Kipp und Hub

Thomas Geuder
28. Oktober 2014
Der Bestandsbau des Löwenbräu-Areals wurde in den letzten Jahren sukzessive ergänzt durch ein Kunstzentrum (hinten), ein Bürogebäude (vorne) und ein Wohnhochaus (Mitte). (Foto: Thies Wachter)

Mit dem Namen «Löwenbräu» verbinden einige freilich ein alkoholisches Kaltgetränk, das in Deutschland aus München kommt und in der Schweiz unter diesem Namen schon seit mehr als 20 Jahren leider nicht mehr erhältlich ist. Speziell in Zürich aber steht das «Löwenbräu-Areal» seit Mitte der 1990er-Jahre vor allem für die Kunst, genauer gesagt: für ein Zentrum zeitgenössischer Kunst mit großer, internationaler Ausstrahlung. Nachdem das Löwenbräu-Areal seit Ende der 1980er-Jahre leer stand, hat sich hier an der Limmat unweit des Stadtzentrums im Jahr 1996 ein Verbund von öffentlichen und privaten Kunstinstitutionen und kommerziellen Galerien niedergelassen. Seit 2010 wird das Areal mit seinen zwischenzeitlich unter Denkmalschutz gestellten Gebäuden umfassend ergänzt, umgebaut und ersetzt durch weiteren Raum für die Kunst, ein Bürogebäude und ein Wohnhochhaus (Planungsbeginn für das Areal war bereits 2005). Wichtig für die Identität des ehemaligen Industriequartiers war dabei allen Beteiligten der Erhalt der bestehenden Bausubstanz und die damit verbundene angemessene Reaktion der Ergänzungen auf diesen historischen Bestand.

Durch die Ergänzung des Gebäudebestandes mit Neubauten entsteht auf selbstverständliche Art eine neue städtebauliche Einheit mit dem Wohnhochhaus Mitte als die Silhouette prägende Figur. (Foto: Thies Wachter)

Die drei Neubauten planten die Architekten von Gigon / Guyer und Atelier WW aus Zürich so, dass sie die langgestreckten Altbauten mit dem Brauereigebäude an der Limmatstraße durch die Aufstockung des Kunstraums im Westen und den höheren Kopfbau des Büroneubaus im Osten am Bahnviadukt einfassen. In der Mitte erhebt sich ein 22 Stockwerke hohes Wohngebäude, das nach Süden mit einer großzügigen Auskragung versehen ist, die sich wie eine schützende Hand teilweise über den Bestandsbau zu legen scheint. In Anlehnung an die farbigen Ziegelsteine der Altbauten sind die Fassaden der Neubauten Mitte und Ost mit konvex bzw. konkav profilierter Fassadenkeramik versehen, die schwarz und rot glasiert ist. Die Fassade des Neubaus West besteht aus weißem Beton, versehen mit einer Innendämmung.

Großformatige Kipp-Hub-Fenster, die elektronisch gesteuert an die Decke gleiten, öffnen den Wohnraum zum Außenraum und ersetzen Balkone und Loggien. (Foto: Thies Wachter)

Aus einem winkelförmigen Sockelbau heraus, der zusammen mit dem roten Bürogebäude und dem Bestandsbau den historischen Brauereihof einfasst, entwickelt sich das Wohnhochhaus bis zu einer Höhe von 70 Metern. In den zwischen 98 und 320 m² großen Wohnungen hat man hier oben einen besonderen Ausblick auf die Stadt, den Zürichsee, das Limmattal und (bei gutem Wetter) die Alpen. Damit dieser Blick so ungetrübt wie möglich ist, haben sich die Fassadenbauer von Gartner aus Gundelfingen und die Architekten hier eine Besonderheit einfallen lassen: Im Wohnturm befinden sich – neben den doppelten Aluminiumfenstern als Kastenfenster mit vertikalen Lüftungsflügeln – 85 spezielle für das Löwenbräu-Areal entwickelte, motorisch betriebene Kipp-Hub-Fenster mit integriertem Sonnenschutz. Die bis zu 2,60 x 2,10 m großen Fenster wiegen bis zu 450 kg. In den Betondecken sind Führungsschienen integriert, in denen die Fenster beim Öffnen an der Wohnungsdecke entlang gleiten. Die gesamte Antriebs- und Steuerungstechnik, die auf einen einzigen Motor als Stirnradantrieb minimiert wurde, befindet sich zwischen Fenster und Glasballustrade.

Mittels in den Betondecken integrierten Führungsschienen gleiten die Fenster beim Öffnen an der Wohnungsdecke entlang. Während der warmen Jahreszeit lässt sich der Innenraum so in einen Außenraum verwandeln. (Foto: Thies Wachter)

Die Innenverglasung der Verbundfenster und der Kipp-Hub-Fenster besteht aus der absturzsichernden 3-fachen Isolierverglasung GEWE-therm® multi von Schollglas mit einem g-Wert von 48 % und einem U-Wert von 0,6 W/m², die für angenehme Klimaverhältnisse im Gebäude  sowie Schall- und Einbruchssicherheit sorgen sollen und außerdem ein zentraler Baustein sowohl im Hinblick auf die Anforderungen von EnEV als auch dem Schweizer Qualitätsstandard MINERGIE sind. Ein spezieller 4SG-Randverbund vermindert die Kondensatbildung und reduziert dadurch die Gefahr von Schimmelpilzbildung. An der Brüstung des Kipp-Hub-Fensters sind Glasgeländer mit einem Aufbau von 2 x 10 mm VSG aus TVG, um bei geöffnetem Fenster die Brüstungshöhe zu gewährleisten. Die Bewohner können durch diese spezielle Konstruktion ihren Innenraum großzügig öffnen und ihn so während der warmen Jahreszeit zu einer Art temporärem Außenraum mit Weitblick machen. Wer braucht da noch einen außen angehängten Balkon! tg

Die wellenartige Struktur der Fassade (hier das Bürogebäude), ihr Materialglanz sowie die bündig angeordneten Fenster verstehen die Architekten als Verankerung der Architektur in der Gegenwart. (Foto: Thies Wachter)
Alt und Neu werden architektonisch verschränkt und ergänzen sich so zu einem abgeschlossenen Gesamtensemble Beispiel. Unten: Die Entwurfsidee am Beispiel des Neubaus Kunstzentrum. (Bild: Gigon / Guyer und Ateliert WW)
Lageplan (Quelle: Gigon / Guyer und Ateliert WW)
Beispielgrundriss Wohnturm mit 4 Wohnungen (Quelle: Gigon / Guyer und Ateliert WW)
Grundriss Erdgeschoss (Quelle: Gigon / Guyer und Ateliert WW)
Fassadendetail Schnitte und Ansicht Wohnhochhaus (Quelle: Gigon / Guyer und Ateliert WW)
Die 577 Fenster am Wohnturm haben eine Gesamtfläche von 3.800 m², die 333 Fenster am Bürogebäude eine Gesamtfläche von 2.200 m². Hier gut zu erkennen: Die Kipp-Hub-Fenter ohne vertikale Lüftungsklappe. (Foto: Andreas Lechtape / Schollglas)

Projekt
Löwenbräu-Areal
Zürich, CH

Architekten
Arge Löwenbräuareal
Gigon / Guyer Architects und Atelier WW
Zürich, CH

Hersteller
Schollglas GmbH
Barsinghausen, D

Kompetenz
Wärmedämmgläser GEWE-therm® multi
im Bürogebäude und Wohnhochhaus

Fassadenbauer
Josef Gartner GmbH
Gundelfinden, D

Bauherr
PSP Properties AG
Zürich, CH

Fassadenplaner
gkp fassadentechnik ag
Aadorf, CH

Fassadenkeramik
NBK Keramik GmbH
Emmerich am Rhein, D

Auftraggeber und Bauleitung
Steiner AG, Total- und Generalunternehmer
Zürich, CH

Landschaftsarchitekten
Schweingruber Zulauf Landschaftsarchitekten
Zürich, CH

Statiker
Arge Dr. Lüchinger + Meyer Bauingenieure AG
Zürich, CH
Henauer Gugler AG
Zürich, CH

Bauphysiker
braune roth ag
Binz, CH

Fertigstellung
Löwenbräukunst (White) 2012
Bürogebäude (Red) 2013
Wohnhochhaus (Black) 2014

Fotografie
Thies Wachter
Andreas Lechtape


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