Wild und unprätentiös

Thomas Geuder
10. September 2013
Außenwände und Dach des Bürogebäudes von The Borsellinos sind in Schwarz gehalten, wodurch sich das Haus vom Umfeld deutlich hervorhebt. (Foto: Piero Borsellino, Noshe)

Wie das Hundchen, so das Herrchen. Oder war es umgekehrt? Die Frage nach Ursache und Wirkung stellt sich nicht nur im Alltäglichen, sondern auch in der Architektur. Wie sind Form und Raum letztendlich entstanden? Der Architekt entwirft ein Gebäude, normalerweise. Doch frei nach Schopenhauers Ausspruch «Der Mensch kann wohl tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will» entwickelt sich dessen Schöpfungskraft am Ende ebenfalls nur aus der Summe der äußeren und inneren Einflüsse, die er in seinem Leben gesammelt hat. Hinzu kommt, dass jedem neuen Projekt idealerweise ganz frische Parameter vorangestellt werden, die neben dem (baulichen) Umfeld und den Spezialwünschen des Auftraggebers auch den Charakter des Bauherrn selbst beinhalten. Der Architekt ist schließlich auch nur ein Mensch: Versteht er sich mit einem Kunden gut, bekommt der gute Architektur, wenn nicht, dann eben nicht – ganz unbewusst selbstverständlich, denn auch der Wille des Kreativen ist schließlich nur bedingt frei! Otto Normalarchitekturfreund leuchtet das ein, und doch fragt er sich: Wenn so ein Gebäude dann steht, wird man ihm ansehen, für wen es entworfen wurde?

Ein Stuhl ist (klassischerweise) ein Möbelstück, an dem sich Architektengenerationen gerne probieren. In einen so einfachen wie notwendigen Gegenstand lässt sich eben viel Gestaltungsphilosophie hinein transportieren. Den Gestaltungstheoretiker freut das, denn der Stuhl ist mittlerweile zum anschaulichen Studienobjekt der verschiedenen Geschmacksstile geworden. Entwürfe von Marcel Breuer, Gerrit Rietveld, Charles & Ray Eames, Arne Jacobsen oder Hans J. Wegener sind nicht mehr wegzudenken aus der Geschichte des Designs und der Architektur. Der Stuhl repräsentiert, unter welchem Design-Verständnis er entstanden ist. Ein Blick auf zurzeit entworfenes lohnt sich deswegen. Schauen wir uns etwa den Frankfurter Möbelhersteller e15 an: Dort sind unter der Federführung des Designers Stefan Diez die Sitzserie CH04 Houdini und der Sessel EC03 Eurgene entstanden, die zwar von einer formalen Schlichtheit geprägt sind, auf eine harmonische Linienführung dabei aber nicht verzichten. Die Herstellung des Sitzmöbels ist (laut Hersteller) aus dem Flugzeugmodellbau inspiriert: Dünne Schichtholzplatten werden so miteinander verleimt, dass sie ein stabiles Gerüst aus Sitzfläche und Lehne ergeben. Diese Vorgehensweise unterscheidet sich von den bekannten Brettschichtholz-Stühlen, deren Elemente noch vor dem Zusammenbau maschinell in Form gebracht werden. Der Stuhl Houdini ist mit und ohne Armlehne konzipiert, der Sessel Eugene – mit höherer Rückenlehne, breiterer Sitzfläche und schräg nach hinten gestellten Beinen – sieht sich als moderne Interpretation eines klassischen Lounge-Chairs. Verarbeitet werden bei e15 neben Eiche auch europäischer Nussbaum, geschliffener Edelstahl, Kupfer und Messing, Glas, Leder, Stoffe, gekantetes Aluminium und pulverbeschichtetes MDF. Ausgeliefert werden die Möbel mit Echtheitszertifikat und Seriennummer. Die Bilder unten zeigen die Handwerker beim Zusammenbau des erste Prototyps von Houdini.

Auf einem Raummöbel entsteht das Obergeschoss, in dem sich ein Bereich zum gemütlichen Müßiggang befindet – mit exklusivem Blick auf einen Weinberg. Im Bild: Sessel EC03 Eugene (Foto: Piero Borsellino, Noshe)

Gesehen haben wir diese Möbelserie im neuen Bürohaus der «Multidisciplinary Brand Communication» Agentur The Borsellinos in Wallhausen bei Mainz, benannt nach dessen Eigentümern Mone & Piero Borsellino. Aus einer 102 Jahre alten Scheune hat dort der Architekt Philipp Mainzer zusammen mit dem Architekten Fabian Mainzer ein von außen komplett schwarzes Haus geschaffen, als Spannungsverhältnis zum traditionell geprägten städtebaulichen Umfeld. Den Kontrapunkt dazu bilden im Innenraum die in Weiß gehaltenen Flächen (außer der alten Stragstruktur). Ein Raummöbel beherbergt neue Funktionen wie WC, Küche, Schrank und Treppe zu einem zusätzlichen Arbeitsplatz auf der Galerie. In diesem architektonischen Bogen aus einer klaren Architektursprache und dem alten, «ungeraden» Bestand finden die handwerklich gefertigten Sitzmöbel mit ihren formal präzisen Linien von e15 ein gutes Wirkungsumfeld.

Und die Bauherren? Sie sind gleichzeitig Herausgeber des Magazins «Aortica», das den schönen Untertitel „International Magazine About Local Schöpfungskraft And Hardworking Squirrels“ trägt. Darin porträtieren beiden Borsellinos eine Stadt durch die Augen lokaler Kreativer und per ausgedehntem Fragebogen auf knapp 300 Seiten. So ist also ein wahres Bookazine entstanden. Jede Seite ist liebevoll und individuell gestaltet, (fast) kein Raster ist zu erkennen, vom langweiligen Einheitsbrei ist Aortica weit entfernt. Ein bisschen wild, ein bisschen zurückhaltend, zeitlos und unprätentiös kommt diese Melange aus Reise- und Portraitmagazin daher. Freiheitsliebend, freigeistig und mit viel fleißiger «Schöpfungskraft». Die klare, punktgenau Architektursprache ihres neuen Büros bietet da das nötige Zuhause für die Arbeit und den richtigen Raum für Kreativität. Hand auf‘s Herz: Oder hätten Sie sich etwas anderes vorstellen können für die beiden Borsellinos?

Das Bookagazin Aortica No2 handelt von Auckland, Neuseeland.
Die ehemalige Scheune wurde komplett «entkernt» und mit vier Bereichen ausgestattet: Eingang/Schaufenster, Büro, Küche/Toilette und Bibliothek. Im Hintergrund: Stuhl CH04 Houdini (Foto: Piero Borsellino, Noshe)
Lageplan
Grundriss Obergeschoss
Grundriss Erdgeschoss
Längsschnitt
Der Zusammenbau von Houdini: Das Augangsmaterial besteht aus vorgeformten Schichtholzplatten. (Foto: e15) 
Ein Gerüst aus Metall dient als Passform für die Einzelteile. (Foto: e15)
Per Hand werden die Platten um die Sitzfläche gebogen … (Foto: e15)
… und zum Trocknen des Leims fixiert. (Foto: e15)
Heraus kommen: Stuhl CH04 Houdini und Sessel EC03 Eugene. (Foto: e15)
Beide sind in klar, signalweiß, verkehrsgrau und tiefschwarz lackierter Ausführung sowie in Sonderfarben erhältlich. (Foto: e15)
Außerdem sind die Möbel als teil- oder komplett gepolsterte Varianten in ausgewählten Stoffen erhältlich – ein paar Kissen tun es aber auch. (Foto: e15)
Zum Schluss können wir noch verraten: Nicht die gesamte Außenhaut ist schwarz. (Foto: Piero Borsellino, Noshe)
E15 Design und Distributions GmbH
Frankfurt am Main, D

Hersteller-Kompetenz
Stuhl CH04 HOUDINI
Sessel EC03 EUGENE

Projekt
The Borsellinos
Wallhausen, D

Architekt
 
Philipp Mainzer
Office for Architecture and Design
Frankfurt am Main, D
mit:
Fabian Mainzer, Möller Mainzer Architekten
Berlin, D
Bauherr
The Borsellinos
Wallhausen, D
Magazin
www.Aortica.com
Fertigstellung
2011
Fotonachweis
Piero Borsellino, Noshe
E15
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