Die Stadt und ihre Menschen

Simone Hübener
5. Juni 2013
Demonstranten im Gezi-Park, aufgenommen am 30.05.2013 (Bild: flickr/ arassio)

Demonstrationen gegen ein Einkaufszentrum, Baumfällungen, Polizeieinsatz, Tränengas, Wasserwerfer, Verletzte ...: Das kommt uns bekannt vor: Auch in Stuttgart ging es um ein Bauprojekt und die Zerstörung von Teilen eines Parks. In Istanbul soll ein baumbestandener Park, einer der letzten im dicht besiedelten Stadtzentrum, einem neuen Einkaufszentrum weichen. Dafür soll eine osmanische Kaserne aus dem 18. Jahrhundert rekonstruiert werden, deren Sprengung in den 1940er Jahren von den Behörden veranlasst worden war.
Aber ist dies wirklich noch der Grund für die Demonstrationen oder geht es in Istanbul mittlerweile um viel mehr? Folgt dem "Arabischen Frühling" ein türkischer, wie einige Beobachter bereits vermuten? Lenz Jacobsen schreibt dazu in seinem Kommentar, der vorgestern auf www.zeit.de erschienen ist, dass sowohl der Vergleich mit Stuttgart als auch der mit dem Tahrir-Platz in Kairo hinke (siehe zu den Ereignissen dort einen Artikel im eMagazin #07|2011). Denn: "An diesem Wochenende war in Istanbul zu beobachten, wie die türkische Zivilgesellschaft erwachsen wird. Vielleicht sind die Proteste sogar der Anfang vom Ende des autoritären Staatsverständnisses, das die Nation seit ihrer Gründung prägt." Mit dem Bauprojekt ist also ein Anlass gefunden worden, sich gegen den Führungsstil des türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan zu wenden. Er hatte, so Michael Martens am 2. Juni für www.faz.net "noch Mitte vergangener Woche (…) anlässlich der Zeremonie zum Baubeginn für die dritte Bosporusbrücke gesagt, dass ihm die Proteste gleichgültig seien und das Bauvorhaben ausgeführt werde – schließlich sei die AKP von einer Mehrheit der Türken gewählt worden. Demonstranten verweist er regelmäßig darauf, wem seine Politik nicht passe, der solle das gefälligst an der Wahlurne zum Ausdruck bringen." Damit wollen sich die friedlichen Demonstranten – Menschen verschiedenen Alters, verschiedener Klassen und Herkunft – nicht mehr abfinden. Sie verbreiteten die Nachrichten vom Gezi-Park und dem angrenzenden Taksim-Platz über verschiedene soziale Medien, so dass bald die gesamte Türkei und Menschen in aller Herren Länder davon erfuhren. Je mehr Menschen kamen, desto härter – so scheint es – griff die Polizei durch. Am Ende wurden vergangenes Wochenende in der Türkei fast 1.000 Menschen festgenommen, laut Amnesty International ebenso viele verletzt und sogar zwei Menschen getötet. Istanbuls Bürgermeister Kadir Topbas ließ indes verlauten, "man habe aus den Fehlern gelernt. Künftig werde die Stadt die Bürger über große Bauvorhaben rechtzeitig aufklären, um 'Fehlinformationen' zu vermeiden." Auch das kennt man: dass die Menschen berechtigte Gründe für den Protest haben könnten, wird ausgeschlossen. Die Demonstrationen gehen indes weiter, die internationale Kritik wächst.

Doch nicht nur in Istanbul, sondern auch in Frankfurt am Main ging die Polizei am vergangenen  Wochenende hart gegen Demonstranten vor. Mehrere tausend Anhänger des kapitalismuskritischen Bündnisses Blockupy – die Angaben über die Teilnehmerzahlen gehen auseinander – wollte auf einem kurzen Protestmarsch durch das Frankfurter Bankenviertel gegen die Krisenpolitik der Europäischen Zentralbank demonstrieren. Doch daraus wurden Stunden. Denn bereits wenige Minuten, nachdem die genehmigte Demonstration gestartet war, kesselte die Polizei mehrere hundert Menschen ein, die sie als linksextremistisch betrachtete. Der Rest hätte weiterziehen können, lehnte dies allerdings ab. Die Demonstranten hätten Feuerwerkskörper gezündet, sich mit Sonnenbrillen vermummt und mit Regenschirmen verdeckt, so die Polizei. Dagegen schreibt Katharina Iskandar in ihrem Artikel am 1. Juni auf www.faz.net: "Demonstrationsbeobachter bezeichneten dies als vorgeschobenes Argument." So dauerte es bis 22 Uhr ehe die letzten Demonstranten gehen durften. Die Polizei und der hessische Innenminister Boris Rhein haben erneut keinen guten Eindruck hinterlassen: demokratische Grundrechte wurden mit Füßen getreten, das Überaufgebot der Polizei sollte die Demonstranten vorab als gefährliche Kriminelle stigmatisieren.

Zu den Ereignissen in der Türkei sei auf das Interview mit Vasif Kortun, dem Direktor des Kultur- und Forschungsinstituts SALT in Istanbul, hingewiesen, das man seit dem 2. Juni auf www.zeit.de nachlesen kann; die Presseschau eurotopics vom 3. Juni verhilft zu einem guten Überblick. Um den genauen Ablauf der Proteste nachverfolgen zu können, empfiehlt sich die Chronik, die auf der Webseite von domus veröffentlicht wurde.

Zum Thema "Städte, Öffentlichkeit und neue Medien als Schauplätze einer politischen Auseinandersetzung" möchten wir zudem auf den Beitrag verweisen, der im eMagazin #36|2011 erschienen ist.

Blockupy Frankfurt 2013, aufgenommen am 01.06.2013 (Bild: flickr/ Martin Kliehm)

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