Die architektonische Sprache der Kunst

Thomas Geuder
24. März 2015
Bild vom Weinberg aus: Das Klinikum ist in die Wiesenlandschaften des Zipfelbachs und die sanften Hügel der angrenzenden Weinberge eingebettet. (Bild: Rems-Murr-Kliniken gGmbH)

Die Stadt Winnenden liegt rund 20 km nordöstlich von Stuttgart, besitzt weniger als 30.000 Einwohner und ist Teil einer naturnahen Region, in der der Weinanbau eine wichtige Rolle spielt. Mitte 2014 entstand hier das neue Rems-Murr-Klinikum Winnenden, das die ehemaligen Krankenhäuser in Backnang und Waiblingen (beide rund 8 km von Waiblingen entfernt) vereint und im Verbund mit der Rems-Murr-Klinik in Schorndorf (rund 20 km entfernt) für die medizinische Versorgung von etwa 400.000 Bewohnern verantwortlich ist. Die Fassaden des Gebäudekomplexes aus insgesamt fünf Pavillons, von denen drei mit einem Sockelbau verbunden sind, sind geprägt von Farben der Umgebung, den bewaldeten Hügeln, den grünen Wiesen und dem orangefarbenen Laub. Aus diesen Inspirationsquellen haben die Architekten von Hascher Jehle Architektur (Berlin) aus den umliegenden Landschaften die drei Farben Gelb, Grün und Orange herausgefiltert und in ihren Fassaden-Entwurf integriert. So sind die Sonnenschutz-Schiebeläden entsprechend dieser Farbskala eingefärbt und erzeugen dadurch eine Building Identity, die die Identifikation der Menschen mit ihrer Klinik fördern soll.

Der Gebäudekomplex soll durch die Gliederung in Sockel- und Obergeschosse sowie in einzelne drei- bis fünfgeschossige Häuser eine Kleinteiligkeit im menschlichen Maßstab erhalten. (Bild: Svenja Bockhop)

Die geschosshohen, 1,25 m breiten Sonnenschutz-Elemente bestehen aus eloxiertem Streckmetall und sind der Hauptfassade vorgelagert. In dem dreiläufigen System ist jedes dritte Element unbeweglich und markiert die Parkposition der Schiebeläden. Abhängig von Sonnenstand, Wetter, Tageszeit und letztendlich individuellen Vorlieben der Patienten verändert sich auch das Fassadenbild: Bei geschlossenen oder leicht geöffneten Läden entsteht durch die Tiefenstaffelung (das komplette Fassadensystem ist immerhin einen Meter tief) ein lebendiges Schattenspiel. Befinden sich die Läden in der Parkposition hinter den feststehenden Elementen, erhält die sonst eher horizontal gegliederte Fassade eine vertikale Komponente.

Das innere Erschließungssystem basiert auf ringförmig organisierten Fluren, die über ein lineares Gangsystem miteinander verbunden sind. (Bild: Svenja Bockhop)

Die drei per Sockelgeschoss verbundenen Pavillons sind U-förmig angeordnet. In ihrer Mitte und zusammen mit den beiden separaten Pavillons (Klinikverwaltung und Ärztehaus) entsteht so eine langgestreckte Platzanlage, die das Herz des Quartiers ähnlich einer Piazza bildet, mit Bänken, Wasserflächen, Grünstreifen und Bäumen, die fließend in den natürlichen Landschaftsraum übergeht. Hier im Süden des Gebäudes befindet sich auch der Eingang für die Besucher mit einer großzügigen, zweigeschossigen Eingangshalle, die sich mit großflächiger Verglasung zum Platz öffnet. Organisatorisch davon getrennt befindet sich der Eingang für die Mitarbeiter und Rettungswagen im Norden. Im Inneren ist der Komplex kammartig strukturiert, mit einer zentralen Magistrale, die eine Ost-West-Achse bildet und gleichzeitig Schnittstelle zwischen dem öffentlichen Besucher- und Patientenbereich im Süden und den operativen, klinikinternen Bereichen im Norden ist. Entlang dieser Magistrale befindet sich eine Raumschicht aus Wartezimmern, Anmeldungen, Nebenräumen und Erschließungskernen.

Ein 180 Meter langes Wandbild empfängt den Besucher bei dem Betreten des Hauses und unterstützt die räumliche Präsenz der zweigeschossigen Magistrale. (Bild: Burghard Müller-Dannhausen)

Die Nordseite diese Magistrale wird geschmückt von einem 180 m langen und zwei Geschosse hohen Werk des Künstlers Burghard Müller-Dannhausen aus Koblenz, dessen Konzept in einem offenen Kunst-am-Bau-Wettbewerb von einer Jury ausgewählt wurde. Er arbeitet mit dem Medium Farbe als gemeinsamem Nenner von Architektur und Kunst sowie mit dem Motiv des Weges als Prozess, als Heilungs- oder Bewusstseinsprozess. Burghard Müller-Dannhausen fächert den Farben-Dreiklang der Fassade auf in 3 x 15 Farbtöne, die die Grundfarben orchestrieren, durch behutsame Differenzierungen wie auch komplementäre Spannungen. Schmale, strichartige Flächen und vertikale oder schräge Rechecke und Trapeze ergeben ein abstraktes, lebendiges Bild und erzeugen den Eindruck eines Vorhangs in Bewegung oder von Gras und Schilf im Wald. Die Geometrie schafft eine Neutralität und einen spannungsreichen Rhythmus. Diese Kombination transportiert Werte wie das Frische, Lebendige, Heitere und Positive, und das auf zwei Ebenen: «Den Menschen, die täglich und zahlreich die Magistrale hin- und hergehen, gibt sie positive Signale und verändert das Erleben des Raumes. Den Menschen, die die Farbwand als Gemälde betrachten, öffnet sie eine Tiefe und in diesem Fall eine epische Dimension», so der Künstler.

Der Künstler bei der Arbeit: Die Entscheidung für die strengen Geometrien gründet auf der Vermeidung jeglicher geschwungener Linien und organischer Formen, die pathologische Assoziationen hervorrufen könnten. (Bild: Burghard Müller-Dannhausen)

Burghard Müller-Dannhausen arbeitete an der Farbwand von September 2013 bis Februar 2014. Alle Arbeiten hat er mit der Hand ausgeführt, inklusive der Vorbereitung der Wandflächen (Glättung und Reparatur von Unebenheiten, Abdeckung und Kanten an Türen, Aufzügen etc.). Die Wände wurden in zwei Schichten grundiert (Lascaux Uni-Primer), dann die Ränder der Farbflächen markiert und schließlich die Farbschichten aufgetragen (Lascaux Artist). Bemerkenswert ist, dass Burghard Müller-Dannhausen dabei keine Hilfsmittel wie etwa Abdeckband verwendet, sondern alles freihand gemalt hat. Am Ende besteht das 180 m lange Kunstwerk aus vier Farbschichten und zwei Klarlack-Schichten – und einer ungeahnten Menge an Schweiß und Ausdauer.   tg

Drei Grüntöne bestimmen das Fassadenbild. Sie sind in einem willkürlichen, unregelmäßigen Wechsel angeordnet und werden durch die punktuelle Anordnung orangefarbener Felder rhythmisiert. (Bild: Burghard Müller-Dannhausen)
Lageplan (Quelle: HASCHER JEHLE Architektur)
Grundriss Pavillongeschosse (Quelle: HASCHER JEHLE Architektur)
Grundriss 2. Obergeschoss (Quelle: HASCHER JEHLE Architektur)
Grundriss Erdgeschoss (Quelle: HASCHER JEHLE Architektur)
Die Farbwand setzt Architektur und Malerei in einen Dialog. Der Künstler greift dabei das Konzept der Architekten auf, verstärkt es und stellt so eine Beziehung zwischen Raum und Mensch her. (Bild: Burghard Müller-Dannhausen)
Schmale, strichartige Flächen und vertikale oder schräge Rechtecke und Trapeze in je fünfzehn Farbtönen der Grundfarben ergeben ein abstraktes, lebendiges Bild. (Bild: Burghard Müller-Dannhausen)
Während das Außenbild der Fassaden von dem Wechselspiel der Farben Gelb, Grün und Orange geprägt wird, wurde bei der Innenraumgestaltung je eine der drei Farben einem Pavillon zugeordnet. (Bild: Rainer Hascher)
Das dunkel erscheinende Sockelgeschoss setzt sich mit seinen raumhohen transparenten oder opaken Verglasungen von den farbigen Obergeschossen ab. (Bild: Svenja Bockhop)

Projekt
Rems-Murr-Kliniken
Winnenden, D

Architektur
HASCHER-JEHLE Architektur
Berlin, D

Arge mit
Monnerjan Kast Walter
Düsseldorf, D

Wettbewerbsteam: Johannes Raible, Hendrik Hucksdorf, Ulf Müller
Projektleitung: Jens-Peter Riepen
Mitarbeiter: Anna Busiakiewicz, Andreas Dalhoff, Thomas Emslan der, Anja Haferkorn,Dietmar Husmann, Frank Jödicke, Matthias Könsgen, Chan Ik Park, Seraphin Peters, Nadine Sawade, Dennis A. Schmidt

Künstler
Burghard Müller-Dannhausen
Koblenz, D

Bauherr
Rems-Murr-Kliniken GmbH
Winnenden, D

Bauleitung
Schütt Ingenieurbau
Münster, D

Landschaftsarchitekten
Hutter Reimann + Freianlaen.de
Berlin, D

Fassadenberatung
Priedemann Fassadenberatung
Großbeeren, D

Lichtplanung
Kunst-Licht Edgar Schlaefle
Berlin, D

Statik
Leonhardt, Andrä und Partner mit Boll und Partner
Stuttgart, D

Heizung- und Lüftungsplanung
Rentschler und Riedesser Ingenieur GmbH
Filderstadt, D

Elektroplanung
Ingenieurgesellschaft Wetzstein
Herrenberg, D

Bauphysik
Graner + Partner
Bergisch Gladbach, D

Schallschutz
Dr. Riedel
Ehrenfriedersdorf, D

Wettbewerb
2006

Fertigstellung
2014

Fotografie
Rainer Hascher
Svenja Bockhop
Burghard Müller-Dannhausen
Rems-Murr-Kliniken


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