Sozial Bauen ist mehr als Bauen

Christian Holl
19. Juni 2013
TYIN tegnestue Architects: Cassa Co-op Training Centre, Sungai Penuh, Kerinchi, Sumatra, Indonesien, 2011 (Bild: DAM/Pasi Aalto/pasiaalto.com)

Was heißt eigentlich "sozial"? In ihrem kürzlich erschienen Buch über "50 Jahre Stadtdiskurs am Beispiel der Stadtbauwelt" hat Brigitte Schultz dazu einen der Mitherausgeber, Gerhard Fehl, zitiert. Der hatte die Bedeutungsebenen des Begriffs aufgefächert: sie reichen von "die gesellschaftlichen Verhältnisse" bis "gesellschaftliche Klassen oder Gruppen betreffend", beinhalten "im gesellschaftlichen Auftrag" ebenso wie "der gesellschaftlichen Verantwortung anvertraut" und schließen neben "dem Wohl aller" auch "von der Gesellschaft Benachteiligten dienend" ein.
Insofern ist es richtig, wenn die soziale Dimension des öffentlichen Raums sowohl in Bezug auf die aktuellen Geschehnisse in Istanbul verwendet wird als auch im Titel einer Ausstellung erscheint, die sich dem "Bauen für eine bessere Welt" widmet: "Think global, build social" im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt. Architektur habe sich, so heißt es im Ausstellungsflyer, "in den letzten Jahrzehnten nur am Rande mit der Frage nach ihrer sozialen Relevanz befasst." Dafür, dass sich daran etwas geändert hat, steht eine kleine Zahl von Architekten, denen die Ausstellung gewidmet ist. Unter den 22 Positionen finden sich die französischen Aktivierungsstrategen vom Atelier d‘architecture autogérée, der bereits mit dem Aga Kahn Award ausgezeichnete Architekt Francis Kéré, Emilio Caravatti, der in Mali Schulen und ein Rehabilitationszentrum aus Lehm errichtet hat, das Team Urban-Think Tank, das sich in Sao Paulo engagiert, die finnische NGO Ukumbi. Auffallend sind die zahlreichen Initiativen, die an Hochschulen verankert sind: an der TU Wien, der TU München, der RWTH Aachen und an der TU Berlin. Man hat hier eine Auswahl getroffen, die Universität der Nachbarschaften der HCU (die wir Ihnen 2011 vorgestellt haben) oder das Projekt ukuqala der Universität Stuttgart hätten ebenso vertreten sein können. Sozial bauen im Sinne von "den Benachteiligten dienend" liegt im Trend.

Eine neue Rolle für Architekten
Für die Ausstellung wurden Architekten und Initiativen ausgewählt, die sich lange vor Ort und mit einer in die Zukunft gerichteten Perspektive engagieren, die die Menschen einbinden, statt mit dem Verständnis das Architekten als dem Gestalter zu agieren, der über privilegiertes Wissen von den Bedürfnissen anderer verfügt. In einem Film zur Ausstellungsagt der Kurator Andres Lepik, die Rolle des Architekten sei in einem großen Wandel begriffen: Man könne sehen, "dass Architekten jetzt eher gesehen werden als Moderatoren, als Vermittler von Projekten, die Projekte auslösen."

Soziales Engagement, an der Hochschule verankert: die Baupiloten der TU Berlin. Im Bild: Modernisierung der Erika-Mann-Grundschule II, Berlin-Wedding, Deutschland, 2006–2008 (Bild: Jan Bitter/DAM)

An dem, was dabei entstanden ist, kann man sich erfreuen, man sieht in der Ausstellung viele glückliche und lachende Menschen, und ästhetisch ansprechend sind die Projekte auch. Inwiefern die Qualität, gut präsentabel zu sein, ausschlaggebend für die Auswahl war, lässt sich nicht nachvollziehen. Verständlich wäre es wenigstens insofern, als damit Vorurteile gegenüber solchem Engagement abgebaut werden könnten, nämlich, dass es ästhetischen Ansprüchen nicht genügt. Damit ist man allerdings schon bei den Fragen, die diese Ausstellung aufwirft. Es sind mehr, als eine Ausstellung beantworten kann. Man muss es als eine Qualität verstehen, dass solche Fragen dank einer solchen Ausstellung gestellt werden können.
Denn ohne Untiefen ist die Verknüpfung von präsentablem Projekt und sozialem Engagement nicht – dass ein Problem zur vermeintlichen Lösung durch ein Gebäude und nicht zu organisatorischen Lösungen führt, hatte einst Lucius Burckhardt beklagt. Eine solche Form der dem Problem unangemessenen Reduktion von gesellschaftlicher Komplexität kann man den in der Ausstellung gezeigten Projekten nicht vorwerfen – und dennoch gilt es darauf hinzuweisen, dass Architektur alleine nicht die Ursachen der Benachteiligungen ändert, deren Wirkungen sie mildert. Design ist unsichtbar, war eine der wichtigen Erkenntnisse von Lucius Burckhardt – er hoffte auf eines, "das unsichtbare Gesamtsysteme, bestehend aus Objekten und zwischenmenschlichen Beziehungen, bewusst zu berücksichtigen imstande ist." Hierin sind die in Frankfurt vorgestellten Projekte durchaus vorbildlich.
Und doch sprechen sie auch von der Gefahr der Verführung, die der Architektur innewohnt: dass sie als sichtbarer Teil eines Gesamtprozesses alleine für ihn stehen. Darin liegt das Dilemma einer Ausstellung zu einem solchen Thema: Sie muss sich auf das konzentrieren, was sichtbar gemacht werden kann.

Sichtbares und Unsichtbares
Nicht zufällig begann der Katalog zum deutschen Biennale-Beitrag 2012 mit einem Interview über die Place Léon Aucoc in Bordeaux. Lacaton & Vasall hatten in einem Wettbewerb zu dessen Verschönerung lediglich dessen regelmäßige Pflege vorgeschlagen, sonst sollte er unverändert bleiben. Vorgestellt als ein Beispiel dafür, dass die noch immer sinnvollste Form ökologischen Bauens die ist, dafür zu sorgen, dass das, was besteht, weiter genutzt werden kann, eignet sich die Place Aucoc ebenso als ein Beispiel für das Verhältnis zwischen Gestaltung und sozialer Wirkung: Gestaltung muss nicht sichtbar sein, muss nicht den Autor sichtbar machen, kann in einer einfachen Anweisung bestehen. Auch Gebäude, die man saniert, anstatt sie abzureißen oder verfallen zu lassen, um bezahlbaren und würdigen Wohnraum zu erhalten etwa, eignen sich wenig für hervorgehobene Darstellungen – haben aber eine nicht unerhebliche soziale Wirkung.

Das Sichtbare ist nur ein Teil des sozialen Engagements. Sie befördern soziale Prozesse, ersetzen sie aber nicht. Im Bild das nicht in Frankfurt vertretene Projekt "Making Space in Dalston" (London) von muf architecture /art (Bild: muf / SNUG)

Konzentriert man sich auf das Sichtbare, entsteht ein Missverhältnis: Dies hat möglicherweise dem Programm Soziale Stadt geschadet – darauf weist die Äußerung vom "Spaßprogramm" des Bundestagsabgeordneten Vaatz hin. Weil Straßenfeste und gemeinsame Veranstaltungen der sichtbare Teil der Aktivitäten in den Programmgebieten der Sozialen Stadt waren, hingegen das, was in den Quartieren damit darüber hinaus für die Gemeinschaft, an gegenseitigem Verständnis gewonnen wurde, nicht sichtbar gemacht werden konnte, wurde das Sichtbare für das Ganze gehalten.
Insofern ist es durchaus von sozialer Aussagekraft – "die gesellschaftlichen Verhältnisse betreffend" – , dass Geld für Inklusion an Berliner Schulen fehlt, das für den Neubau des Schlosses aber zur Verfügung steht. Ob es politischer Instinkt war, dass die Bundeskanzlerin bei der Grundsteinlegung fehlte und der Bundespräsident sich einer Rede enthalten hatte? Der Spiegel hatte in einem Online-Kommentar darauf verwiesen, dass dieses Gebäude für ein Land steht, in dem sich eine lähmende Apathie breit gemacht hat. (Einen Tag später hat Georg Diez in seiner Kolumne noch einen drauf gesetzt).
Die Ausstellung wie die im DAM tut da gut: sie kann im von Bürokratie verkrusteten Land Menschen ermutigen, Dinge, mit denen sie nicht einverstanden sind, selbst in die Hand zu nehmen.

Ein überzeugender Auftakt
Am besten, man sieht sich nicht nur die Ausstellung im DAM an, sondern besucht auch die zur gleichen Zeit im Frankfurter Kunstverein gezeigte Ausstellung: Ohnmacht als Situation. Über sie heißt es in der Ankündigung: "Die spanische Künstlergruppe Democracia (Madrid) und das rumänische Künstlerduo Mona Vătămanu & Florin Tudor (Bukarest) suchen in künstlerischen Experimenten nach einem Umgang mit gesellschaftlichen Verhältnissen, der aus der Ohnmacht herausführen kann. Zugleich geht es in der von Felix Trautmann (Frankfurt) konzipierten Veranstaltungsreihe um die Rolle der Polizei in der Durchsetzung und Veränderung bestehender Ordnungen." Wie diese Rolle der Polizei aussehen kann, einer Demokratie unwürdig, den sozialen Frieden nur vorgeblich verpflichtet, musste man gerade erst in Frankfurt wieder erleben; von den Vorkommnissen in Istanbul ganz zu schweigen.

"Gefrorene Politik": Centro de Acçao Social por Música, Grotão, Paraisópolis, Sao Paulo, Brasilien, Urban-Think Tank, 2009-2012 (Bild: Urban-Think Tank/DAM)

Noch einmal zurück ins DAM. In der Einleitung zur Ausstellung steht zu lesen, dass die vorgestellten Initiativen nicht politisch motiviert seien. Wirklich? Hubert Klumpner vom Team Urban-Think Tank sagt: "Architektur ist gefrorene Politik." Auch die anderen Projekte sind keinesfalls unpolitisch. Es wäre für ein universitäres Institut, dessen Leiter sich in dieser Ausstellung nicht zum ersten Mal mit sozialem Bauen beschäftigt (2010 hatte Lepik bereits die Ausstellung "Small Scale, Big Change" kuratiert, 2011 das Buch "Moderators of Change" herausgegeben), eine lohnende Aufgabe, den verdeckten politischen Zusammenhängen nachzuspüren. Es wäre eine wunderbare Sache, wenn der überzeugende Auftakt in Frankfurt dazu führte, dem nachzugehen, was es heißen könnte, wenn soziales Bauen nicht nur als eine Nischentätigkeit für engagierte Architekten verstanden wird, wenn auf breiter Ebene statt Diskussionen über Fassaden und Korridorstraßen eine darüber geführt würde, wo sich zu engagieren, wo aber auch die Stimme gegen Abriss, gegen sozialräumlich wirksame Politik, gegen mittel- und oberschichtskonformen Einheitsstädtebau zu erheben wäre. Vor allem, wenn sie etwas in Gang setzt, ist eine Ausstellung wie die in Frankfurt mehr als der moralische Wohlgeruch, in den sich Architekten hüllen können, um sich der sozialen Relevanz ihrer Disziplin zu vergewissern, ohne sich selbst die Finger schmutzig zu machen. Das klingt utopisch? Vielleicht. Aber wird das Engagement der in der Ausstellung gezeigten Projekte nicht auch von der Emphase getragen, dort etwas zu verbessern, wo die Aussichten auf Verbesserungen trübe sind? ch

Think Global, Build Social
Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum.
Bis zum 1. September 2013
Die Ausstellung wurde gemeinsam mit dem Architekturzentrum Wien AzW produziert.

Zur Ausstellung erschien eine Ausgabe der Zeitschrift arch+

Zitate
Brigitte Schultz: Was heißt hier Stadt? 50 Jahre Stadtdiskurs am Beispiel der Stadtbauwelt seit 1964. Jovis Verlag, Berlin 2013

Lucius Burckhardt: Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch.
Herausgegeben von Jesko Fezer und Martin Schmitz. Martin Schmitz Verlag, Berlin 2004

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