Lob des Ungehorsams

Wolfgang Kil
29. August 2012
1. Preis: M+M, Marc Weiss und Martin de Mattia, München; Annabau Architektur und Landschaft, Sofia Petersson und Moritz Schloten, Berlin (Bild: Stadt Leipzig) 
Bild: Stadt Leipzig
Bild: Stadt Leipzig
Der Wettbewerb

Als konkreter Ort der Erinnerung wurde der Leipziger Leuschnerplatz gewählt, eine riesige, diffuse Fläche gegenüber dem Rathaus und gleich neben der just im Bau befindlichen St. Trinitatis-Kirche. Eine internationale Ausschreibung hatte 325 Bewerbungen aus 31 Ländern erbracht, 39 Vorschläge wurden für den eigentlichen Realisierungswettbewerb zugelassen. Mitte Juli wählte eine Jury drei Preisträger aus. Die Einreichungen der Endrunde wurden im Rathausfoyer der Öffentlichkeit präsentiert, in überfüllten Versammlungen stellten sich Preisträger und Bürgermeister dem öffentlichen Disput, und im Internet war ein Diskussionsportal eingerichtet, in dem es hoch her ging.
Worüber war zu verhandeln? Der 1. Preis war einem fußballplatzgroßen Feld aus Farbquadraten zugesprochen worden, auf dem 70.000 farbige Metallhocker zum Mitnehmen bereitstehen sollen, um "den Gedanken der Redefreiheit in jeden Winkel der Stadt und darüber hinaus" zu tragen. Der 2. Preis ging an einen "Demonstrationsplatz" in Form eines farbigen Bodenreliefs, welches eine permanente Chronik aktueller Demonstrationen an diesem Ort darstellen und zu diesem Zweck 25 Jahre lang von einer "Stiftung an die Zukunft" betreut werden soll. Den 3. Rang belegte ein schlichter Hain aus Apfelbäumen, darin eine Reihe von Pavillons, deren Dächer in der Draufsicht den Ausruf "Keine Gewalt" formieren; hier lobte die Jury vor allem die vielschichtigen Assoziationen, die sich zum Topos Apfelbaum einstellen können, "von der Bibel über Luther bis zu aktuellen Losungen".

Oben: 2. Preis, "Eine Stiftung an die Zukunft", realities: united, Jan und Tim Edler, mit Schlaich Bergermann und Partner (Bild: Stadt Leipzig) 
3. Preis, "Herbstgarten", Anna Dilengite, Tina Bara, Alba d'Urbano, Leipzig (Bild: Stadt Leipzig) 
Flucht in die Gegenwart

Bei nahezu allen Einreichungen fiel die interessante Tendenz auf, den Gedenkanlass – immerhin eine erfolgreiche Aktion zivilen Ungehorsams – nicht nur in seiner historischen Einmaligkeit zu feiern, sondern ihn in die heutige Zeit weiterzudenken. So schlugen KARO* Architekten (Leipzig) vor, Betonformsteine der örtlichen Stasi-Zentrale für einen Pavillon zu recyceln, in dem ein "Zimmer der Demokratie" jeglichen Initiativen offen sein soll "für Aktivitäten mit demokratischem Inhalt". Fünf Künstlerinnen der Gruppe msk7 entwarfen einen "Terminal", über dessen Anzeigetafeln permanent aktuelle Nachrichten rattern "als kontinuierliche Momentaufnahme revolutionärer Ereignisse weltweit". Folke Köbberling und Martin Kaltwasser (Berlin) setzten einen 230 Meter hohen Sendemast auf den Platz für ein neu zu schaffendes "Global Radio", das mit freien Radios, Internetradios und allen "World Radios" kooperiert. Delbrügge & de Moll (Berlin) wollten gar nicht mehr um den heißen Brei herumreden und auf dem Platz gleich eine "Schule der Revolution" begründen.
Sollte diese "Flucht in die Gegenwart" wirklich nur daher rühren, dass von den beteiligten Künstlern kaum einer den Herbst '89 in Leipzig persönlich miterlebt hat? Man möchte wohl gern auch ein Bedürfnis erkennen, der Kunst im öffentlichen Raum wieder mehr politisches Gewicht zu verleihen. Allerdings beschränkte sich die Phantasie der entsprechenden Vorschläge auf bemerkenswert friedvolle Proteste – Griechenland ist also weit, Stuttgart21 oder Heiligendamm sind schon vergessen, was Jens Bisky einigermaßen bitter kommentierte: "Die entscheidende Erfahrung der Montagsdemos, die Selbstermächtigung und massenhafte Aufkündigung des Gehorsams" würden in solchen Inszenierungen gegenwärtiger Hoffnungen und Illusionen "domestiziert". (Jens Bisky: Schaut auf diese Stadt, Süddeutsche Zeitung, 19.7.2012)

Der Entwurf von Karo* Architekten (Bild: Stadt Leipzig) 
Konsens und Konflikt

Vom Berliner Verfahren unterscheidet sich der Leipziger Wettbewerb in zweierlei Hinsicht positiv: Er kann sich auf einen konkreten Tag wie auch einen echten Schauplatz der Historie beziehen, und die Leipziger Stadtregierung hatte rechtzeitig das Gespräch mit den Bürgern gesucht. In öffentlichen Werkstätten war um den Ort und um die konkreten Inhalte ausgiebig gestritten worden – mit dem Resultat, dass nun über den Sinn eines Denkmals in der "Heldenstadt" ein überwältigender Konsens besteht. Allerdings bewirkt die starke Identifikation auch jenen fundamentalen Konflikt, der das jetzige Ergebnis so belastet: Von den rund 70.000 Leipzigern, die an jenem historischen Oktoberabend zusammenkamen, leben bestimmt noch 50.000 in ihrer Stadt, und von denen wünscht sich eine Mehrheit die Situation von 1989 emotional und bildhaft dargestellt. Im Onlineforum waren die Aussagen eindeutig: Die damals dabei waren, wollen an konkrete Erlebnisse, an ihre Gefühle, auch Ängste erinnern. Sie reklamieren ein Ehrenmal, für sich.
Aber genau dies haben die meisten Wettbewerbseinreicher verweigert, ganz ausdrücklich die drei Preisträger: "Dieser Konflikt lauert hinter jedem historischen Denkmalprojekt", verteidigen z.B. realities:united ihre Entscheidung. "So berechtigt solche Erwartungen sein mögen – je höher das Maß an individueller Betroffenheit, desto eher werden Unbeteiligte von der Botschaft eines solchen Denkmals ausgeschlossen." Mit dieser Erkenntnis steht das Berliner Künstlerduo nicht allein, nahezu alle Entwürfe nähern sich dem Thema aus der Perspektive der Nicht-Ostdeutschen oder eben generell der später Geborenen. "Erinnern hat viel mit Deuten zu tun, und da liegen die Diskrepanzen inzwischen wohl weniger zwischen Ost und West, als zwischen Alt und Jung – ein Problem, das auch den Berliner Wettbewerb ganz massiv geprägt hat." Dort, am umstrittenen Standort vor dem noch umstritteneren Schloss, hat sich nach Tim Edler "eine in die Jahre gekommene Entscheidergeneration an 'mehrfachen Geschichtstraumata' abgearbeitet, mit denen die Jüngeren schlicht nichts mehr anzufangen wissen".

Die Präsentation der Wettbewerbsbeiträge im Leipziger Rathausfoyer (Bild: Wolfgang Kil) 

Während das Berliner Projekt nunmehr im Windschatten öffentlichen Desinteresses seiner Verwirklichung entgegengeht, ist der Ausgang des Leipziger Verfahrens noch ungewiss. Nach drei Wochen und ca. 1.200 Einträgen wurde die Diskussionsplattform wieder geschlossen. Besonders vehement hatte sich Bürgerunwille gegen die 70.000 bunten Hocker gewehrt. Die vertrackt ausgeklügelte und nur aufwändig zu unterhaltende Demo-Chronik von realities:united wird es schwer haben, genügend Unterstützer zu mobilisieren, anders als der Apfelgarten, der im Falle politischer Zweifel immer noch als Grünanlage durchgehen würde. Womöglich ist die rückhaltlos emotionale Debatte über die Entwürfe das verdienstvollste, was ein Leipziger Freiheits- und Einheitsdenkmal für das gesamtdeutsche Befinden zu leisten vermag. Bald nähern sich ja wieder Oktobertage, und man darf gespannt sein, was das Leipziger Rathaus dann für Signale aussendet. Wolfgang Kil

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