Anna Heringer: „Wir müssen hin zu einer glücklichen Genügsamkeit“
Katinka Corts
2. März 2022
Anna Heringer (Foto: Nina Rettenbacher)
Anna Heringer gestaltete in erneuerten traditionellen Bauweisen Projekte bereits in Bangladesch, aktuell wird eine Schulanlage in Ghana erstellt. In unserem Interview spricht sie sich für ein politisches Umdenken hin zu wirklich nachhaltigem Handeln und Bauen in Europa aus.
Der Unterschied zu damals ist, dass unsere Stimme heute mehr Gewicht hat – und es auch haben muss. Es reicht nicht, schöne Projekte zu machen, man muss auch politisch den Mund aufmachen. Deshalb machen wir auch Ausstellungen und treten immer mehr in der Öffentlichkeit auf – ums Ego geht es da nicht. Dass wir den Bauhaus-Award gewonnen haben und Martin Rauch für seine ERDEN PURE Walls ausgezeichnet wurde, hilft uns, die Botschaft hinauszutragen: Es wird so viel Forschung und Energie darauf verwendet, neue Materialien zu entwickeln – und zugleich hat man Lehm, den „grünen Beton“, als vergessenes Baumaterial quasi überall verfügbar.
METI School, Bangladesch (Foto: Benjamin Staehli)
Mit euren Projekten in Bangladesch habt ihr internationale Aufmerksamkeit für das Bauen mit Lehm erreicht. Bis heute wird Lehm, den es schließlich auch in Mitteleuropa gibt, jedoch nicht als konkurrenzfähiges Material fürs Bauen betrachtet. Wie nimmst Du das wahr?
Lehmbau gibt es seit tausenden von Jahren, er müsste einfach mehr Aufmerksamkeit bekommen und die Werkzeuge dafür besser entwickelt werden. Der größte Knackpunkt heute bleibt aber, das politische und ökonomische Regelwerk zu ändern. Mich ärgert es zu hören, es müsse eine technische Entwicklung mit dem Lehm passieren, er müsse billiger werden. Nein, andere Bauweisen müssen teurer werden! Es kann doch nicht sein, dass ein Baumaterial, das uns gratis von der Natur gegeben wird, finanziell so bestraft wird. Ja, es braucht viel menschliche Arbeitskraft, aber es ist sozial. Gleichzeitig werden Materialien wie Beton, Stahl und Aluminium immer noch extrem verbilligt, obwohl da so viel Energie drinsteckt.
Ja, doch das muss man angehen! Durch verfeinerte Techniken und Werkzeuge wird versucht, Lehmbau günstiger zu machen, aber das reicht nicht. Es muss zugleich eine Kostenwahrheit geschaffen werden. Das ist das, was mich am meisten beschäftigt. Es gibt immer mehr Projekte, mit denen man an Paradigmen kratzt. Wo es richtig ans Eingemachte geht, merkt man, dass politisch ein Systemwechsel erfolgen muss. Aber auch in unserer Wahrnehmung und Geisteshaltung und in unserem Bewusstsein. Das sind die kraftraubenden, aber auch die wichtigen Projekte.
METI School, Bangladesch (Foto: Benjamin Staehli)
Müsste man mit der Lehm-Bauweise nicht vor allem auch in Dimensionen gelangen, in denen die großen Projekte entstehen? Mir kommt es immer so vor, dass gar nicht die Frage im Raum steht, ob das, was ihr baut, bewundernswert ist. Vielmehr scheint der Transfer nach Europa nicht zu gelingen, wo es so viel mehr um Flächenausnutzung und finanzielle Rendite geht. Wir könnten durchaus nachhaltiger bauen, aber die Gewichtung ist hier eine andere. Ich frage mich, ob in Europa schlichtweg die Not nicht groß genug ist, um wirklich nachhaltig zu denken und zu bauen.
Die Not wäre schon da, aber die Gier ist weiterhin stark. Und die Macht ist in den Händen derer, die auf Profit ausgerichtet sind. Wir brauchen diese Macht, und genau an diesem Punkt muss die Politik ihre Rolle ernst nehmen und auf der Seite der Allgemeinheit stehen – und nicht auf der Seite der Mächtigen. Immer heißt es, der Markt reguliere alles. Aber nein, das tut er nicht! Dafür braucht es die Politik, die lenkend eingreift.
Nachhaltigkeit ist Resilienz. Und die passiert, wenn man mit den lokal vorhandenen Ressourcen arbeitet. In der politischen Krise und der militärischen Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine ist das ja auch zentral – „oh, wir sind energieabhängig“! Wir müssen schauen, was UNSERE Ressourcen sind, ob hinsichtlich Energie, Materialien oder Baustoffen. Und das heißt natürlich auch in einem gewissen Maße, zu sparen.
In Bangladesch haben wir Solarpaneele auf dem Dach. Und wenn es ein Übermaß an Nutzung gibt, dann ist auch mal der Strom aus, das ist dort normal. Wir in Europa gehen immer davon aus, dass uns alles in einer Hülle und Fülle permanent zur Verfügung steht. So kommt es zum Rebound-Effekt: Wenn der Strom eh vom Dach kommt, müssen wir nicht mehr sparen. Aber doch, wir müssen sparen! Wir müssen beides machen. Natürlich müssen wir in Hightech gehen, zugleich aber sorgsam umgehen mit den Ressourcen. Wir können nicht nur sagen, dass das E-Auto klimafreundlich ist, sondern müssen dann auch den Individualverkehr reduzieren. Wir müssen diese Technikgläubigkeit, die uns glauben lässt, dass wir uns nicht ändern müssen und alles so weitermachen können wie gedacht, von uns abschütteln. Wir müssen hin zu einer glücklichen Genügsamkeit. Es ist ein spannender Prozess, herauszufinden, auf was man alles verzichten kann.
DESI Training Centre, Bangladesch (Foto: Naquib Hossain)
Deine Grundinspiration für Projekte ist absolut sozial und menschlich, immer stehen die Bedürfnisse von Mensch, Umwelt, Natur und Gemeinschaft gleichwertig im Mittelpunkt. Was hat dich dazu gebracht, diese Denkweise zu entwickeln? Hast du Vorbilder aus Schulzeiten, aus der Familie, aus der Religion?
Das kommt bei mir sicher aus Familie und meinem Umfeld. Bei den Pfadfindern wurde mir zum Beispiel klar, dass ich gemeinsam mit meiner Gruppe alle Dinge schaffen kann, die wir brauchen. Musik machten wir selber, wir bauten Möbel und Zelte, wir dachten uns selber Spiele aus. Der Mehrwert, der im „Selbermachen“ steckt, den habe ich damals schon direkt erlebt. Leider spüren wir derlei Selbstermächtigung immer weniger in unserer Gesellschaft. Wir spüren immer weniger unsere eigene Energie und Kraft, und deshalb müssen wir immer irgendwo stänkern und blockieren und gegen etwas sein. Viel wichtiger hingegen wäre es, sich auf die eigene Kraft zu besinnen.
In den Altar haben Menschen Briefe eingestampft, die ihnen wichtig waren, Ketten, persönliche Andenken wie eine Handvoll Heimaterde. Die Kraft, die man hat, wenn man als Gemeinschaft an einem Strang zieht und gemeinsam etwas schafft, wurde hier sehr deutlich. Und ich würde mir so wünschen, dass wir als Gesellschaft wahrnehmen, dass der Kampf für die Natur und die Mitwelt das sein könnte, was uns eint. Wenn ich sehe, dass stattdessen aktuell neue Kriege angezettelt werden, frage ich mich, ob wir nichts Wichtigeres zu erledigen haben. Warum hauen wir uns denn jetzt die Köpfe ein und übersehen mal wieder, dass wir eigentlich und hauptsächlich gemeinsam dafür sorgen müssen, dass unser Planet für die Nachwelt erhalten bleibt?
Deshalb ist es wichtig, Projekte zu machen, bei denen die Gemeinschaft sich spürt und gestärkt wird. Wir brauchen ganz viele solcher Projekte. Ich versuche, meinen Beitrag zu leisten und gleichzeitig lauter zu werden, mehr gehört zu werden. Wie ich vorher schon sagte – wir müssen uns wieder drauf besinnen, was wir bereits vorhanden direkt um uns herum und auch in uns haben und daraus Dinge entwickeln. Den anderen Ballast brauchen wir nicht. Überfluss, mein Gott, aller Besitz macht ja riesig Stress! Und Leben gelingt besser mit leichtem Gepäck.
DESI Training Centre, Bangladesch (Foto: Naquib Hossain)
Mittlerweile bist Du mit der UNESCO verbandelt, lehrst an diversen Hochschulen zu Lehmbau, ich habe von eurem Laufen-Manifest zu human-design-culture gelesen und eure Projekte sind mehrfach ausgezeichnet worden. Hast Du den Eindruck, dass sich wirklich etwas ändert dank eurer immer stärkeren Präsenz oder betreiben viele Preise und Komitees auch eher ein Greenwashing mit euren Projekten? Also – hast Du den Eindruck, heute mehr als früher einen Hebel ansetzen zu können, gemeinsam mit Gleichgesinnten?
Seit kürzerem haben wir nun wirklich auch Kontakte zu Ministerien, langsam geht das voran, ja. Leider hängt Politik immer von Wahlperioden ab und ist zudem langsam. Wichtiger fände ich es, wenn die Universitäten aktiver würden. Zwar geht es auch da los, die ETH hat inzwischen einen CAS/DAS ETH in Regenerative Materials, wovon Lehmbau ein großer Teil ist. BASE habitat in Linz hat darauf einen Schwerpunkt, in Liechtenstein und Harvard haben Martin Rauch und ich auch schon Kurse dazu geleitet und in anderen Unis wie Columbia geht es los. Ja, es passiert schon immer wieder etwas, aber es müsste mehr kommen. Von den Unis erwarte ich mir, ehrlich gesagt, die Vorreiterrolle! Akademia muss vornedran stehen, und das übernehmen sie noch viel zu wenig. Sie haben ihre alten Strukturen und fürchten sich vor Veränderungen – denn wenn man etwas lehrt, sollte man natürlich auch in seinen eigenen Projekten diese Haltung zeigen. Doch noch zu oft sind die Leute Professoren, die sehr erfolgreich im Mainstream sind. Das muss man ändern.
Absolut! Absolvent*innen müssen raus ins Feld und nicht in die Büros. Erst eine eigene Haltung finden, einen eigenen Weg – denn gerade dann muss man noch keinen Kredit abzahlen oder sich um Kinder sorgen. Ich spüre, dass der Wunsch in der jungen Generation durchaus da ist, aber manchmal fehlen da der Biss und das Vertrauen. Ich versuche, meine Student*innen zu ermutigen und sage ihnen: habt Vertrauen, man muss nicht im Mainstream landen! Jeder Mensch kommt mit einem gewissen Talent auf die Welt und da ist es völlig unlogisch, diese Talente nicht im Leben zu leben. Ich glaube, man muss sich auch etwas von dem Gedanken des fixen Einkommens lösen, das am Ende des Monats da ist. Das ist bei mir auch selten der Fall.
Ja, ich finde das Grundeinkommen auch einen sehr interessanten Gedanken, den es sich lohnen wird zu testen. Wichtig ist einfach, die menschliche Arbeitskraft als Energieressource sehen. Wir sehen immer Öl, Wind, Wasser und Sonne, aber der Mensch ist auch eine Energiequelle. Öl wird trotz hoher Umweltbelastung viel zu gering besteuert, der Mensch hingegen muss sehr viel Steuern zahlen und abgeben auf seine Arbeit. Das macht zum Beispiel auch den Lehmbau teuer, das Handwerk. Und eigentlich müsste ein Material doch teurer sein, wenn es viel CO2 verursacht oder nicht recyclebar ist.
Bau des neuen Altar im Wormser Dom (Foto: Norbert Rau)
Gemeindemitglieder stampften persönliche Andenken ein (Foto: Norbert Rau)
Ein Projekt von Studio Anna Heringer und „Lehm Ton Erde“ – Martin Rauch (Foto: Norbert Rau)
Bei Materialien wie Beton und Stahl hast du natürlich ganz andere Lobbies dahinterstehen als bei Themen wie Humankapital.
Wir müssen dennoch dranbleiben und durch gute Beispiele begeistern. Menschen sind durchaus begeisterungsfähig, und da spielen Schönheit und gute Architektur wirklich eine ganz wichtige Rolle. Ein gutes Beispiel ist für mich Vorarlberg, da war der Holzbau vor 30 – 35 Jahren etwas ganz Neues. Heute ist er völlig selbstverständlich und die ganze Industrie hat sich danach entwickelt. Das hat zwar eine Generation gebraucht, aber es fing auch mit ein paar Leuten an, die für Spinner erklärt worden sind. Jede Bewegung hat mit ein paar wenigen angefangen und Systeme können sich ändern.
Ach, das braucht viel Geduld. Erst gab es die Kolonialzeit, dann Missionarstätigkeit, schließlich die sogenannte Entwicklungshilfe. Und immer wurde anders gebaut. Wenn man in Bangladesch Auto fährt, sieht man alle hundert Meter eine Werbung für Zement, Aluminium oder Klimaanlagen. Da ist eine Handvoll Projekte natürlich erst ein Anfang. Trotzdem wird der Lehm inzwischen auch von den Architekt*innen in Bangladesch als nachhaltiges wie modernes Baumaterial wahrgenommen.
In Ghana ist es schon ein Kampf. Die katholische Kirche – wie auch alle Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen – hat dort über Dekaden anders gebaut, vor allem mit Beton. Jetzt kommt da auf einmal eine Frau aus Europa und sagt, sie sollen das anders machen. Es ist durchaus ein Unterschied, was die österreichischen Salesianer denken und was jene denken, die in Ghana schon ewig vor Ort sind. Man muss sich langsam herantasten, Vertrauen aufbauen und sich beweisen. Ich merke, was hilft, ist eine gute Architektur. Und Geduld.
In Bangladesch haben wir aktuell das Problem, dass die Regierung als Entwicklungsprogramm gratis Wellblechhütten verteilt. Nun reißen die Leute ihre Lehmhäuser ein um die Wellbleche hinzustellen. Damit schaut das schönste Dorf jetzt aus wie ein Slum! Gerade dort, wo ich dachte, wir seien auf einem guten Weg, fängt die Regierung an mit so einem fragwürdigen Programm. Die Leute im Dorf wissen natürlich, dass die Lehmhütte selbst gebaut werden kann, das Wellblech hingegen einen Wert von soundsoviel bangladesischen Taka hat. Deshalb sagen sie zu diesem Geschenk nicht Nein. Dass die Hütte im Sommer extrem heiß, im Winter eiskalt ist und nach 10 Jahren total schäbig aussieht, das wird nicht bedacht. Aber vielleicht müssen sie das jetzt wieder mal erleben und wir arbeiten indessen weiter und stellen Alternativen vor. Es ist schon manchmal mühsam.
Nichtsdestotrotz geben wir nicht auf. Ich bin und bleibe Idealistin und davon überzeugt, dass wir die Kraft zur Veränderung, zur guten und friedlichen Entwicklung in unseren Händen und Gedanken haben.
Liebe Anna, vielen Dank für Deine Zeit. Bitte macht weiter so, alles Gute euch in Ghana und wo immer es euch hin verschlägt für eure Projekte!