Alles aus einer Hand

Christian Holl
10. April 2013
Henry van de Velde, um 1908 (Bild: Louis Held/ Klassik Stiftung Weimar) 

Gemälde und Zeichnungen sind neben Schmuck, Geschirr, Besteck und Kleidern zu sehen. Und natürlich Möbel, Interieurs, Architekturentwürfe. Auf zwei Stockwerken wird im Neuen Museum in Weimar das beeindruckende Werk des belgischen Universalkünstlers Henry van de Velde ausgebreitet. Als Maler hatte der 1863 in Antwerpen geborene Tausendsassa seine Karriere begonnen, dann beschäftigte ihn "die Vorstellung einer neuen sozialen Gesellschaftsordnung mehr als die Frage, ob sich die Malerei auf dem Wege des Pointilismus oder auf irgendeine andere Weise vollziehen würde", wie er in seinen Lebenserinnerungen schrieb. Um 1890 zog es ihn erst zum Kunsthandwerk, wenig später auch zur Architektur.

Von Belgien nach Weimar
In der Ausstellung werden Arbeiten von van de Velde mit vergleichbaren Exponaten jener gezeigt, die ähnliche Ziele wie er verfolgten, die den Pomp und das Überladene des ausgehenden Jahrhunderts ablegen wollten, die sich von japanischer Kunst inspirieren ließen, die nach einer Einheit von Raum, Objekt und Mensch suchten, Richard Riemerschmid, Bruno Paul, Josef Hoffmann etwa. Als Gründer, erst des Kunstgewerblichen Seminars (1902) und dann der Kunstgewerbeschule in Weimar, die 1908 eröffnet wurde und aus der später das Bauhaus hervorgehen sollte, hat van de Velde einen kaum zu unterschätzenden Anteil an der Entwicklung der Kunst- und Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts – er selbst hatte Walter Gropius als seinen Nachfolger lanciert, nachdem er als Ausländer im nationalistisch aufgeheizten Klima nicht mehr geduldet wurde. Mit seinen Ideen, Künstler und Produzenten zusammenzuführen, um das Kunstgewerbe im damaligen Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach wieder konkurrenzfähig zu machen, hat er der Gründung des Werkbunds den Weg bereitet. Nach Deutschland war er gekommen, weil er hier das reformfreudigere Umfeld gefunden hatte – seine Ausstattung für die Galerie Bing war 1895 in Paris durchgefallen, dieselbe hat zwei Jahre später in Dresden aber begeisterte Resonanz gefunden.

Das heutige Hauptgebäude der Bauhaus-Universität Weimar, 1919 Gründungsort des Bauhauses, wurde von 1904 bis 1911 nach Plänen Henry van de Veldes für die Kunstschule des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach errichtet. (Bilder: Christian Holl) 

In Harry Graf Kessler hatte van der Velde einen begeisterten und diplomatisch versierten Förderer gefunden, der ihm den Weg nach Weimar geebnet hatte. Das ornamentale Dekor der ersten Zeit hatte er schnell abgelegt, schlicht und formschön waren nun die Möbel, dem "Prinzip der vernunftgemäßen Gestaltung folgend", wie er es nannte. Nicht alle hatte er begeistert, Max Liebermann meinte etwa über die Inneneinrichtung des Salons Haby angesichts der offen gezeigten (und aufwändig gestalteten) Wasserleitungen, man trage ja auch seine Gedärme nicht wie die Uhrenkette auf der Weste. Der Kaiser wollte seine Arbeiten auf der Industrieausstellung in Düsseldorf (1902) erst gar nicht anschauen, weil er nicht seekrank werden wollte. Dabei zog van de Velde selbst deutlich die Grenzen zu anderen. Victor Horta hat er abgelehnt, dessen Übertreibungen verstimmten, so schrieb er, "wegen ihrer Sinnlosigkeit und hemmungslosen Phantasie". Bei der Mathildenhöhe in Darmstadt war ihm zu viel Oberflächlichkeit im Spiel, er sei froh, das gesehen zu haben, soll er gesagt haben. "Man merkt, was man nicht tun darf."

Gestalter aller Lebensbereiche
Auch auf dem Gebiet der Architektur hat er Großes geleistet, sein erstes Haus, das Haus Bloemenwerft in Uccle (1895) ist aus den inneren Abläufen entwickelt, das Prinzip, einen zentralen Raum zum kommunikativen Knotenpunkt zu bestimmen, sollte sich auch in anderen Entwürfen wiederfinden. Er gestaltete das Nietzsche-Archiv (1903) und baute die Kunstgewerbeschule in Weimar. Das Theater auf der Werkbundausstellung in Köln von 1914 (1920 abgerissen) ist einer der wichtigsten Theaterbauten des 20. Jahrhunderts, in dem Technik, Bühnen- und Zuschauerraum ebenso neu und präzise aufeinander abgestimmt sind wie die Gliederung des Äußeren zwischen Expressionismus und Rationalismus eine gelungene Balance hält.
In Arnheim wurde 1937 nach seinen Entwürfen das Kröller-Möller-Museum gebaut (wenn auch nicht in den Ausmaßen, die er zunächst vorgesehen hatte), die Bibliothek in Gent (1936) ist dort mit ihrem Bücherturm bis heute Wahrzeichen, auf den Weltausstellungen in Paris (1937) und New York (1939) hat er jeweils den belgischen Pavillon errichtet. Der pädagogische Impetus blieb ungebrochen. Noch ab 1927, also im Alter von 64 Jahren gründet er in Brüssel das "Institut Supérieur des Arts décoratifs", das als Design- und Medienhochschule heute noch besteht.

Salon im Nietzsche-Archiv. Van de Velde war für den Umbau und die Neueinrichtung des Erdgeschosses beauftragt worden. Nietzsche war in diesem Haus 1900 gestorben. (Bild: Jens Hauspurg/ VG Bild-Kunst, Bonn 2013) 

Henry van de Velde darf also mit Recht eine der Vaterfiguren der Moderne genannt werden – und dennoch wird er meist eher wie eine Randfigur wahrgenommen. Das mag daran gelegen haben, dass ihm Breitenwirkung versagt blieb, das allerdings mit durch eigenes Zutun, doch dazu später. Waren auch seine späten Entwürfe reifer und gesammelter, so wirkte er nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr annähernd so prägend wie zuvor. Doch das allein ist es sicher nicht. Man versteht van de Velde, und damit auch viele seiner Zeitgenossen nur, wenn man auf die Widersprüchlichkeiten verweist, die die Rezeption erschwert haben. Schon der Kunstbegriff van de Veldes scheint uns heute sperrig – mehr noch als andere hat er den künstlerischen Anspruch hochgehalten, steht hinter seinem rastlosen Gestaltungsdrang die Idee des künstlerischen Gesamtkunstwerks.
Die Vorträge am Eröffnungstag des diesjährigen Bauhaus-Kolloquiums, das diesem Zusammenhang gewidmet war, machten deutlich, wie wenig uns heute noch die Ideen der künstlerischen Gestaltung aller Lebensbereiche, einer "Wiederkehr der Kunst im ursprünglichen Glanz unverdorbener Schöpfung, die von unwiderstehlicher Lebensfreude getragen ist" (van de Velde) zugänglich sind. Eher steht das Gesamtkunstwerk unter dem Verdacht des Totalitarismus; heute formuliere Kunst die Kritik am Gesamtkunstwerk, lasse in antiformalistischer Ästhetik "Erfahrung erfahren"; an Kunst reflektiere sich unsere Teilhabe an sozialer Praxis, wie etwa Juliane Rebentisch ausführte. Darin unterscheidet sich Kunst freilich auch von Kunstvorstellungen, die nach van de Velde gepflegt wurden.

Zu handwerklich, zu teuer
In zumindest zwei maßgeblichen Aspekten aber sind schon die Unterschiede zur Moderne, wie sie sich nach 1918 entfaltete, grundsätzlich. Zum einen sind die nach seinen Entwürfen gestalteten Gebrauchsgegenstände trotz allem Streben nach Schlichtheit und Dekorfreiheit, nach "vernunftgemäßer Gestaltung" überwiegend sehr teuer gewesen, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen waren sie nicht für die Maschinenproduktion geeignet. Die reformatorischen Vorstellungen einer "neuen sozialen Gesellschaftsordnung" haben also nicht in Konsequenzen gemündet, die die Herstellung betrafen – sie blieben als lediglich formale Befreiung und ästhetische Neuorientierung im bürgerlichen, großbürgerlichen und elitären Habitus stecken, erschöpften sich darin – hier sollten erst die kommenden Generationen den Durchbruch schaffen. Auch was die dominierende Position des Künstlers und Architekten angeht, widerspricht seine Haltung eigenartig reformatorischen und emanzipatorischen Vorstellungen. Van de Velde gestaltete noch jeden Türgriff, ein Freiraum zur Entfaltung einer anderen Persönlichkeit, Raum zur Aneignung des Nutzers blieb da nicht mehr.

Speisezimmer im Haus Hohe Pappeln, das sich van de Velde 1907/08 in Weimar errichtete. Selbstverständlich sind auch Möbel und Einrichtung von ihm entworfen. (Bild: Jens Hauspurg/ VG Bild-Kunst, Bonn 2013) 

Die weitaus radikaleren Positionen derer nach ihm hatten mit an geometrischen Grundformen und an maschineller Herstellung orientierten Leitbildern andere Spielräume eröffnet und mit ihnen das demokratische Ideal der ästhetischen Gleichberechtigung verknüpft – auch der Massenwohnungsbau konnte nun als baukünstlerische Aufgabe verstanden und praktiziert werden. Mit dem daran gebundenen Bestreben, die Segnungen der neuen Zeit nicht nur den Wohlhabenden zugute kommen zu lassen, ist zur Haltung eines van de Velde ein deutlicher Bruch auszumachen. Die gesundheitlichen Wirkungen, vor allem aber die emanzipatorischen, die von der ganz praktischen Arbeitserleichterung im Haushalt ausgingen, waren enorm. Gestaltung und sozialer Impetus konnten sich tatsächlich miteinander verbinden. Viele Zeugnisse dieser Moderne zahlen heute den Preis für diese Befreiung, er schlägt etwa in den Diskussionen um die Qualitäten der Nachkriegsbauten und des Nachkriegsstädtebaus zu Buche. Aber gerade das Beispiel des engagierten van de Veldes sollte Mahnung sein, nicht wieder ein elitäres, an gehobenem Wohlstand orientiertes Gestaltungsleit- als Gegenbild zu etablieren. Anders immerhin als heute die konservativen Verfechter von Ideen der "Schönheit und Zukunftsfähigkeit der Stadt" hatte sich van de Velde an radikalen Denkern wie Nietzsche orientiert und sich mit Verve für neue Ideen eingesetzt, anstatt Vergangenes aufzuwärmen. Etwas von der Energie, die er darin investierte, spüren zu wollen, ist nicht der schlechteste Grund, sich auf die Spuren van de Veldes zu begeben.

Über Ausstellungen und Programm informiert die Internetseite zum Jubiläumsjahr

Die Ausstellung "Leidenschaft Funktion und Schönheit. Henry van de Velde und sein Beitrag zur europäischen Moderne" im Neuen Museum Weimar ist bis zum 23. Juni zu sehen, der Katalog, erschienen in der Weimarer Verlagsgesellschaft, kostet in der Ausstellung 39,90 €.

Neben der Ausstellung können auch das Nietzsche Archiv und das Haus Hohe Pappeln in Weimar besucht werden.

Die Bauhaus Universität Weimar zeigt ergänzend dazu bis zum 12. Mai eine Übersicht über das vollständige architektonische Werk van de Veldes in Plänen und Fotos sowie virtuellen Simulationen.

Die Zitate sind seiner Autobiographie entnommen: Henry van de Velde: Geschichte meines Lebens, München 1959/86.

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