Vorhang auf

Thomas Geuder
8. Oktober 2013
Die neuen Produktionshallen der Waldi Schuhfabrik in Haßfurt ergänzen bereits bestehende Hallen aus dem Jahr 2000. (Foto: Gerhard Hagen)

Genau genommen entspringt der Begriff «Vorhangfassade» dem überaus technischen Gedanken des Davorhängens, sprich: Die Vorhangfassade muss nichts anderes tragen können als sich selbst und ist für die Standfestigkeit eines Gebäudes herzlich unbedeutend. Ähnlich ist es mit einem textilen Vorhang vor dem Fenster, der ebenso wenige Lasten aufnehmen muss, im Normalfall, und am Ende einfach nur hängen soll. Mit den Gemeinsamkeiten zwischen Vorhang und Vorhangfassade ist es an diesem Punkt bereits wieder vorbei, denn eine Fassade muss heutzutage weit mehr leisten als ein textiler Stoff. Der Allegorie des Vorhangs aber nehmen sich Architekten hin und wieder an und kreieren Vorhangfassaden, die tatsächlich etwas von einem (textilen) Vorhang haben. Ein derzeit berühmtes Beispiel: Die Fassade des neuen Produktionsgebäudes bei Vitra in Weil am Rhein von SANAA aus Tokio, ein sicherlich streitbares Objekt, bei dem eine unregelmäßig wellenförmige Außenhaut aus transluzentem Kunststoff einen runden, dennoch recht normalen Stahlbeton-Produktionsbau schick verkleidet. Was also sind die formalen Kernelemente einer solchen Vorhangfassade? Sie besteht aus einer senkrechten, unregelmäßigen Struktur, die trotz Zwängen aus der Produktion wie zufällig gefallen wirkt und deswegen einem Gebäude eine belebende Dynamik verleiht. Anwendung: Meist bei Gebäudekubaturen, die ohne diese Dynamik zu grob und einsilbig würden.

Ein Großteil der Fassadenfläche beststeht aus senkrecht profilierten, gebäudehohen Blechtafeln. (Foto: Gerhard Hagen)

Ein Blech als Außenhaut eines Gebäudes kann eine gute und sinnvolle Lösung sein. Der Vorteil des Materials neben seiner Langlebigkeit jedenfalls ist, dass es sich vielfältig biegen und auch lochen lässt – so gesehen eine Spielwiese für den Architekten also. Wie man kreativ mit diesem Material umgehen kann, haben wir beim Neubau der Produktionshallen der Waldi Schuhfabrik im unterfränkischen Haßfurt entdeckt. Gemeinsam mit dem Dach- und Fassadenspezialisten Schienbein haben die Architekten von Baurconsult dort eine Sonderlösung entwickelt, die sich elegant in die umgebende Landschaft einfügt und dem besagten Attribut «Vorhang» alle Ehre macht. Die einzelnen Gebäudeteile im Ensemble sind verkleidet mit einer matten, dunklen Blechhaut aus senkrecht gefalteten Profilen mit unterschiedlichen Sickenbreiten und -abständen. Genaues Augenmerk haben die Architekten dabei auf die Fern- und Nahwirkung gerichtet. Trotz der herstellungsbedingten Blechtafelbreite von 1 Meter und der damit verbundenen regelmäßigen Wiederkehr der Faltung sollte dennoch ein variantenreiches Spiel senkrechter Linien entstehen. Nicht zuletzt ging es dabei natürlich auch um das Transportieren der Firmenphilosophie des Bauherren, der mit seiner Marke «Finn Comfort» nach eigener Angabe «Schuhe zum Wohlfühlen» herstellt, und zwar mit einem hohen Qualitätsbewusstsein.

In den vorherigen Bildern vielleicht noch nicht wahrgenommen: Die Fassadenbleche sind unterschiedlich strukturiert. (Foto: Gerhard Hagen)

Spannend wird es – wie sooft – im Detail: Kaum merklich verläuft in Augenhöhe eine Art Band entlang der Fassade, das sich bei genauerem Hinsehen als Perforierung der Blechhaut entpuppt Dahinter verbergen sich: Fensterbänder. Hier arbeiten die Architekten mit einem optischen Trick: Von außen bleibt dadurch die geschlossene Gestalt der Fassade erhalten, von innen aber ist ein (etwas abgedunkeltes) Hinausschauen möglich. Die Arbeiter bleiben vor Blicken geschützt, was ein konzentriertes Arbeiten ermöglicht, und erhalten trotzdem natürliches Licht bzw. den Blick nach draußen. Damit die senkrechte Faltung der Außenhaut jedoch nicht durch horizontale Fugen bzw. Blechstöße gestört wird (besonders im Übergang zwischen geschlossenem und gelochtem Blech), haben Baurconsult und Schienbein eine gebäudehohe Tafel entwickelt, bei der die Lochung in genau der richtigen Höhe in die noch ungelochten Bleche gestanzt wurde. Vor Ort mussten diese dann nur richtig herum eingebaut werden.

Den Gedanken der «Vorhangfassade» haben die Architekten dadurch konsequent weiter gedacht: Ein Gebäude mit einer wie ein textiler Vorhang anmutenden Fassade zu verkleiden, ist die eine Seite der Entwurfsidee. Interessant aber ist, wie mit diesem Vorhang bei Fensteröffnungen umgegangen wird. Möglich wäre zwar, in diesem Bereich ein Loch zu lassen – wer aber mag schon Löcher im Vorhang? Cleverer ist da, die Fassadenhaut im Fensterbereich so auszuformulieren, dass sie durchsichtig wird. Unser Freund Otto Normalarchitekturliebhaber hat uns noch drauf hingewiesen, dass die Blechhaut nicht nur von außen, sondern auch von innen wie ein richtiger Vorhang wirkt. Mehr Vorhang geht also nicht.

Die geschlossenen und die gelöchterten Bereiche bestehen nicht aus zwei Bauteilen, sondern sind fugenlos in einem vereint. (Foto: Baurconsult)
So sieht es von innen aus: Die gelochte Blechfassade wirkt wie ein leichter Vorhang. Hier ein Bild aus der Bauphase. (Foto: Baurconsult)
Lageplan
Grundriss Erdgeschoss mit L-förmigem Bestandsbau links unten.
Ansicht und Schnitt. In der Fassade gut zu sehen: Die Position der Fensterbänder.
Fassadendetails
Wo die Blechfassade geschossen ist, wurde sie ganz normal mit Dämmung hinterfüttert. (Foto: Baurconsult)
Alle Innenräume sind als Kontrast zur Außenansicht einheiltich in hellem Weiß gestaltet, der Boden im Büro in dunkelgraue und schwarz, was die Seriösität der geleisteten Verwaltungsarbeit widerspiegeln soll. (Foto: Gerhard Hagen) 
Demgegenüber folgt das Grün des Bodens in den Produktionshallen der Philosophie der Firma mit den Schlagworten frisch, natürlich, lebendig und aktiv. (Foto: Gerhard Hagen)
Die dem U-förmigen Produktionsablauf folgende Gebäudeform bildet einen Innenhof, der dem Sozial- und Kantinenbereich zugeordnet ist und als Ruhepol dient. (Foto: Gerhard Hagen)
Schienbein GmbH
Dinslaken, D

Hersteller-Kompetenz
Sonderanfertigung Blechfassade
Planung und Ausführung

Projekt
Produktions- und Verwaltungsgebäude Waldi Schuhfabrik «Finn Comfort»
Haßfurt, D

Architektur
Baurconsult
Haßfurt, D
Bauherr
Waldi Schuhfabrik GmbH
Haßfurt, D
Fertigstellung
2013
Fotos
Gerhard Hagen
Projektvorschläge
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