Aktiv und passiv

Thomas Geuder
7. Oktober 2014
Das neue Forschungshaus von Werner Sobek in der denkmalgeschützten Weißenhofsiedlung in Stuttgart will ein Zeichen für zukünftiges, nachhaltiges Bauen setzen. (Foto: Zooey Braun)

Abseits der bereits gebauten Realität sind Neubauten im Niedrigenergie-, Passiv-, Nullenergie- oder Plusenergiehausstandard fast schon die gebaute Normalität. Technologisch jedenfalls ist heutzutage einiges möglich, was vor wenigen Jahren noch wenig greifbar und noch weniger bezahlbar war. Wie in vielen anderen Bereichen hat auch im Bauwesen die Digitalisierung zu einem enormen Fortschritt geführt, hin zu einer Vernetzung all der Komponenten, die letztendlich vor allem die Haustechnik ausmachen. Moderne Anlagen nutzen dieses «Smart Grid», um die Energieströme im Gebäude so zu steuern, dass sie bedarfsgerecht und gezielt eingesetzt werden können. Sie tun also mehr, als einen bloßen Energieüberschuss zu generieren, auch wenn der durch erneuerbare Energie erzeugt ist. Werner Sobek – bekanntermaßen Spezialist auf dem Gebiet der Architektur und Gebäudetechnologie – hat dafür einen einprägsamen Begriff kreiert: Das «Aktivhaus» ist Gebäude, bei dem nicht die bloße Überschussmaximierung im Vordergrund steht, sondern das mit dem Nutzer interagiert und den Verbrauch intelligent steuert. Ziel ist unter anderem die Entlastung des öffentlichen Netzes durch eine vorausschauende Platzierung von Stomüberschüssen vor Ort, gerne auch nach dem «Prinzip der Schwesterlichkeit», also im Verbund mit anderen Gebäuden aus der Nachbarschaft, die (energetisch gesehen) schwächer aufgestellt sind. Ein «aktiver» Umgang mit sämtlichen Energieströmen im und am Gebäude also. Werner Sobek spricht in diesem Zusammenhang gerne von dem von ihm entwickelten «Triple Zero Konzept»: Das Gebäude soll nicht nur höchsten Ansprüchen an Ästhetik und Nutzerkomfort entsprechen, sondern auch mehr Energie erzeugen als es selbst benötigt (zero energy), keinerlei Emissionen erzeugen (zero emissions) und vollständig in den Stoffkreislauf rückführbar sein (zero waste).

Die Westfassade des B10 mit einer Vakuum-Isolierverglasung bildet heruntergeklappt eine Terrasse sowie den Zugang zum Gebäude. Der Zugangsbereich ist auch mit den zum Gebäude gehörenden Elektro-Smarts befahrbar. (Foto: Zooey Braun)

Umgesetzt hat er das in seinem Haus «B10» inmitten der Weißenhofsiedlung, jenes Stuttgarter Stadtteils, der 1927 vom Deutschen Werkbund unter der Leitung von Ludwig Mies van der Rohe von führenden Vertretern des (damals sogenannten) Neuen Bauens errichtet wurde. Eine seit dem Zweiten Weltkrieg dort bestehende Baulücke, auf dem sich bis zur Zerstörung durch Bomben der architektonische Beitrag von Richard Döcker befand, wurde vom Gemeinderat temporär für ein experimentelles Forschungsgebäude zur Verfügung gestellt. Städtebaulich wie architektonisch keine leichte Umgebung also, schließlich befinden sie hier zahlreiche, denkmalgeschützte Zeugnisse moderner Architektur berühmter Architekten wie Le Corbusier, Walter Gropius oder Bruno Taut. Doch der Anspruch ist ein ähnlicher. Beide haben den Charakter eines Forschungs- wie Modellvorhabens: Sie wollen aufzeigen, wie innovative Materialien, Konstruktionen und Technologien unsere gebaute Umwelt nachhaltig verbessern können.

Gespräche am Tag der Eröffnung: Die technischen Anlagen sind kompakt angeordnet und verschwinden elegant hinter der Holzverkleidung. (Foto: René Müller)

Werner Sobek antwortet bei seinem Projekt B10 mit einem Konzept aus zahlreichen städtebaulichen, architektonischen und technologischen Parametern, die allesamt eng miteinander verknüpft sind. Grundlage seines Energiemanagements ist ein komplexes Smart Grid im Gebäude, das sämtliche Verbraucher und Erzeuger miteinander verbindet. Neu ist, dass es kein starres System ist, sondern aus dem Verhalten des Verbrauchers lernt und beide sich so optimal aufeinander einspielen können. Zu dem System gehören: Heizen, Kühlen, Nachtauskühlung, mechanische Lüftung, optimierte natürliche Lüftung, Photovoltaik-Solarthermie-Anlage, Eisspeicher, Hydraulikmatrix und Hausbatterie. Und natürlich gehören zu einer derart aktiven Gebäudeautomation auch einige passive Komponenten, die eine wichtige Grundlage für das Funktionieren bilden, wie etwa das bei diesem Projekt erstmals in dieser Größe eingesetzte Vakuumglas an der Straßenfront sowie die Wärmedämmung an den drei geschlossenen Wänden, um die Wärmeverluste so gering wie möglich zu halten. Die Wände bestehen aus einer Holzständerkonstruktion, die mit einer 16 cm dicken Wärmedämmung im Zwischenraum versehen ist.

Um die Wärmeverluste so gering wie möglich zu halten ist der Baukörper nach drei Seiten hin vollständig geschlossen. Die prognostizierte durchschnittliche Jahresstromproduktion der PVT-Anlage auf dem Dach beträgt rund 8.300 kWh. (Foto: Zooey Braun)

Teil des Gesamtkonzepts ist auch, dass das Gebäude problemlos nachträglich verändert, versetzt und vollständig recycelt werden kann. Dafür ist es wichtig, dass alle eingesetzten Materialien nach dem Abbau wieder sortenrein getrennt werden können. So ist die Fassade mit einer FACID-Textilfassade bespannt, ein silikonbeschichtetes Glasfasergewebe. Dieses wird per patentierter «Tuchhaltertechnik» in Aluminiumprofile eingespannt, ohne Hohlsäume oder einer anderen aufwändigen Konfektionierung. Die reversiblen Tuchhalter werden einfach auf das zugeschnittene Gewebe aufgeklemmt und anschließend im Spannkanal des Profils eingerastet. Das Gewebe mit schmutzabweisender Beschichtung hat eine sehr gute UV-Beständigkeit, entspricht der Brandschutzklasse B1 und kann – ganz im Sinne eines nachhaltigen Bauens – wiederverwendet werden. Es besitzt sogar eine gewisse Transparenz, die beim B10 zwar nicht für Fenster genutzt wird, jedoch für eine effektvolle Fassadenhinterleuchtung, durch die das Haus auch in der dunklen Jahreszeit strahlt. Das freilich nur, wenn zuvor genug Energie für die LEDs erzeugt wurde.  tg

Die modulare, vorgefertigte Bauweise der FlyingSpaces von Schwörer Haus machte es möglich, dass das Haus in nur zwei Tagen aufgebaut werden konnte. (Foto: Zooey Braun)
Lageplan (Quelle: Werner Sobek)
Grundriss (Quelle: Werner Sobek)
Schnitt ohne und mit heruntergeklappte Frontöffnung (Quelle: Werner Sobek)
Das Spannsystem der FACID-Fassade spannt das Gewebe ohne Nachspannen dauerhaft und lässt sich bei Bedarf jederzeit wieder lösen. (Foto: EPS)
Das silikonbeschichtete Glasfasergewebe (hier in einer silbernen Version) ist leicht transparent und offenporig, lässt den Regen dennoch nicht hindurch. (Foto: EPS)
Werner Sobek bei der Eröffnung des B10: «In seiner Technologie, seiner hohen Nutzungsqualität und in seinen Nachhaltigkeitsqualitäten nimmt das Gebäude die Ideen und Ziele der klassischen Moderne auf und führt sie weiter in das 21. Jahrhundert.» (Foto: Der Raumjournalist Thomas Geuder)

Projekt
Aktivhaus B10
Stuttgart, D

Architekt, Generalplaner und Interface
Werner Sobek
Stuttgart, D

Hersteller
EPS Profiled Solutions GmbH
Siegen, D

Kompetenz
FACID Textilfassade und Profilsystem

Bauherr
E-Lab Projekt GmbH
Stuttgart, D
(eine Tochtergesellschaft des gemeinnützigen Stuttgart Institute of Sustainability Stiftung e.V. (SIS), Stuttgart,D)

Energiekonzept
WSGreenTechnologies GmbH
Stuttgart, D

Gebäudekonstruktion
SchwörerHaus
Hohenstein, D

Gebäudesteuerung  und Energiemanagement
alphaEOS AG
Stuttgart, D

Elektro​mobilität
Daimler AG
Stuttgart, D

Virtuelles Kraftwerk
Next Kraftwerke GmbH
Tübingen, D

Monitoring
Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK)
Universität Stuttgart, D

Zeitraum von Planung und Realisierung
September 2013 bis Juni 2014

Fertigstellung
2014

Fotografie
Zooey Braun
René Müller
Thomas Geuder
ESP



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