Gottähnlicher Schöpfer oder unbezahlter Dienstleistungsknecht

Ursula Baus
10. Oktober 2012
Schwere Last auf den Schultern: Der Baumeister als Atlant, Ostchor des Mainzer Domes, vor 1239 (Bild: Bischöfliches Dom- und Diözesanmuseum, Mainz) 
Hingehen! Anschauen!

Es kommt selten vor, dass wir eine Ausstellung für das Pflichtprogramm eines ganzen Berufsstandes empfehlen. Aber was bis Februar 2013 im Münchner Architekturmuseum zu sehen ist, verdient diese Empfehlung in vielerlei Hinsicht: Die Rarität der Originale, die Einzigartigkeit der Informationsfülle, die Relevanz des Themas – was der Architekturhistoriker Winfried Nerdinger mit einer Heerschar von Kollegen und Helfern hier zusammentrug, sucht im nächsten Jahrzehnt seinesgleichen vermutlich vergebens. Der Architekt als gottähnlicher Schöpfer, dienstleistender Knecht, williger Helfer der Mächtigen, Technikfreak, Künstler, Perfektionist, Chaot – in München ist das Füllhorn ausgeschüttet, das eine jahrtausendealte Berufsgeschichte zu bieten hat. 
Eine baufachliche Kompetenz zeichnet sich bereits im 3. Jahrtausend vor Christus ab (Imhotep bei der Stufenpyramide von Sakkâra, um 2650 v. Chr.).
Im Verlauf unterschiedlicher Geschichtsstränge in den Bereichen Technik, Kunst, Politik und Wirtschaft verändern sich diese Kompetenz, die Aufgaben, das Selbstverständnis und der Rang von Architekten in der jeweiligen Gesellschaft einerseits erheblich. Andererseits – das zeigt die Ausstellung vorzüglich – bleiben bestimmte Themen erstaunlich konstant. So räumt die Münchner Schau endlich mit der These auf, dass der "Stararchitekt" in seinem rücksichtslosen Gestaltungswillen ein Produkt der Moderne sei. Nein, derlei Architektentypen gab es im Verbund mit Bauherrschaften schon vor Jahrhunderten. Nach Ruhm zu streben und sich das Wohlwollen der Mächtigen und Reichen zu erarbeiten, prägt einen Teil der Architektenschaft, den es von Anfang an gab und der nie aussterben wird.

Philibert de l'Orme: Illustrationen "Der gute Architekt", "Der schlechte Architekt", 1567 in Le premier tome de l'architecture, Paris (Bild: Bayerische Staatsbibliothek, München) 
Lehren aus der Geschichte

Präsentiert werden wunderbare Exponate, die Nerdinger aus der Sammlung der TU München und vielen anderen Institutionen, mit denen er im Laufe seiner Ausstellungstätigkeit zu tun hatte, ausgesucht hat. Verzeichnet sind über 40 Leihgeber. Frühe Bildnisse und Selbstbildnisse von Architekten, Illustrationen von Baustellen, Ritzzeichnungen und seit der Verschriftlichung des Wissens vor allem ab dem 14. Jahrhundert auch Traktate von Architekten fügen sich als Facetten eines Berufsbildes zusammen. In seiner Entwicklung ist dieses Berufsbild nie einheitlich und nie linear verlaufen. Einen Blick auf die (Architekten-)Werkzeuge der Vorfahren werfen zu können, wärmt das Herz aller, die mit diesem Beruf zu tun haben und seine Elaborate schätzen. 
Und stets stellt sich nun die Frage, was denn eine "guter" und ein "schlechter" Architekt sei. Der Hofarchitekt Philibert de l'Orme stellte 1567 den guten Architekten mit gleich zwei erläuternden Händen vor vermeintlich schöner Architekturkulisse dar, den schlechten ohne Augen und Hände in wüster Landschaft umherirrend. So einfach ist das natürlich nicht mit Gut und Böse, und man ist dankbar, dass in der Münchner Ausstellung nichts drastisch, polarisiert oder simplifiziert vorgeführt wird. Gerade das Thema des Berufsethos hat es in sich. Derzeit rückt die Partizipation in allen Bauprozessen in den Vordergrund. Aber sind Architekten für diesen Aspekt ihrer Berufstätigkeit gerüstet? Das sprach Christian Holl vergangene Woche hier im eMagazin an. Berufsethos im Zusammenhang mit der Geschichte zu sehen, ist ein latentes Anliegen der Münchner Ausstellung.

"Die von König Ludwig I mit der Ausführung monumentaler Bauwerke betraut gewesenen Künstler", Wilhelm von Kaulbach (1804-74) um 1850 (Bild: Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Neue Pinakothek München; Leihgeber: Wittelsbacher Ausgleichsfonds München) 
Gegenwart

Die Etappe, in der dem Architekten erstmals eine scheinbare Konkurrenz erwachsen ist, reicht bis in die Gegenwart: Als 1747 die französische Ingenieurschule École des ponts et chaussées, 1748 die École du génie und 1794 die École polytechnique gegründet werden, wird ein Teilbereich des Architekturwissens separiert und als Handlungsfeld von Bauingenieuren bestellt. Bis heute machen sich die beiden Berufe teilweise ihre Metiers streitig, statt durchgängig komplementär zu wirken – siehe auch hier aus aktuellem Anlass einer Reise zu Ingenieurbauten.
 In der Ausstellung ist dieser Epochenabschnitt zum Glück nicht überinszeniert. Stattdessen folgen der chronologischen Nachzeichnung des Berufsbilds separate Ausstellungsbereiche, in denen Werkzeuge, Architektur und Bühne und Film, Architekturzeichnungen und Modelle gezeigt werden – nicht zuletzt ist diese "Aussonderung" den Räumen in der Pinakothek der Moderne geschuldet.

Le Corbusier im Jahr 1956 (Bild: Architekturmuseum der TU München, Foto: André Villers) 

Die Diversifizierung des Berufsbilds in der Gegenwart – das macht die Ausstellung nur zu deutlich – ist eine geradezu logische Konsequenz aus den oben angesprochenen Geschichtssträngen. Vom Reißzeug zum CAD-Programm, von der Linie zum Algorithmus – allein die Werkzeuge verändern sich rasant. Feld-, Wald- und Wiesenarchitekten, Ein-Mann-Büros, Lokalmatadoren, Global Player, Architekturfirmen-Manager, Theoretiker, Sozialingenieure, wackere Amtsarchitekten, geniale Entwerfer – Hungerleider und Millionäre: Die Berufsbezeichnung "Architekt" sagt hierzulande kaum noch etwas über das eigentliche Tätigkeitsfeld des Betroffenen aus, das bis zum Werbeträger reicht: Erinnern wir uns doch, wie Norman Foster für Uhren, Meinhard von Gerkan oder Hadi Teherani für Versicherungen und wer-weiß-was in Zeitschriftenanzeigen geworben haben.
 Auf diese Vielfalt im Berufsbild reagieren die Architekturhochschulen bislang leider nur unzureichend, Bachelor und Master erschweren es obendrein.
Wie es so weit gekommen ist, erfährt man in der Ausstellung natürlich nur vage, weil viele Faktoren in dieser Entwicklung kaum "ausgestellt" werden können. Man greife deswegen zur begleitenden Publikation, die ursprünglich eine Art Lexikon werden sollte, aber dann zu einem zweibändigen Nachschlagewerk mit Aufsatzsammlungen "schrumpfte" (Nerdinger).

Winfried Nerdinger (geboren 1944 in Burgau/ Schwaben) und sein Nachfolger Andres Lepik, geboren 1961 in Augsburg (Bilder: TU München, rechts: Whitney May) 
Lesen

4,2 Kilogramm wiegt die Dokumentation, die in Band 1 chronologisch aufgebaut und mit Blicken ins Ausland angereichert ist. Band 2 vereint Aufsätze zu Einzelaspekten wie Sage und Mythos, Berufsethos, Werkzeuge, Theoretikern, Erziehern, ArchitektInnen und vielem mehr. All das ist überaus lesenswert, manifestiert mit kleinen Lücken (im Bereich der Alltagsarchitektur und Bauwirtschaft) und fragwürdigen Thesen (Jörn Düwel über die Entwicklung in Deutschland im 20. Jahrhundert) jedoch auch, dass sich hier ein weites Forschungsfeld auftut, das allgemein von Architekten viel zu sehr vernachlässigt wird. Nicht zuletzt kann die Ausstellung als Versuch gewertet werden, der Architekturgeschichte eine Architektengeschichte zur Seite zu stellen. Nerdinger formuliert es so: "Studiere die Architekten, bevor du die Architektur studierst".

Staffettenwechsel

Neue Aufgaben warten auf Winfried Nerdinger, der jetzt als Gründungsdirektor des 1988 von ihm angeregten NS-Dokumentationszentrums tätig ist. Sein Nachfolger, sowohl an der TU München als auch im Architekturmuseum, wird der 1961 in Augsburg geborene Andres Lepik, der sich ein eigenes Ausstellungsziel setzen muss – siehe dazu auch die aktuelle Ausgabe der DBZ. Dies wird schwierig, ohne die regionalen, nationalen, spezifischen Themen hintan zu stellen. Zumal das DAM mit Peter Cachola Schmal einen Direktor hat, der weltweit – wie man so sagt: gut vernetzt ist, darf man gespannt sein, wie sich die beiden Institutionen zukünftig profilieren, ohne sich konkurrierend anzugleichen. München hat eine einzigartige Sammlung mit Schätzen, die es noch zu heben gilt.  Lepik wünscht man, dass er dereinst wie Winfried Nerdinger sagen kann: "Ich war nie von Sponsoren oder Politikern abhängig, musste Ausstellungen nie nach populistischen oder quantitativen Kriterien konzipieren, was leider an anderen Orten passiert." (Im Gespräch mit Detail). Ursula Baus

Ausstellung "Der Architekt – Geschichte und Gegenwart eines Berufsstandes". Bis 3. Februar 2013 im Architekturmuseum der TUM München.

"Der Architekt". 2 Bände, zusammen 816 Seiten, 650 Abbildungen, Prestel Verlag, München 2012. Im Museumsshop kostet die Publikation 76 Euro, im Buchhandel 98 Euro.

Andere Artikel in dieser Kategorie