Vertikal mit Schwung

Thomas Geuder
27. Januar 2015
Der nahegelegene Stadtpark und der eindrückliche Baumbestand auf der Hügelkante waren bestimmend für die Materialisierung und die Farbgebung der Fassade. (Foto: AGROB BUCHTAL GmbH / Adriano Faragulo)

Die politische Gemeinde Wil im Kanton St. Gallen – einigen auch als „Äbtestadt“ bekannt, weil hier im „Hof zu Wil“ während mehr als 500 Jahren die St. Galler Fürststäbe residiert haben – liegt auf halbem Weg zwischen St. Gallen und Winterthur. Sein kleinstädtischer Charakter ist geprägt durch einen weitläufigen Stadtweiher unterhalb der Altstadt mit vielfältigem und eindrücklichem Baumbestand. An der nach Süden abfallenden Hangkante des Stadtparks wurden nun die bereits vorhandenen 17 Alterswohnungen durch einen Neubau mit 26 Wohnungen des Alterszentrums Sonnenhof baulich ergänzt. Für ihr Vorhaben wählten die Bauherren einen fast schon malerischen Standort, denn der Baumbestand bildet nach Norden und Osten den begrünten Rückraum für den Neubau, durch die Hanglage hat man eine weitläufige Sicht über die Stadt nach Süden. Den Architekten des Bauvorhabens Michael Meier und Marius Hug aus Zürich war schnell klar, dass die besondere Qualität des Ortes sich auch auf ihren Entwurf auswirken musste.

Auf dem knapp 2400 m² großen Grundstück in Wil sind neben dem bestehenden Alterszentrum mit 17 Wohnungen weitere 26 Wohnungen entstanden. (Foto: AGROB BUCHTAL GmbH / Adriano Faragulo)

Das geschieht zunächst in der Gebäudekubatur, deren Grundfigur in den Außenraum beinahe vorzustoßen scheint und dadurch für die einzelnen Wohnungen mehrseitige Bezüge in mindestens zwei Himmelsrichtungen schafft, immer mit einer Loggia an der äußersten Grundrissspitze. Aus der Topographie des Grundstücks ergibt sich außerdem die Anordnung der Wohnungen in Halbgeschossen. Durch das „Anschrägen“ der Außenmauern im Grundriss erhalten fast alle Wohnungen (mal mehr oder weniger) die Möglichkeit des Blicks nach Süden. So entsteht eine Gebäudeform, die aus den Rahmenbedingungen des Ortes generiert ist und sich zudem von benachbarten Bestandsbauten deutlich absetzt.

Als Fassadenmaterial wählten die Architekten die Keramik, weil sie nachhaltig und als Bekleidung einer Kompaktfassade eine dauerhafte Konstruktion ist. (Foto: Roman Keller)

Prägnant am Entwurf ist neben der formalen Zusammensetzung die Fassade. Auch sie haben die Architekten aus den Qualitäten des Ortes entwickelt. Der Stadtpark und der Baumbestand waren bestimmend für die Materialisierung und die Farbgebung. So ist die Fassade mit Keramikplatten verkleidet, die einen warmen Grünton haben, wodurch sich das Gebäude harmonisch in den Grünraum eingliedern soll. Das reliefartige Profil der Platten, die die Architekten zusammen mit dem Keramikproduzenten Agrob Buchtal entwickelten, ist wellen- bzw. trapezförmig mit zwei Hochpunkten. Das führt zu einem differenzierten Licht-/Schattenspiel und verleiht der Fassade eine Art Plastizität. „Unser Ziel war es, eine feingliedrige, sanft strukturierte Fassade zu entwickeln. Die glänzende Glasur unterstreicht die lebendige Erscheinung und spiegelt die Umgebung auf der Fassade wider“, beschreibt die Projektleiterin Julia Kirsten Eisenhuth.

Durch die zweifache Glasur und den Langzeitbrand im Tunnelofen haben die Keramikplatten einen kräftigen, individuellen Farbton erhalten. (Fotos: Heier Hug Architekten)

Spannend ist auch die Herstellung der Platten im Werk von Agrob Buchtal im Bayerischen Schwarzenfeld: Die noch ungebrannte, feucht-plastische Tonmasse (ca. 60 % Ton, 25 % Schamotte, 15 % Feldspat) wurde mittels eines sogenannten „Mundstücks“ in Form und anschließend in die gewünschte Länge gebracht. Aus Stabilitätsgründen wurden dabei die Platten im Doppelpack mit Zwischenstegen Rücken an Rücken gefertigt, die nach dem Brennen in zwei Einzelplatten gespalten wurden – woher übrigens der Begriff „Spaltplatten“ kommt. Bei der anschließenden Trocknung verringerte sich die Größe des Rohlings um rund fünf Prozent. Die Glasur wird in schließlich zwei Schritten aufgetragen: zunächst flächig ein heller beige-grüner Farbton, dann eingewedelt ein kräftiger grüner Farbton. Beim nun folgenden Langzeit-Brennen (mehr als 36 Stunden) in einem nur noch selten verwendeten Tunnelofen nimmt die Größe um weitere rund fünf Prozent ab. Entstanden sind so Fassadenplatten, die sich jeweils leicht voneinander unterscheiden, in der Gesamtkomposition jedoch ein Ganzes ergeben.

Die über Eck angeordneten Außenräume sind prägendes Element der Wohnungen und entsprechend der Lage mit Fernsicht und Nähe zum Wald. (Foto: AGROB BUCHTAL GmbH / Adriano Faragulo)

Vor Ort wurden die Platten dann auf ein Wärmedämmverbundsystem (Außenwand Ortbeton/Backstein 15 cm, Dämmung 20 cm) geklebt. Hier zeigt sich, wie detailliert geplant werden musste, denn die Platten lassen sich wegen ihrer speziellen Form nicht beliebig zurecht schneiden. Gehrungsschnitte wurden bereits im Werk vorgenommen, was zu einer schnelleren und präzisieren Verarbeitung vor Ort führte. Bleibt am Ende nur eine Frage: Warum nur haben die Architekten hier ein helles Fugenmaterial gewählt, das der Idee einer vertikalen Fassade schlicht entgegenwirkt? Wind und Wetter werden dies wohl baldigst bereinigen.  tg

Lageplan (Quelle: Meier Hug Architekten)
Grundriss Regelgeschoss (Quelle: Meier Hug Architekten)
Grundriss Kellergeschoss mit Eingang von Straße (Quelle: Meier Hug Architekten)
Die dunkle Ausführung zeigt das Produkt im feucht-plastischen Zustand unmittelbar nach der Formgebung, nach der Trocknung (hell) hat sich die Größe um rund 5 % verringert. (Foto: AGROB BUCHTAL GmbH)
Aus Stabilitätsgründen durchlaufen die sogenannten „Spaltplatten“ sämtliche Produktionsschritte stehend „Rücken-an-Rücken“ im Doppelpack. (Foto: AGROB BUCHTAL GmbH)
Die glänzende Oberfläche und das reliefartige Profil erzeugen spannende Licht-Schatten-Effekte und Reflexe auf der Fassade. (Foto: AGROB BUCHTAL GmbH / Adriano Faragulo)
In den Erschließungszonen herrscht eine reduzierte, durchdachte Material- und Formensprache vor. (Foto: Roman Keller)
Die Raumstruktur der Wohnungen sind untereinander verwandt: Vom großzügigen Eingangsbereich gelangen die Bewohner in eine sich in die diagonale entwickelnde Raumgruppe mit Küche, Wohn-, Ess- und gedecktem Aussenraum. (Foto: Roman Keller)

Projekt
Alterswohnungen Sonnenhof
Wil, CH

Architektur
Michael Meier und Marius Hug Architekten AG
Zürich, CH

Projektteam
Marius Hug, Julia Kirsten Eisenhuth, Jürg Riedl, Christiane Illing

Hersteller
Deutsche Steinzeug Cremer & Breuer AG
Alfter-Witterschlick, D

Kompetenz
Projektspezifische Individualanfertigung von Agrob Buchtal im Werk Buchtal in Schwarzenfeld

Bauherr
Genosschenschaft für Alterswohnungen
Baukommission Benignus Beck, Bruno Gähwiler, Hans Osterwald
Wil, CH

Bauleitung zusammen mit
Architektur De Lazzer GmbH
Arbon, CH

Bauingenieur
Kielholz + Partner AG
Wil, CH

Elektroplanung
Zweifel AG
Wil, CH

Haustechnik-/Sanitärplanung
CALOREX Widmer & Partner AG
Wil, CH

Bauphysik
BWS Bauphysik AG
Winterthur, CH

Landschaftsarchitektur
Schmid Landschaftsarchitekten
Zürich, CH

Konstenplanung/Ausschreibung
Othmar Brügger Architekt HTL SIA
Davos Platz, CH

Fertigstellung
2014

Fotografie
Adriano Faragulo
Roman Keller
Meier Hug
Agrob Buchtal


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