könnte künftig als gebauter Prototyp gelten. Allen Versuchsreihen und Ideen für Prototypen steht jedoch gegenüber, dass zur Eindämmung der CO2-Emissionen und für ein neues Bauen schnell gehandelt werden muss – der Zeithorizont ist begrenzt. Zudem ist dieser Wandel in der (Bau)industrie der erste globale Übergang, der politisch motiviert passiert. 

»Es gibt also eine Chance, dass mehr passieren könnte«, so Margrethe Vestager. »Regulierung und Finanzierung müssen da aber mitspielen, und wir müssen jetzt viel investieren, um später höhere Kosten zu vermeiden.« Alle müssten sich daran gewöhnen, dass sich diese Investments erst viel später auszahlen werden. Doch wie realistisch ist das und sind Investor*innen bereit, nicht nur über den Tellerrand zu blicken, sondern sich auch für nachhaltige Alternativen und Baustoffe zu entscheiden, wenn diese doch oft noch mit Mehrkosten und weniger Profit in Zusammenhang gebracht werden? Ingels relativiert: Wenn man eine Immobilie über lange Zeit halten wolle, ist der Anreiz an sich schon da. Zudem seien heute digitale Werkzeuge vorhanden, auf die frühere Generationen nicht zugreifen konnten. »Wir haben sehr gute Möglichkeiten, Gebäude zu modellieren und ihren Lebenszyklus auf die nächsten Jahrzehnte darzustellen«, so der Architekt. Zudem hätten wir im digitalen Zeitalter die Möglichkeit, zeitgleich einen Überblick über alles zu haben – und damit auch im globalen Maßstab zu denken und zu handeln. Diese übergreifende, informierte Betrachtungsweise lässt sich auch auf den Gebäudesektor anwenden, wie Margrethe Vestager anschloss. »Sobald die emissionsbedingten Kosten nicht mehr unabhängig vom Gebäude betrachtet werden, sondern in der Berechnung auftauchen, werden Emissionen plötzlich relevant und ein Kostentreiber.« Das sei richtig so, denn sie hätten einen Wert und damit auch ein Preisschild, so die Politikerin.

Margrethe Vestager (Foto: UIA World Congress of Architects 2023)
»Es wird aber nicht möglich sein, alles zu planen. Wir haben nicht die Zeit für langwierige Planungen. Wir brauchen stattdessen mehr dezentralisierte Lösungen. Wenn wir systemisch eine Art planetaren Ansatz für erneuerbare Energie anbieten können, geben wir Menschen die Wahl, sich selber aktiv mit Verbesserungen zu beschäftigen. Architekt*innen spielen eine entscheidende Rolle im Prozess und können zeigen, wie es gelingen kann.«

Margrethe Vestager

Das betrifft natürlich auch den immensen Gebäudebestand, der saniert und einer neuen Nutzung überführt werden kann. Immer noch gibt es zu viele Neubauten, die zudem mit standardisierten Bauelementen aus Massenproduktionen keinen Beitrag zum zirkulären Bauen leisten. Heute wissen wir jedoch, dass Recycling, die Wiederverwendung und die Renovierung wichtige Eckpunkte auf dem Weg zur Energiewende auch im Bausektor darstellen. Bjarke Ingels empfindet besonders den emotionalen Bezug von Menschen zu Gebäuden als wichtig, denn dieser schaffe Verlässlichkeit und die Menschen kümmern sich um die Objekte: »In unserer städtischen Umgebung ist es wahrscheinlich vernünftig, etwas mehr Extrazeit darein zu investieren, Projekte zu durchdenken und sie vielfältig und angenehm für alle künftigen Nutzer zu gestalten.« 

Um ein kurzes Schlusswort gebeten, brachten es beide nochmals auf den Punkt: Menschen, so meint Margrethe Vestager, seien gern Teil von Dingen, die neu entstehen und möchten sich mit der Geschichte verbinden. Neu entstehen heiße aber nicht, etwas neu zu produzieren – auch die Wiederverwendung schafft in anderem Kontext etwas Neues. Und Bjarke Ingels schloss: »Architektur ist ein sehr sicherer und kreativer Ort. Unsere ganzheitliche Denkweise sollte aber auch in der Industrie, der Landwirtschaft, im Energiesektor und bei der Infrastruktur mehr eingebettet werden.«

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