Zwischennutzung als Aufwertungsmotor

Werner Girgert
29. Mai 2013
Bild: Frank Bayh & Steff Rosenberger-Ochs/ architekturbild 2013

Kann man über Zwischennutzungen schreiben, ohne von Gentrifizierung zu reden? Klaus Overmeyer jedenfalls schafft es. Wenn er behauptet (siehe den Beitrag im eMagazin #13|13), Zwischennutzer seien die "treibende Kraft städtischer Transformation", dann meint er ganz offensichtlich nicht die mit Zwischennutzungen häufig angestoßenen Gentrifizierungsprozesse. Überhaupt bleibt Overmeyers Auseinandersetzung mit Wolfgang Kils These, es werde eng für die Zwischennutzer, wenn der Immobilienmarkt wieder anspringt, merkwürdig unberührt von den vielerorts geführten Debatten um die Folgen neoliberaler Stadtentwicklungspolitik.

Zwischennutzer und die Logik des Marktes
Für die seines Erachtens wachsende Bedeutung der Zwischennutzer in Stadtentwicklungsprozessen führt Overmeyer eine Reihe wenig überzeugender Beobachtungen an: Temporäre Nutzungen tauchten inzwischen regelmäßig in den Planlegenden städtebaulicher Wettbewerbsbeiträge auf, heißt es da, Geschäftsstraßen-Managements nähmen sich ihrer an und ehemalige Zwischennutzer seien mittlerweile zu Erbpächtern oder Besitzern ihrer Räume geworden. Lässt sich daraus aber ernsthaft schlussfolgern, Zwischennutzer könnten dort, wo die Politik die Transformation städtischer Räume immer ungenierter den Gesetzen des Marktes überlässt, zu einer treibenden Kraft der Stadtentwicklung werden? Wohl kaum. Vielmehr zeigen Overmeyers Beispiele, dass Zwischennutzer bescheidene Erfolge immer dann für sich reklamieren dürfen, wenn sie sich der Logik des Marktes reibungslos einfügen.
Denn Zwischennutzungen, zumindest in ihrer legalen Form, setzen die Gesetze des Marktes nicht außer Kraft. Sie bieten Immobilieneigentümern eine durchaus willkommene und kostengünstige Ausweichstrategie zum Leerstandsmanagement. Schließlich lässt sich mit einer Vermietung zweiter Klasse der Leerstand so lange überbrücken, bis sich wieder Mieter finden, die renditeträchtige Preise zahlen. Gleichzeitig tragen die alternativen Nutzer, die sich in vielen Fällen aus der Kreativwirtschaft und deren Umfeld rekrutieren, zum Erhalt der Bausubstanz bei und verhindern damit, dass der Verkehrswert der Immobilie weiter verfällt.

Bild: Frank Bayh & Steff Rosenberger-Ochs/ architekturbild 2013

Aber auch aus Sicht von Politikern, Stadtplanern und Geschäftsstraßen-Managern erfüllen Zwischennutzungen eine durchaus marktkonforme Funktion. Als Akteure in lokalen Wachstumskoalitionen mit der Immobilienwirtschaft haben Politik und Verwaltung in Zeiten verschärften Standortwettbewerbs die Konkurrenzfähigkeit ihrer Stadt als Ganzes oder zumindest die Entwicklung einzelner Quartiere im Blick. Da stören länger anhaltende Leerstände und die Verödung ganzer Straßenzüge das von Marketing-Strategen oft mühsam erarbeitete Image der Stadt und die dahinter stehenden ökonomischen Interessen. Mit der Förderung kultureller und kreativer Zwischennutzungen setzen Politik und Immobilienwirtschaft deshalb ganz bewusst auf jene Aufwertungseffekte, die für gewöhnlich in Gang gesetzt werden, wenn Künstler und Kreative sich auf Brachflächen, in einzelnen Immobilien oder Stadtvierteln niederlassen.

Attraktivitässteigerung und ihre Folgen
Die Zwischennutzer werden so freiwillig oder unfreiwillig zu Mitspielern bei der Ausgestaltung neoliberaler Standortpolitik. Wie inzwischen die zahlreichen Beispiele aus der Praxis zeigen, wohl immer häufiger freiwillig. Das scheint auch Klaus Overmeyer nicht entgangen zu sein, wenn er feststellt, "Zwischennutzer sind keine revolutionären Zellen, die für ein anderes System ohne Eigentum, Verwertungsdruck und Miete kämpfen. Sie wollen in erster Linie ihr Ding machen". Zweifel am Leitbild unternehmerischer Stadtentwicklung werden dabei jedenfalls selten laut, umso vehementer übt man sich darin, die Kritik an der eigenen Pionierrolle im Gentrifizierungsprozess zurückzuweisen.
Wolfgang Kil weist zurecht darauf hin, dass die Zwischennutzer bei steigenden Immobilienpreisen "zum Opfer ihrer eigenen Erfolge" werden. Das ist jedoch, so könnte man sagen, das Risiko, das dem gesamten Konzept innewohnt. Die Attraktivitätssteigerung, die ein Viertel durch Zwischennutzungen erfährt, macht jedoch nicht nur Studenten, Künstlern und Kreativen zu schaffen, sondern in besonderem Maße den angestammten Bewohnern, die ihr Mietverhältnis selten als Zwischennutzung sehen. Denn die symbolische und damit häufig einhergehende bauliche Aufwertung schlägt sich in der Regel in Mietpreissteigerungen nieder, die sich Mieter mit niedrigen und immer häufiger auch mit mittleren Einkommen nicht mehr leisten können. Sie werden zu Opfern eines einsetzenden Gentrifizierungsprozesses, in dem gewachsene Nachbarschaftsstrukturen allmählich durch besserverdienende und statushöhere Bevölkerungsgruppen ersetzt werden, die sich vom neu entstehenden kulturellen oder subkulturellen Image eines Viertels angezogen fühlen.

Bild: Frank Bayh & Steff Rosenberger-Ochs/ architekturbild 2013
Zum Beispiel Berlin

Die Diskussion um die Entwicklungen rund um den Reuterplatz im Norden des neuen Berliner Trendbezirks Neukölln macht das inzwischen deutlich. Von der Politik quasi als Quartiersentwicklungsmodell gefördert, hat sich dort in den vergangenen Jahren in ehemals leer stehenden Läden eine alternative Gewerbestruktur aus kreativen Zwischennutzungen etabliert. Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Eine Studie zur Sozialstruktur in Nordneukölln des Berliner Büros Topos macht im Gebiet um den Reuterplatz "in den letzten Jahren eine deutliche Gentrifizierungsentwicklung" aus. Jeden fünften Bewohner zählt die Studie zu den Pionieren der Gentrifizierung: Studenten und junge Kreative mit meist noch geringem Einkommen. Bei 24 Prozent liegt bereits der Anteil der etablierten "Gentrifizierer", die über deutlich höhere Einkommen verfügen und häufig erst ins Viertel gezogen sind, nachdem sich der Image-Wandel abzeichnete.
Die Mieten im Quartier haben kräftig zugelegt, wie sich besonders bei Neuvermietungen zeigt. In der Regel müssen Neumieter zwischen 15 und 35 Prozent mehr hinblättern als die Mietspiegelmittelwerte hergeben. Etwa jede vierte Mieterhöhung geht mittlerweile auf eine Modernisierung zurück. Ganz offensichtlich haben aber nicht allein die Vermieter die Gunst der Stunde erkannt. Auch Investoren wittern mittlerweile satte Renditen und wandeln Miet- in Eigentumswohnungen um. Die Aufwertung des Quartiers führt jedoch nicht nur zum Zuzug von Haushalten mit gutem Einkommen, sondern auch zu "einem Ausleseprozess, in dessen Verlauf sich der Anteil der Haushalte mit niedrigeren Einkommen unter den schon länger im Gebiet Wohnenden kontinuierlich verringert", so die Verfasser der Studie. Auch die klassischen Pioniere des Gentrifizierungsprozesses tun sich, wie bei solchen Entwicklungen üblich, inzwischen schwer, rund um den Reuterplatz noch eine bezahlbare Wohnung zu finden.

Bild: Frank Bayh & Steff Rosenberger-Ochs/ architekturbild 2013

Wenn Zwischennutzer, wie inzwischen in vielen Städte zu beobachten, an den eigenen Erfolgen scheitern, so unterscheiden sie sich nicht von anderen Pionieren der Gentrifizierung. Wer jedoch wie Klaus Overmeyer fragt, "warum ist es kritisch, wenn zivilgesellschaftliche Projekte dazu beitragen, den Verfall von Stadtvierteln umzukehren", blendet die Rolle der Zwischennutzer innerhalb städtischer Aufwertungsstrategien aus. Damit wird die Diskussion um Zwischennutzungen aber nicht nur ihrer politischen Dimension entkleidet. Sie entzieht sich auch der kritischen Reflexion darüber, welche Folgewirkungen mit diesen Aufwertungsprozessen für die soziale Zusammensetzung einzelner Quartiere in Gang gesetzt werden. Werner Girgert

Der Autor ist Journalist und Soziologe. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt im Bereich der Stadtforschung. Sein besonderes Interesse gilt den Folgen der Globalisierung und dem Thema Gentrifizierung.

Beiträge zum Diskurs Zwischennutzung und Kreativwirtschaft bei german-architects:
Klaus Overmeyer: Zwischennutzung als Chance
Claudia Hildner: Bottom-up heißt Hintern hoch
Wolfgang Kil: Zwischennutzer und ihr vermeintlicher Erfolg
Wolfgang Kil: Die Zwischennutzung entlässt ihre Kinder
Christian Holl: Depperte und der Townhousehimmel

Die Bilder dieses Beitrags sind von Frank Bayh & Steff Rosenberger-Ochs; unter dem Vorsitz von Prof. Peter Bialobrzeski zeichnete die Jury die Bildserie "Die Entwicklung neuer Stadtquartiere im Herzen der City" mit dem Ersten Preis beim Europäischen Architekturfotografie-Preis architekturbild 2013 "Im Brennpunkt" aus. 
Durch angemessene und geschickte Bearbeitung ist es den Autoren Frank Bayh & Steff Rosenberger-Ochs gelungen, ihre Bildserie – über Stuttgart 21 hinaus – in eine gleichnishaft, allgemeingültige Aussage zum Thema Widerstand zu transformieren. 
Die Fotografen über ihre Bildserie: "Die Entwicklung neuer Stadtquartiere im Herzen der City – das verspricht ein Slogan für Stuttgart 21.Streifte man im Herbst 2010 einmal durch den mittleren Schlossgarten, so stellte man schnell fest, dass diese Entwicklung längst eingesetzt hat. Sehr wohl ausgelöst durch das umstrittene Großprojekt, aber keinesfalls als Ergebnis dessen Realisierung, hatten Projektgegner dort eine Zeltstadt errichtet. Deren außergewöhnlicher, einfallsreicher, aber auch vergänglicher Architektur möchte die Bildstrecke "Die Entwicklung neuer Stadtquartiere im Herzen der City" ein Denkmal setzen."

Diese Fotos sowie die weiteren 27 von der Jury gewürdigten Bildserien des Europäischen Architekturfotografie-Preises architekturbild sind bis zum 16. Juni im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt zu sehen. Eine Rückschau auf die in früheren Wettbewerben ausgezeichneten Bilder ist bis zum 28. Juli ebenfalls im DAM zu sehen.

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