Gestaltsucher und Gestaltfinder

Thomas Geuder
10. Juni 2015
Frei Otto – forschen, bauen, inspirieren (Quelle: Verlag)

Als der Ingenieur und Visionär Frei Otto Anfang März dieses Jahres starb, war ein deutliches Raunen in der Welt der Architektur und des Ingenieurbaus ob dieses enormen und unerwarteten Verlusts zu vernehmen. Frei Ottos Ideen und Entwürfe gingen nicht nur als fester Bestandteil in die Baugeschichte ein, sondern sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten Vorbild und Inspiration für unzählige Planer geworden. So sagte etwa Lord Norman Foster 2005 im Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne schlicht: «Im gleichen Maß, in dem die außergewöhnlichen Folgen seiner Werke das Erscheinungsbild der Architektur verändert hat, haben seine ökologische Sensibilität, seine Intelligenz und Weitsicht die Konturen des architektonischen Denkens für das 21. Jahrhundert festgelegt.» So ist der Pritzker-Preis, von dessen Verleihung er kurz vor seinem Tod noch erfahren hat, nur der letzte von zahlreichen Preisen wie etwa der Große BDA-Preis 1982, der Aga Khan Award for Architecture 1998 oder der Praemium Imperiale (Nobelpreis der Künste) in der Sparte Architektur, die er in seinem Leben mehr als verdient erhalten hat.

Frei Otto – forschen, bauen, inspirieren (Quelle: Verlag)

Frei Otto indessen bleibt im Blick auf sich selbst bescheiden und sagt über sich selbst, er habe «viele Luftschlösser ersonnen. Warum die wenigen realen Gebäude, die ich selbst machte oder mitmachte, so bekannt wurden, ist mir selbst ein Rätsel.» Auch was seine Rolle als studierter Architekt für das Bauwesen angeht, hält er sich gepflegt zurück: «Manche nennen mich auch Ingenieur. Vom Herzen bin ich ein Gestaltsucher und manchmal auch ein Gestaltfinder, der sich der Unvollkommenheit seines Tuns und seiner Produkte bewusst ist.» Einer der wichtigsten Punkte im Leben von Frei Otto war das Zusammentreffen mit Gerhard Helmcke, den Ordinarius für Biologie und Anthropologie an der TU Berlin, Verhaltensforscher und Direktor des Instituts für Karies-Forschung am Max-Planck-Institut im Jahr 1960. Mit ihm gründete er bald die Forschergruppe «Biologie und Bauen», in der Biologen, Paläontologen und Architekten zusammenarbeiteten. Die Erkenntnisse dieser Studien sind in seinen Bauten deutlich spürbar.

Deutscher Pavillon, Montreal, 1967 (mit Rolf Gutbrod, Fritz Leonhardt) (Bild: Atelier Frei Otto Warmbronn)

Ihr Buch «Frei Otto – forschen, bauen, inspirieren» wollten die Autoren Irene Meissner und Eberhard Müller – beide lehrend an Architekturhochschulen tätig – pünktlich zum 90. Geburtstag Frei Ottos am 31. Mai 2015 vorlegen. Nun muss das Buch ohne ihn erscheinen, obgleich er noch daran mitwirken konnte und ein kurzes, aber sehr persönliches Geleitwort mit dem Titel «Architektur Natur» dafür verfasst hat. Auf 128 Seiten zeigt die Publikation die Ideen Frei Ottos, versehen mit zahlreichen seiner gebauten und modellhaft gebliebenen Beispiele. Die Autoren unterteilen – nach zwei einleitenden Texten – sein Werk dabei in die vier zentralen Themen: hängende Konstruktionen, stehende Konstruktionen, schwebende Konstruktionen und Ökologie. Jedes Kapitel erläutert Frei Ottos Vision dahinter und – ein besonderer Mehrwert des Buchs – zeigt unter der Überschrift «Inspirationen» auf, wie diese Ideen Planer wie Jörg Schlaich, Werner Sobek, Shigeru Ban, Hemlut Jahn oder Meinhard von Gerkan beeinflusst haben.

Messmodell Olympiadächer München, 1972 (mit Behnisch & Partner, Leonhardt und Andrä) (Bild: Atelier Frei Otto Warmbronn)

Das Buch mit an Aluminium erinnernder Einband-Oberfläche zeigt anschaulich und reichhaltig in zahlreichen Bildern der fertigen Projekte sowie aus den Entstehungsphasen, wie vielfältig und kreativ der Visionär Frei Otto in einer noch nicht vom Computer unterstützen Zeit gearbeitet hat. Ein kleiner Wermutstropfen aber bleibt: In für den Detail-Verlag typischer Manier des kleinen Bildes zugunsten von Text- und Weißraum ist beim Studieren des Buchs ein gutes Auge vonnöten. Großzügigere, formatfüllende Bildflächen für die großartigen und fein detaillierten Bauwerke wären hier nicht verkehrt gewesen. tg

​Irene Meissner, Eberhard Möller
Frei Otto – forschen, bauen, inspirieren | a life of research construction and inspiration
Erschienen im Juni 2015 bei DETAIL Institut für internationale Architektur-Dokumentation, München
128 Seiten, 19 x 23,5 cm, mit zahlreichen Abbildungen, Hardcover
Deutsch/Englisch
ISBN 978-3-95553-252-9
34,– EUR

Dach der Multihalle, Mannheim, 1975 (mit Carlfried Mutschler, Joachim Langner) (Bild: Atelier Frei Otto Warmbronn)

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