Freiheit, Gewalt und eine Philosophenleiche

Christian Holl
7. März 2012

Auf eine außergewöhnlich inspirierende Art arbeitet sich Florentina Hausknotz am Thema der Stadt ab. Die Veröffentlichung ihrer Dissertation "Stadt denken" trägt den Untertitel "Über die Praxis der Freiheit im urbanen Zeitalter". Dass es "die Stadt" nicht gibt, ist darin genauso Grundlage ihrer Untersuchungen wie die Erkenntnis, dass die Stadt als Gegenstand (in diesem Fall muss man, um Missverständnisse zu vermeiden, wohl sagen: als Gegenstand des Diskurses) nicht total erfassbar sei: Es gebe keinen privilegierten Blick auf die Stadt. Anhand von drei Texten (von Max Weber, Immanuel Wallerstein und Michel Foucault) untersucht sie die Möglichkeiten, Stadt als eine Form zu denken, die Handlung und Wissensgewinn konstituiert oder fordert. In ihrer Analyse sieht Hausknotz die These bestätigt, dass es keinen privilegierten Blick auf die Stadt gibt, dass der Begriff von Stadt aber jeweils im Sprechen über Stadt darauf zurückwirkt, welche Optionen im Umgang mit ihr überhaupt in Erwägung gezogen werden. Anhand dreier Fallstudien – auch sie diskursiv gewählt und behandelt – über die Autobombe, den Boxclub und die Kreuzung werden die Möglichkeiten und die Gefährdung der Aneignung von Stadt aufgezeigt. Die Fallstudien scheinen in Relation zu den gewählten Texten des ersten Teils exotisch, doch gelingt es der Autorin, ihre Wahl plausibel zu machen. Die Arbeit mündet in einem Plädoyer: Stadt, wie sie in diesen Überlegungen verdichtet wird, könne es nur geben, "wenn immer mehr Menschen den Mut finden, ihrer Umgebung gewaltfrei zu begegnen."

Als entgegengesetzte Art, Stadt zu verstehen, kann man die von Bechir Kenzari herausgegebene Sammlung von Texten über "Architecture and Violence" verstehen. Dabei geht es weniger darum, Stadt wie Hausknotz zu denken, als die mit ihr ermöglichte Gewalt sichtbar zu machen. Die zehn Texte, deren thematische Bandbreite vom italienischen Faschismus bis zu Konditionierung durch Überwachungskameras reichen, erschöpfen sich aber nicht in einer Beschreibung struktureller Gewalt, die durch architektonische und städtebauliche Formen ausgeübt wird. Orte der Ausgrenzung und der Verdrängung von Gewalt werden ebenso untersucht wie die der Reflexion von Gewalt wie Bernard Kourys Musikclub B-018. In solcher Reflexion gesellschaftlichen Zusammenlebens lässt sich mithilfe der Architektur auch die Janusköpfigkeit menschlicher Existenz zwischen Hass und Liebe, Tod und Lebenslust nachzeichnen – und ist darin eine Aufforderung, das Häusern und Städten scheinbar selbstverständlich eingeschriebene Gewaltpotenzial in Frage zu stellen.

Beim Diskurs darüber, wie die Formen, die unser Zusammenleben organisieren, Macht und Gewalt ausüben, wird gern Foucaults Arbeit "Überwachen und Strafen" zitiert. Eine Schlüsselrolle nimmt darin Jeremy Benthams Panoptikum ein. Die dabei von Foucault hergestellten Verbindungen und in ihnen vorstrukturiert gesehene Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die unter anderem bis zu Ledoux' Salinenstadt zurückführen, seien allerdings eine Fehldeutung, so Christian Welzbacher in seinem Essay über Jeremy Bentham. "Der radikale Narr des Kapitals" präsentiert Bentham als einen überzeugten Utilitaristen, der, anders als zu seiner Zeit üblich, in Gefangenen Individuen erkennt, die Beistand bei der Rückkehr in das Sozialsystem verdienen. Mit ihrer angestrebten sozialen Wiedereingliederung wird aber auch der ökonomischen Verschwendung durch das Schafott entgegengewirkt. In einer überraschenden Wendung wird die Rolle, die das bildhafte Denken für Bentham spielte, in Bezug zu dessen Selbstinzenierung als "Auto-Ikone" gesetzt. Mit dem eigenen ausgestopften Leichnam hat Bentham die Kritik an Religion und Mystizismus ebenso wie hybrische Selbstüberhöhung auf die Spitze getrieben. Dass Bentham noch darin wegen eines Missgeschicks beim Trocknungsverfahren scheiterte, ist weniger an sich tragisch als dass sie das Tragische von Benthams Streben sichtbar macht. Welzbacher macht deutlich, dass in den konkreten Umsetzungen die Theorie entzaubert wird, die sich diese Entzauberung zum Ziel gesetzt hatten. Der Pervertierung seiner Ideen musste Bentham nun als zur Tatenlosigkeit verdammte, ausgestopfte Philosophenleiche beiwohnen. ch

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