Zittrige Linienführung

Thomas Geuder
21. Oktober 2014
Im Frankfurter Stadtteil Alt-Sachsenhausen ist es mit der Bausubstanz nicht überall gut bestellt. Die teils historischen Häuser leiden unter Übernutzung und mangelnder Wartung. (Foto: Eibe Sönneken)

Alt-Sachsenhausen in Frankfurt/Main gehört zu den Stadtvierteln, die sich – laut der Stadt Frankfurt – dringend verändern müssen. Bis in die 1990er-Jahre noch geprägt von traditionellen Apfelweinlokalen und deswegen geschätztes Ausgeh- und Amüsiergebiet, wurde es in den vergangenen Jahren stark heruntergewirtschaftet. Die Stadt bemüht sich deswegen seit einigen Jahren intensiv um den Stadtteil, mit einer Erhaltungssatzung, mit Prämien für die Umnutzung von Gastronomie in Wohnen und anderen Initiativen. Das trägt erste Früchte: Rund um die Brückenstraße etwa entstand bereits eine Mikroszene aus kleinen Werbeagenturen, Kunstgalerien, Mode- und Designerläden mit eigener, oft lokal geprägter Kollektion. Es beginnt sich etwas zu ändern, und manch einer nennt das Viertel bereits «SoMa» – «South of Main», angelehnt an New York berühmtes Szene-Viertel «South of Houston».

Die traditionelle Gliederung in ein steinernes Sockelgeschoss mit leichten Oberbau durchbricht eine große Fassadenöffnung im Erdgeschoss, die gleichzeitig den Eingang zum Ausstellungsraum ist. (Foto: Axel Stephan / Sto)

Diesen Geist beschwöre wollte auch ein privater Bauherr, der 2011 die in Frankfurt ansässigen Franken Architekten beauftragte, ein bestehendes Haus im Kern der Sachsenhausener Altstadt in der Kleinen Rittergasse zu renovieren. Der Bestand aus einer recht maroden, dreiteiligen Häusergruppe aber stellte sich bald als weder bauhistorisch noch konstruktiv und wirtschaftlich rekonstruierbar heraus, weswegen man sich schließlich für dessen Abriss und die Neubebauung des Grundstücks entschied. Das erforderte von den Architekten ein subtiles Vorgehen, denn die traditionelle, kleinteilige Bebauung mit fast schon dörflichem Charakter dort ist gleichzeitig auch touristischer Anziehungspunkt. Zumindest Gebäudekubatur und Fassade mussten sich gelungen eingliedern. So nimmt der Baukörper des Neubaus nun die Kubatur des Bestandsgebäudes abstrahiert auf, es entsteht ein dreigiebliges Gebäude ohne Dachüberstände, dafür mit einem gläsernen Mitteltrakt. Der Sockel der Gebäudegruppe ist mit Naturstein (auf einem Fassadendämmsystem) verklebt.

Die bei dieser Fassade mitschwingende Konnotation ist die einer an diesem Ort erwartbaren historischen Bauform, die als traditionell, handwerklich und heimatverbunden wahrgenommen wird. (Foto: Oliver Tamagnini)

Bei der Gestaltung der Fassade wendeten die Planer von Franken Architekten die von ihnen entwickelte Strategie des Nachbildens an. Sie folgt dem Phänomen, bei dem sich nach dem langen Betrachten eines Objekts dieses beim Schließen der Augen als Phantombild auf der Netzhaut abzeichnet und schließlich langsam verblasst. Angewendet und übersetzt auf die Architektur bedeutet das: Bei jeder Rekonstruktion eines Bauwerks wird lediglich ein Bild einer Vergangenheit erzeugt, die umso unschärfer wird, je näher man sie betrachtet. Zur Umsetzung dieser Entwurfsidee bedienten sich die Planer eines Relikts aus vordigitaler Zeit, als Baupläne noch mit Tusche gezeichnet wurden: Der «Zitterstrich», der Zeichnungen einst den Duktus zwischen Exaktheit und Unbestimmtheit verlieh, sollte nun in die digitale Welt gebracht werden, per Algorithmus, der ihn «echt» beliebig parametrieren lässt. Als «Zeichenpapier» dienen die Fassadenplatten StoDeco Plan, Putzträgerplatten aus mineralischem Leichtwerkstoff mit der notwendigen Drucksteifigkeit und Feinporigkeit, in die die Linien per CNC-Fräse eingefräst werden. Die Architekten teilten bei der Planung die Fassade oberhalb des Natursteins nun in 144 unterschiedlich große Teilflächen ein und integrierten jeweils den Zitterstrich, bei Sto – wo man sich bereits seit 2010 mit dem Fräsen von Fassadenplatten auseinandersetzt und die gesamte digitale Prozesskette anbieten kann – wurde das auf die Machbarkeit mit dem Material und den Maschinen kontrolliert und noch die notwendigen Dehnungsfugen eingefügt. Vor Ort lief die Montage der Platten dann einfach nach einem Verlegplan und einer Nummerieung auf jeder Platte. Besondere Sorgfalt war noch beim vollflächigen Verkleben auf dem armierten und verdübelten Fassadendämmsystem gefordert, damit die Platten nicht verrutschen. Um die Forderung nach einer Putzoptik zu erfüllen, wurde die dreifache Deckbeschichtung der Platten nun noch abgesandet. Hellgrau ist die Fassade übrigens, weil der das alte Fachwerk nachzeichnende Zitterstrich vor allem richtig zur Geltung kommt, wenn durch den Schattenwurf der Keilnut ein sich mit dem Tagesverlauf ständig veränderndes Licht-Schattespiel entsteht.   tg

Die Bauaufsicht Frankfurt wählte das Projekt zu einem Ihrer Leitprojekte im Bereich Wohnen für das Jahr 2012. (Foto: Eibe Sönneken)

Lageplan (Quelle: Franken Architekten)
Grundrisse links: 1. Obergeschoss, Erdgeschoss, Untergeschoss. Grundrisse rechts: Dachgeschoss, 2. Obergeschoss (Quelle: Franken Architekten)
Das nicht brennbare Material StoDeco Plan (A2-s1, d0) ist kompakt, massiv und durch sein geringes Gewicht von 550 kg/m³ leicht zu verarbeiten. (Foto: Oliver Tamagnini)
Die Entwurfsidee auf einen Blick: Der Zitterstrich sollte schließlich als vertiefte Linie in der Fassade laufen – und sich dort verdichten, wo einst die Balken des Fachwerks zu sehen waren. (Foto: Franken Architekten)
Der Bestandsbau war leider dermaßen beschädigt, dass er – natürlich mit Einverständnis der Denkmalschutzbehörde – abgerissen werden musste. (Foto: Franken Architekten)
Im Erdgeschoss befindet sich das Herzstück des Hauses: ein Raum für Happenings 2.0, der aus dem Fotostudio mit Ausstellungsräumen und einer offenen Küche besteht. (Foto: Martin Repplinger)

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