Licht, Ruhe und Wein

Thomas Geuder
17. März 2015
Architektonisch lebt das neue IHK-Gebäude vom Thema der vermittelnden Fuge in den ersten beiden Geschossen mit dem darüber schwebenden Kubus, der nach vorne zur Straße auskragt. (Foto: Brigida González / nimbus group)

Die Stuttgarter Innenstadt ist seit einigen Jahren geprägt durch zahlreiche kleine und große Baustellen. Neben Shopping-Malls und Bürogebäuden ist die bekannteste unter ihnen natürlich: der Tiefbahnhof von Stuttgart 21, dessen Baustelle den Stuttgartern wohl noch eine Weile erhalten bleiben dürfte. Umso größer ist die Freude, wenn sich wieder einmal eines der innerstädtischen Bauprojekte dem Ende neigt. So geschehen mit dem vor Kurzem fertiggestellten Neubau der IHK-Zentrale an der Jägerstraßen, nur einen Steinwurf vom Hauptbahnhof entfernt. Für diesen Ort zu planen, war gewiss kein Kinderspiel, denn hier kommen einige städtebauliche Parameter zusammen. Nur kurz angerissen: Das Baugrundstück befindet sich an der Schnittstelle zwischen dem Stuttgarter Talkesselgrund (mit Hbf) und dem letzten verbliebenen Weinberg, den man sogar vom Bahnhof aus sehen kann – eine städtische Besonderheit mit hohem Identifikations- und Erinnerungswert sowie der Grund dafür, dass die Gebäude unmittelbar vor dem Weinberg in den 1950er-Jahren quer zu Jägerstraße und Weinberg gebaut wurden. Der Blick auf die Reben sollte eben frei bleiben. Was damals als gut empfunden wurde, hat sich für den städtischen Raum als schwierig herausgestellt, der hier ausgefranst und konturlos erscheint.

Blick von eigenen Weinberg aus: Das Grundstück samt Weinberg hat die IHK ursprünglich 1938 von dem schwäbischen Adeligen Karl Moser von Filseck erworben und errichtete dort in den 1950er-Jahren das (nun ehemalige) IHK-Haus. (Foto: Brigida González / nimbus group)

Um der Stadt hier wieder eine klare Raumkante zu geben, haben die Planer von Wulf Architekten aus Stuttgart dem neuen IHK-Gebäude – an gleicher Stelle wie der dafür abgebrochene Vorgängerbau von Rolf Gutbier und Rolf Gutbrod aus den 1950er-Jahren – eine parallel zur Jägerstraße verlaufende Hauptfassade gegeben, was die Architekten gleichsam als städtebaulicher Auftakt für zukünftige Planungen im Quartier sehen. Die architektonische Idee der Gebäudekubatur lässt dabei zahlreiche Bezüge quer zum Gebäude zu, um den Stadtraum mit dem reizvollen Weinberg zumindest optisch zu verbinden. So ist die Blickachse zum hoch oben schwebenden Weinberghäuschen, das als charmanter Point de Vue wahrgenommen wird, nun wieder freigeräumt. Der IHK-eigene Weinberg, der im Zuge der Baumaßnahmen sogar um rund 2000 m² auf jetzt 9000 m² vergrößert werden konnte, scheint sich jetzt quasi ins Gebäude zu verlaufen. Die beiden Sockelgeschosse, die vom Straßenraum zurückspringen und so einen kleinen Vorplatz mit Aufenthaltsqualität bilden, durchschießt eine Natursteinwand aus demselben Material wie die Weinbergmauern, quasi als unterster Abschluss. So erzeugen die Architekten die Imagination, die neue IHK-Zentrale säße zur Hälfte mitten im eigenen Weinberg. Blickbezüge durch das Gebäude – die freilich im früheren Planungsstadium, als die Überdachung des Foyers noch transparenter war, noch besser funktioniert haben – lassen den Stadtraum zumindest gefühlt hindurch fließen.

Das Foyer entwickelt sich stufenweise nach oben, begleitet von einer repräsentativen Treppenanlage und einer zentralen Lichtführung über 15 Lichtkuppeln. (Foto: Brigida González / nimbus group)

Der Baukörper bildet letztendlich eine U-Form, die sich zum Weinberg öffnet. Die Fassade zitiert mit ihren markanten Lisenen aus dünnen Muschelkalkplatten ein in Stuttgart bei öffentlichen Gebäuden gerne und häufig verwendetes Material. Zusammen mit den simsartig hervorspringenden Geschossdecken verleihen sie der Fassade eine plastische Rhythmisierung, bei dem das Gebäude je nach Blickwinkel geschlossen oder offen wirkt. Alle Geschosse sind raumhoch verglast, was den Dialog des Innenraums mit dem Umfeld noch verstärkt. Nicht zuletzt ist so der Weinberg nahezu überall im Gebäude omnipräsent.

Das Gebäude verfügt über eine Bruttogeschossfläche von 17 900 Quadratmetern und eine Nutzfläche von 7 800 Quadratmetern. An Veranstaltungsflächen stehen 2 700 Quadratmeter zur Verfügung. (Foto: Brigida González / nimbus group)

So haben die rund 250 Mitarbeiter stets viel natürliches Licht am Arbeitsplatz. „Emotionales Wohlbefinden entsteht in der Arbeitswelt gerade durch Transparenz und ausreichend Tageslicht“, erklärt Kai Bierich, geschäftsführender Gesellschafter bei wulf architekten. Um dieses Wohlbefinden auch konstant zu halten, sind die über 800 LED-Leuchten (nimbus) so gesteuert, dass sie sich dem Tageslicht automatisch anpassen und so ganztägig ein konstantes Helligkeitsniveau gewährleistet ist. Für die verschiedenen Raumsituationen haben die Architekten die jeweils passende Leuchtenform gewählt: Quadratische Leuchten in den öffentlichen Bereichen, große und runde Leuchten in der Cafeteria sowie Langfeldleuchten in den Großraumbüros.

«Unser Anspruch war es, ein Gebäude zu errichten, in dem sich die Menschen bei allem, was sie tun, möglichst wohlfühlen», erläutert Kai Bierich, geschäftsführender Gesellschafter bei wulf architekten. (Foto: Brigida González / nimbus group)

Besonders in diesen Großraumbüros war auch der richtige Umgang mit der Akustik ein zentrales Thema. So befinden sich an der Decke Akustik-Baffeln, die nicht nur den Raum optisch stark charakterisieren, sondern auch die Sichtbetondecken größtenteils frei halten, die betonkernaktiviert zur Heizung und Kühlung dienen. Für die Schallabsorption unmittelbar dort, wo er entsteht, sorgen die farbigen Raumgliederungssysteme TP30 Knit sowie das transparente, microperforierte CP30 von rosso (ebenfalls nimbus-group). „Die gewählten Farben der Paneele in den Büros korrespondieren mit dem präsenten und farbkräftigen Wegleitsystem“, erklärt Sonja Schmucker, leitende Architektin des Projekts. „Dieses Konzept führt zu einem harmonischen, aber farbfrohen Gesamtbild.“ So ist sogar vorstellbar, dass sich die Mitarbeiter der IHK zukünftig räumlich selbst organisieren, ganz zu und nach ihrem emotionalen Wohlbefinden. Und das ist schließlich einer der wichtigsten Punkte im heutigen Bürobau – nicht nur im Schwabenland.

Mitarbeiter mit Kindern können bei kurzfristigem Wegfall der Kinderbetreuung ein Eltern-Kind-Büro nutzen. Neben einem komplett ausgestatteten Arbeitsplatz finden sich dort Spielsachen und eine Wickelgelegenheit. (Foto: Brigida González / nimbus group)
Ideenskizzen (Quelle: wulf architekten)
Lageplan, mit Planungsvorschlag für das Quartier (Quelle: wulf architekten)
Grundrisse 3., 4. und 5. Obergeschoss (Quelle: wulf architekten)
Grundriss Erdgeschoss, 1. und 2. Obergeschoss (Quelle: wulf architekten)
Schnitt quer zur Jägerstraße (Quelle: wulf architekten)
Rossoacoustic ist ein flexibles Baukastensystem, in dem durch spezielle Beschläge die farbigen Rossoacoustic TP30 Paneele und die lichtdurchlässigen Rossoacoustic CP30 Paneele miteinander kombiniert werden können. (Foto: nimbus group)
Typisch für die nimbus-Leuchten, die auch bei der IHK eingebaut sind: der schmale und elegante Aufbau und das reduzierte Design. (Foto: nimbus group)
Den über 100.000 Besuchern steht ein 2700 Quadratmeter großer Veranstaltungsbereich mit 30 Konferenz- oder Seminarräumen und drei großen Sälen zur Verfügung. Im Bild: Die Cafeteria. (Foto: Brigida González / nimbus group)
Ein unverbauter Blick aus dem Fenster auf den IHK-eigenen Weinberg ist Teil des im Gebäude gepalnten emotionalen Wohlbefindens. (Foto: Brigida González / nimbus group)
Just zur gleichen Zeit, als dieser Artikel verfasst wird, wird der ehemalige Sitz der Stuttgarter IHK von Hans Volkart aus dem Jahr 1956 – ein typisches Kind seiner Zeit, dem 2010 der Status als Denkmal aberkannt wurde – abgerissen. (Foto: Der Raumjournalist Thomas Geuder)
Projekt
Zentrale der Industrie- und Handelskammer
Stuttgart, D

Architektur
wulf architekten
Stuttgart, D

Projektleiterin: Sonja Schmuker
Bauleitung: Ewald Stüdlein, Roland Alber, Björn Berg
Projektteam: Nicole Ehni, Philip Furtwängler, Victor Gross, Fabian Geiger, Axel Mannhorst, Sebastian Stocker

Hersteller
nimbus group GmbH
Stuttgart, D

Kompetenz
Modul L 112, L 196
Modul Q 100, Q 144
Modul R 120 XL, R 460 XL
Rossoacoustic TO30 Knit
Rossoacoustic CP30

Bauherr
IHK Region Stuttgart
Stuttgart, D

Trangwerksplanung
Boll und Partner. Beratende Ingenieure VBI
Stuttgart, D

Prüfstatik
Werner Sobek Group GmbH
Stuttgart, D

HLS-Planung und Bauphysik
EGS-plan Ingenieurgesellschaft für Energie-, Gebäude- und Solartechnik mbH
Stuttgart, D

Elektroplanung
ibb Burrer & Deuring Ingenieurbüro GmbH
Ludwigsburg, D

SiGeKo
Dekra Umwelt GmbH
Stuttgart, D

Landschaftsplanung
Jetter Landschaftsarchitekten
Stuttgart, D

Orientierungssystem
büro uebele visuelle kommunikation
Stuttgart, D

Wettbewerb
2. Preis 2009
1. Rang nach Überarbeitung

Projektmanagement
Drees & Sommer
Stuttgart, D

Fertigstellung
2014

Fotografie
Brigida González
nimbus group
 

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