Isoliert in Utopien

Katinka Corts
7. Februar 2024
Die Ausstellung »Die Röhre« zeigt einen großen Teil des Manuskripts Günther L. Eckerts mit handschriftlichen Texten, Skizzen, Zeichnungen und Berechnungen. (Foto: Till Budde)

Utopisten haben einen ganz eigenen Blick auf die Welt. Sie vereint der unumstößliche Glaube an das Denken frei von Grenzen und daran, das alles machbar sein kann. Ein frühes Beispiel, das zugleich Namensgeber für vieles Folgende wurde, ist mit dem Humanisten Thomas Morus in die Welt gekommen: Etwa im Jahr 1516 veröffentlichte er seinen Roman »Utopia« über das Leben auf der gleichnamigen Insel im Nirgendwo. 
Morus beschreibt darin das Bild einer idealen Gesellschaft, die demokratisch aufgebaut ist, Gleichheit lebt, fleißig ist und nach Bildung strebt. Wie schön wäre es, so zu leben. Oder nicht? Andere Formen des isolierten Lebens brachte zum Beispiel auch Buckminster Fuller ins Spiel. Er wollte riesige geodätische Kugeln zum Schweben bringen und als »Cloud Nine« in ihnen Lebensraum für viele bieten. Oder, alternativ zum Leben im abgekapselten Schwebezustand, Städte unter riesige Glaskuppeln setzen, unter denen Menschen geschützt vor der Umwelt leben würden.

»Utopia« von Thomas Morus (Illustration: Ambrosius Holbein, Folger Shakespeare Library Digital Image Collection, gemeinfrei, Wikimedia)
»Das Kontinuum ist frei von irgendwelchen Architekturambitionen. Es ist eine saubere Konstruktion, die niemals mit der Natur konkurrieren will.« (Zitat und Zeichnung: Günther L. Eckert)
Die Röhre: Lebensraum für die ganze Menschheit

Um 1980 wurde in Deutschland die Utopie von Günther Ludwig Eckert bekannt, der sich ebenso mit den Möglichkeiten eines autonomen Lebens für die Menschheit beschäftigte. Stets nur als Utopie gedacht und nie zur Realisierung bestimmt, ging es Eckert darum zu zeigen, welchen Beitrag die Architektur mit einem sinnvollen Einsatz von Ressourcen zum Wohl aller leisten kann. Er erdachte mit der »Röhre« (oder auch »Kontinuum«) ein gigantisches Bauwerk, das mit einem Durchmesser von 250 Metern, aufgeständert auf hohen Pylonen, die Erde ringförmig einmal umspannen könnte, etwa auf der geografischen Breite von Mitteldeutschland. 

Als Architekt hatte er bis dahin vornehmlich Bauten in Bayern und explizit München fertiggestellt. Zugleich war er mit seinem wirtschaftlichen Bausatzverfahren und dem Prinzip der Nasszelle erfolgreich, beides konnte er beim Bau der Wohnstätten für die Olympischen Sommerspiele 1972 einsetzen. Mit »Kontinuum« dachte er das Konzept eines »Raumschiffs auf der Erde« weiter, wies dessen technische Machbarkeit nach und legte es für 4,3 Milliarden Menschen aus – also für die gesamte damalige Bevölkerung der Erde. Jedem Einzelnen wurden dabei sogar, ganz nach westlich geprägtem Bild, großzügig 50 qm zugerechnet. 

Neben Bautechnik und Infrastruktur finden sich in seinem umfassenden Manuskript Texte, Skizzen und Berechnungen unter anderem zur Energieversorgung der Anlage sowie zu ihren Erstellungskosten. Sein Ansatz war eine Art Weiterdenken der damals vorhandenen Technik und deren geschickten Nutzung. In der »Röhre« könnten alle Menschen gleichberechtigt in Wohlstand leben, gleichzeitig könnte mit diesem in sich geschlossenen Raumschiff die immer weiter führende Ausbeutung des Planeten gestoppt werden.

»Mit einem technisch detailliert ausgearbeiteten Entwurf wollte er [Günther Eckert] nachweisen, dass die gesamte Menschheit in Wohlstand auf der Erde leben kann, ohne diese weiter auszubeuten und zu zerstören. Im Unterschied zu anderen utopischen Konzepten plante Eckert jedoch kein (N)irgendwo oder (N)irgendwann. Die ›Kontinuum‹ genannte Röhre sollte vielmehr alle bis dato realisierbaren Technologien zu einem in sich geschlossenen Regelkreis zusammenführen. Dabei zielte Eckert jedoch nicht primär auf das architektonisch-technische Konstrukt, sondern hoffte, dass die Menschen ihr ›Ich‹ zugunsten eines ›Wir‹ aufgeben und sich auf ein von allen gemeinsam getragenes Projekt verständigen könnten.«

Aus dem Ausstellungstext

Utopie: Ein Nichtort und ein Glücksort zugleich

Mit ihrem absoluten Zukunfts- und Technikglauben streben Utopisten auch heute voran, begeistern die Einen und schrecken andere damit ab. Elon Musk träumt davon, innerhalb der nächsten 25 Jahre auf dem Mars eine Kolonie für eine Million Menschen entstehen zu lassen. In der Wüste Saudi-Arabiens lässt Kronprinz Mohammed bin Salman das gigantische Siedlungsprojekt »Neom« bauen. In einem kleineren Maßstab, aber ebenso exklusiv geplant, sollen Projekte für autonome Mikro-Nationen jene Superreichen anziehen, die frei von Gesetz, Staat und Fiat-Geld leben wollen. Man sieht: Heutigen Versionen von Utopie wohnt Exklusivität inne, während Buckminster Fuller oder Günther Eckert Überlegungen für einen Großteil der oder gar die gesamte Menschheit anstellten.

»The Line« ist auf 170 km Länge und für neun Millionen Menschen geplant. John Hill hat die Projekte zusammengestellt für einen Überblick.
Für wen eignen sich die Utopien von heute?

Zukunftswünsche nach einer gerechten und von Gleichberechtigung geprägten Gesellschaft haben wohl viele von uns. Doch solange etwa ein Prozent der Weltbevölkerung rund 46% des weltweiten Vermögens (und gleichzeitig rund 52% nur 1,2  Prozent des Vermögens) besitzen, passt es anscheinend noch in den Zeitgeist, Eliten zu bedienen und Exklusivität zu bieten. 
So kann Elon Musk die Besiedlung des Mars planen und zugleich wissen, dass es aktuell kein Raumfahrtprogramm gibt, das Menschen, Waren, Bauteile, Nahrung und so vieles mehr auf eine Entfernung von 300 Millionen Kilometer in ausreichend großer Menge transportieren kann. So können auch die saudi-arabischen Planer*innen hinter »Neom« ausgewählte Büros mit der Weiterentwicklung ihrer Version eines autarken Staates von Reichen und Wohlhabenden beauftragen – und dabei drängende Themen wie Ressourcenknappheit und CO2-Fußabdruck-Diskussionen, mit denen sich die Bauwelt inzwischen international beschäftigt, ausblenden. 

Utopie, Vision und Wirklichkeit
Günther Eckerts Vorstellung eines internationalen Projektes wie »Kontinuum« sollte die Möglichkeiten aufzeigen, wie ein Leben in Gemeinschaft theoretisch funktionieren könnte und wie gleichzeitig die Ressourcenverschwendung eindämmbar wäre. Heute scheint es manchmal mit den Visionen diametral entgegen zu laufen, wenn lokale Großprojekte wie jene genannten im arabischen Raum tatsächlich umgesetzt werden und sich dabei explizit an nur einzelne Gruppen richten. 
Dabei ist es nicht möglich, am Reißbrett eine perfekte Gesellschaft zu entwerfen, die dann verlässlich auf alle Zeit so funktioniert. Uns mit Lösungen zu befassen, die auf die Veränderungen des Klimas sinnvoll reagieren, uns für eine gemeinsame internationale Politik einzusetzen und gegen die weiter wachsende Kluft zwischen Arm und Reich anzugehen, sind heute die wichtigen Aufgaben. Die Grundhaltung aus Eckerts Utopie, gemeinsam eine Welt für alle zu gestalten, ist also aktuell. Wer mehr darüber erfahren möchte, kann die Ausstellung noch bis Anfang März anschauen.

 

Die Röhre – Eine Architektur-Utopie
Die Ausstellung zum Projekt war Ende letzten Jahres bereits im Werkbundarchiv–Museum der Dinge zu sehen. Die jetzige Schau in der Architektur Galerie Berlin läuft noch bis März. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen.

Ausstellung in der Architektur Galerie Berlin bis zum 2. März 2024, Dienstag – Freitag  14 – 19 Uhr, Samstag  12 – 18 Uhr

14. Februar 2024, 19 Uhr: Gespräch mit Jörg H. Gleiter, Sandra Meireis, Tobias Walliser. Begrüßung: Ulrich Müller

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