Pluralismus – Chancen für eine zeitgemäße Architekturkritik

Ursula Baus
28. November 2012
Buntes Allerlei in Frankfurt: Ein Hochhaus aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, davor das 21. Jahrhundert mit einer Rekonstruktion (Literaturhaus, Christoph Mäckler, 2005) und der EZB-Baustelle (Coop Himmelb(l)au)  

Geschmacksanarchie à la Youtube?   Wenn es um die Architekturkritik geht, müssen ja nicht nur die Architekten Prügel einstecken, sondern auch die Kritiker, die sich im Verbunde mit den Baukünstlern als hochmütige "Geschmacksapostel" in eine Ecke gestellt sehen. Dieter Hoffmann-Axthelm hatte schon 2010 in arch+  das allseitige Unverständnis bekräftigt, das den "Experten" in Sachen Architektur vorzuhalten sei (1). Und tatsächlich: Die sind manchmal nicht zimperlich. Der professionelle Architekturkritiker Dieter Bartetzko schimpfte zum Beispiel in der FAZ über Exbundespräsident Christian Wulffs Geschmacksentgleisung beim Haus in Großburgwedel (2), und auch Hanno Rauterberg klagte in der ZEIT (3) über die schlimmen Geschmacksdefizite der Eliten (wir berichteten und kommentierten). Jan Schloemann hatte in der Süddeutschen Zeitung dann aber mal klargestellt, dass alles, was man den "guten Geschmack" nennen mag, längst in allen Gesellschaftsschichten zu finden sei – Tchibo, Ikea, Apple und vielen anderen Herstellern sei's gedankt (4). Und im gleichen Blatt mutmaßte der Kulturmanager Michael Schindhelm: "Wenn es keine Instanz gibt, die Gut und Schlecht unterscheidet und eine Hierarchie der Werte aufstellt, herrscht Geschmacksanarchie. Möglicherweise ist Youtube damit das exakte Abbild der Kulturwelt von morgen" (5). 

Geschmack, das Schöne, der gute Geschmack, das vermeintlich Schöne, das Gute und das Schlechte: In eingangs erwähnter Schelte der Experten sieht der Kulturwissenschaftler Christian Demand nun im Sonderheft "Experten" des Merkur "öffentlich zelebrierten Distinktionismus" (6). Er reduziert die Architekturkritik aber leider auf das Ästhetische, sinngemäß: Die überhebliche Brandmarkung von Bausünden werde von den Kritikern moralisch vorgetragen, um Deutungshoheit und Geschmacksdefinitionsmacht zu behaupten. Es führt hier zu weit, alle seine Thesen zu erläutern und zu kommentieren (der Beitrag ist online bei Eurozine.com nachzulesen), aber an einem Aspekt sei angeknüpft: Angesichts der "Realität einer pluralen Gesellschaft" habe ästhetische Erziehung "womöglich gar nicht so sehr darauf abzuzielen, Konsens über Vorbildliches herzustellen (...), sondern könnte stattdessen als das Erlernen der Fähigkeit verstanden werden, die Welt auch dort auszuhalten (oder doch zumindest erst einmal sehr genau und sympathetisch hinzusehen), wo sie sich den eigenen ästhetischen Präferenzen gerade nicht fügen will".

Im Europapark Rust liegen zwischen Nordsee und Italien (Leuchtturm-Hotel und italienischer Piazza) sowie zwischen mutmaßlichen Baujahrhunderten (16., 19. und 21. Jahrhundert) nur wenige Meter und Entstehungsmonate. (Bilder: Ursula Baus) 

Pluralismus statt Beliebigkeit Demand fordert also eine gewisse Duldsamkeit gegenüber ästhetischen Vorlieben, die nicht die eigenen sind. Aber erstens gibt es die in weiten – zugegeben nicht allen – Kreisen der Architekturkritik längst, und zweitens leistet Architekturkritik fast immer wesentlich mehr als die Ausarbeitung ästhetischer Geschmacksurteile. Ganz einfach, weil sie viel mehr anspricht als ästhetische Vorlieben. Es geht generell um Angemessenheit am Ort, in der Ökonomie; um Konstruktion, Bautechnik, Ausführungsqualität, Haltbarkeit, Funktionalität, Atmosphäre, Ausdruck, Energieeffizienz und wer-weiß-was, was an aktuellen Aspekten zu berücksichtigen ist, die auch aus politischen Entscheidungen heraus entstehen. Auf Partizipation beispielsweise achten Kritiker in dem Sinne, dass Bedürfnisse von Nutzern berücksichtigt werden und deren Teilhabe an Entwurfsentscheidungen stets eine Rolle spielt. Aber auch die allermeisten Architekten kümmern sich seit jeher um genau solche Aspekte – nicht zuletzt, weil sie mit ihren Bauherren gut auskommen müssen, um honoriert zu werden.
Was Demand nun vollkommen richtig als Verhaltensweisen in einer pluralen Gesellschaft einfordert, geht über das "Aushalten" hinaus, bedingt Toleranz und darf sich deswegen genau nicht in ästhetischen Kategorien erschöpfen. Es empfiehlt sich also, Pluralismus als Wertesystem einer demokratischen Gesellschaft genauer zu durchdenken.

Angekündigt für März 2013: das Buch "Baukunst unserer Zeit" mit Architektur von Petra und Paul Kahlfeldt bei Jovis (Bild: aus dem Verlagsprospekt) 

Pluralismus und Architekturkritik Pluralismus ist historisch kein Phänomen der Moderne, sondern viel älter. Man versteht heute unter Pluralismus die Anerkennung von Vielfalt in unterschiedlichen Lebensbereichen und Weltansichten, die sich nicht voraussetzungslos miteinander vergleichen lassen müssen – von der Sprache über die Religion, Kunstkonzepte, Erkenntnistheorien, Moralvorstellungen und vieles mehr. Auch in der Architektur. Wo diese Bereiche in ihrer historischen Relativität anerkannt sind, spricht man auch von Perspektivismus. De facto wird kein vernünftiger Mensch mehr die Vielfalt tatsächlich vorhandener Weltanschauungen und ihrer konkreten Folgen leugnen. Der Erfolg des Pluralismus bis hinein in das Grundverständnis der Menschenrechte ist einer Reihe von Philosophen (u. a. Gaston Bachelard, La Philosophie du Non, 1940, und Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 1929) zu danken, die sich mit seinen heiklen Problemen befassten: nicht zuletzt mit den Grenzen, die beim Anerkennen des Anderen zu setzen sind.  Ernst Cassirers Art, sich auf alle Richtungen des Weltverstehens einzulassen, zeitigte dabei die keineswegs banale Erkenntnis: "Was wir haben, sind Objektivität und Rationalität nach Menschenmaß; die sind besser als nichts" (7). In vergleichenden Verfahren nimmt die Bedeutung der Unterscheidung zu, und gerade in der Architekturkritik kann sie nicht sorgfältig genug ausfallen. In allen pluralen Gesellschaften müssen die Grenzen des Erlaubten bis zur Unterstützung des Wünschenswerten immer wieder neu debattiert werden, und in so öffentlichen Belangen wie denen des Bauens erst recht. Deswegen braucht man sie, die fachlich versierte Architekturkritik.

Baukunst in Trudering: gelungene Dachlandschaft mit klug gewähltem Ausblick vom Giebelfenster aufs Garagendach; beim Nachbarn im Giebel intime Kenntnisse palladianischen Formenkanons und wohlproportionierte Sprossenfenster (Bild: Ursula Baus) 

Architekturkritiker sind Experten Kürzlich wurde dem freiberuflichen Planer, Unternehmensberater und Buchautor Holger Reiners ob seines neuen Buches Brauchen wir noch Architekten? im Spiegel 41/2012 ein einspaltiges Interview gewidmet. Reiners darin: "Architekten sollten, bevor sie überhaupt ein Bauschild aufstellen, mit den Nachbarn reden. Wir wissen von der Hirnforschung: Das Gehirn liebt keine Überraschungen. Nachbarn wollen, dass alles so bleibt, wie es ist". Und dann am Ende: "Architekten erfüllen willfährig die Wünsche der Auftraggeber". Ja, was denn nun? Dann liegt das Problem doch bei Nachbarn und Auftraggebern? Ganz abgesehen davon, dass man nicht grundsätzlich akzeptieren darf, dass alles bleibt, wie es ist, weil es dann keine Chancen für Verbesserungen und notwendige Korrekturen geben kann, offenbart sich in solcher Expertenschelte kaum ein Ansatz dafür, wie Architektur für eine plurale Gesellschaft überhaupt erhalten bleiben oder zustande kommen sollte. Pragmatisch gesagt: Nachbarn und Bauherren sterben, ihre Häuser bleiben stehen. Manche Architekten bauen so, andere anders. Manche Städte entstanden aus Vorstellungen des 18., manche aus denen der Mitte des 20. Jahrhunderts. Auf diese selbstverständliche Weise entsteht in der Menschheitsgeschichte bereits eine zeitbedingte Architekturvielfalt, die nahezu alle Generationen beglücken kann. Sie bietet zum Beispiel die Wahlfreiheit, in einem Fachwerkhaus, einer Jugenstiletage, einem Waschbetonhaus mit Panoramascheibe oder einem Holzhäuschen leben zu können. Diese Wahlfreiheit wird aber nicht von denen eingeschränkt, die vermeintliche ästhetische Wahrheiten verkünden, sondern immer deutlicher von wirtschaftspolitischen Zwängen. 
Auch solche Zwänge sind Themen der Architekturkritik.
Darüber hinaus ist in der Vielzahl guter Architekten und auch ambitionierter Bauherren, die es derzeit durchaus gibt, eine Chance für pluralistische Lebensverhältnisse angelegt, die von der Architurkritik erläutert, verglichen und in konkreter Umsetzung auch bemängelt werden muss. Dazu bedarf es einer fachlichen Kompetenz, die Laien nicht haben können und auch gar nicht haben müssen. Unsere plurale Gesellschaft darf deswegen die wachsende Bedeutung der Kritik gern zur Kenntnis und Kritiker dafür in eine (bezahlte) Verantwortung nehmen. Damit sind wir schon wieder bei einem anderen Thema, dem sich die Architekturkritik widmen muss: der Veränderung von "Medien".


(1) Dieter Hoffmann-Axthelm: Krise der Kritik – Kritik der Krise. In: arch+, Nr. 200, Oktober 2010
(2) Dieter Bartetzko: Durchschnitt. Das Einfamilienhaus der Wulffs. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Dezember 2011
(3) Hanno Rauterberg: In: Die Zeit, 5. Juli 2012
(4) Johan Schloemann: Angriff des guten Geschmacks. In: Süddeutsche Zeitung, 10./ 11. November 2012
(5) Michael Schindhelm: Kultur zum Selbermachen. In: Süddeutsche Zeitung, 10./ 11. November 2012
(6) Christian Demand: Der Fisch, der Fahrrad fährt. Architekturkritik als Laienpredigt. In: Merkur, 9-10, 2012
(7) Cassierer, zit. nach Sandkühler (siehe (9)
(8) Holger Reiners: Brauchen wir noch Architekten? München 2012
(9) Hans Jörg Sandkühler: Pluralismus. In: ders. (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie, Bd. 2, Hamburg 1999

Christian Holl: Objektivität
Ursula Baus: Wie wir über Architektur streiten
Ursula Baus: Tagespresse

Andere Artikel in dieser Kategorie