Plötzlich diese Überschrift

Christian Holl
6. Februar 2013
Vasen aus Porzellan: Maxim Velcovsky, Waterproof Onion, Qubus, 2004 (Bild: © Marek Novotny) 

Gibt es das? Entwürfe, die den Anspruch haben "unser Leben im Spannungsverhältnis von Moderne und Romantik neu zu reflektieren"? Im Design jedenfalls sind sie keine Einzelfälle. "Isn't it romantic?" im MAKK in Köln zeigt "zeitgenössisches Design zwischen Poesie und Provokation". Wer hier provoziert wird, sei dahingestellt, wichtiger scheint etwas anderes: "Sehnsucht nach Schönheit und Harmonie oder nach einem Ort der Erfüllung lässt sich durchaus als Gegenentwurf zur Moderne verstehen, die unsere heutige Gesellschaft maßgeblich geprägt hat", so liest man am Eingang. Die Moderne: Sie wird repräsentiert im zweckrationalen, reduzierten, schlichten Funktionsdesign. Auch dieses Schwarz-Weiß darf in Frage gestellt werden. Der in Köln präsentierte Gegenentwurf setzt auf Emotion, Patina, Handschrift, auf das Unregelmäßige und Narrative. Ein Kronleuchter, kombiniert mit einem Regenschirm von Philippe Starck, eine betont rohe Porzellanserie "Crockery" von Max Lamb, der der Schliff versagt blieb, der sie geglättet hätte. Ein Sofa von Maurizio Galante, dessen Form und Bezug suggeriert, man setze sich in Kakteen. Ein ernsthaftes Spiel mit Referenzen und Sehnsüchten, Ängsten und verharmlosenden Idealisierungen. Von Julia Lohmann sind winzige Porzellanfigürchen zu sehen, Abgüsse gefrorener Mäusebabys, die man als Schlangenfutter kaufen kann. Die Befriedigung der Sehnsucht nach Natürlichem und Traditionellem hat eine Schattenseite, und sie wird nicht verschwiegen.
Das ist wichtig in einer Zeit, in der es selbst den Gummistiefel, das pragmatische, nützliche und schmucklose Schuhwerk des Bauern, schon als teures Markenprodukt gibt – die Assoziation an harte Arbeit, Massentierhaltung oder industrielles Schlachten wurde ihm gründlich ausgetrieben. So gestylt ist er das Fachwerkhaus mit kontrollierter Lüftung unter den Schuhen. Er ziert des Großstädters sensibles Seelchen mit einem Hauch von Traditionellem, Authentischem, ohne dass der zugehörige Körper nach Schweiß stinken müsste. Den Großstädter bekümmert der ausbleibende Regen im Frühjahr nicht, solange die Sonne scheint.

Frédéric Dedelley, Memento Mori, 2010 (© HELMRINDERKNECHT contemporary design, Berlin) 
Das Land ruft

Und dann das: "Vergesst die Großstadt!" war am 27. Januar ein Beitrag in der FAS betitelt. Nicht nur der Gummistiefel wegen versprach dieser Artikel viel. Nach all den Diskussionen über den knappen und teuren Wohnraum in den Städten, dem hochtrabende Reden von der Renaissance der Städte vorausgegangen waren, konnte sich einem tatsächlich die Frage stellen, ob es nicht eine Chance sein könnte, den ländlichen Raum wieder zu entdecken. Auch Rem Koolhaas hat sein Interesse für den ländlichen Raum inzwischen bekundet (siehe auch eMagazin 27|11: Wo das Posthorn schweigt). Nicht nur die Zwischennutzer drohen Opfer ihres Erfolgs zu werden, auch die anderen Innenstadtbewohner, sofern sie nicht über üppig gefüllte Brieftaschen, einen gnädigen Mietvertrag oder über Wohnungseigentum verfügen, können ein Lied davon singen: Die Innenstadt wird nicht nur gnadenlos vermarktet und mit Events vollgestopft, auch einigermaßen erschwinglichen Wohnraum in den Städten zu finden ist schwer geworden. Wohnungsbau wird, wenn die Zeichen nicht trügen, ein Wahlkampfthema werden.
Vergesst die Großstadt. Allerdings war nicht von einer hierzulande aktiven Bewegung die Rede, die, anstatt hohe Mieten zu zahlen, lieber auf das Land zieht. Anders als in den USA, so der Autor Ralph Martin wo die "Ruralisierung der Boheme" einsetze und die Kleinstadt von aus Brooklyn wegen horrender Mieten auswandernden Vertretern der Coolness erobert werde – ausgestattet mit echter amerikanischer Pioniermentalität, der frontier mentality, und dem Drang, "jedem, den man dort vorfindet, seinen Willen aufzuzwingen." Manhattan habe es aufgegeben, cool zu sein, die Stadt verliere die Fähigkeit, allen Altersgruppen ein Zuhause zu sein. Warum nicht bei uns, fragt sich der Autor und klagt, die Deutsche läsen immer nur "Landlust". Dabei seien die Voraussetzungen vergleichbar: "Alle großen europäischen Städte sind längst in die Hände von Reichen, Alten und Finanzkonzernen gefallen. Die Stadt als wilder, heterogener, unübersichtlicher Ort, als Versprechen an die Jungen, als Cool, ist offenbar keine kulturelle Konstante, sondern eine historische Erscheinung, die zumindest in der westliche Welt (...) an ihr Ende gekommen ist."

Darf man auch ironisch verstehen: Selbst auf Kakteen möchte man weich sitzen. Maurizio Galante, Canapé Cactus, Cerruti Baleri, 2011 (© Foto: Ezio Manciuccal) 

Darum geht es also: Um die Rettung eines großstädtischen Lebensmodells auf Kosten eines anderen, es geht um die Ausübung einer kulturellen Hegemonie dort, wo andere noch schwach genug sind, dass man ihnen seinen Willen aufzwingen kann. Das, was man erlitten hat, gibt man nun weiter. Wenn Martin darüber klagt, dass New York, Berlin, London und Paris die real existierende Boheme durch deren Simulakrum ersetzt habe, dann mag man dem zustimmen. Die Freiräume, die die Stadt einst bot, sie werden enger. Aber: Auf das Land auswandernden Intellektuelle, die den alten Inhalt als "Country Cool-Boheme" neu etikettieren, die ihr in der Großstadt lieb gewonnenes Lebensmodell reproduzieren – ist das nicht auch ein Simulakrum? Urban gardening auf dem Lande, soll‘s das gewesen sein? Schade. Schon wieder Markengummistiefel. Die neue Life-Style-Sau soll sprichwörtlich durch's Dorf gejagt werden.

Radikale Romantik ist nicht "romantisch"
Aber vielleicht nochmal zurück nach Köln. Wie dort Romantik reflektiert wird, lohnt den genauen Blick, schon allein, weil die Tendenzen, von denen dort gesprochen wird, sich auch anders wo ausmachen lassen. Im echten urban gardening etwa. Das Kunstforum fragte schon vor Jahren nach der Aktualität des Idyllischen. Und nachdem gerade in Frankfurt das Städel die dunkle Seite der Romantik untersuchte, zeigt nun das Sinclair-Haus in Bad Homburg, wie Künstler sich zur Romantik stellen. Schwärmerisch, verträumt, phantasievoll, poetisch aber auch kitschig und wirklichkeitsfern sei das, was man heute mit "romantisch" verbinde, so heißt es in Köln. Und diese Romantik-Vorstellung wird in der Ausstellung mehr als einmal ironisiert: "In Situ" von Julian Carretero etwa, eine Leiter, die keiner zu gebrauchen ernsthaft in Erwägung ziehen wird, der recht bei Sinnen ist. Aber urig sieht sie schon aus, mit ihren verwundenen Holmen, mit ihrer überzeichneten Handwerklichkeit. Das Holz wurde bei Ausgrabungen in Eindhoven sichergestellt: 600 Jahre alte Eiche. Das zeigt: Die ausgestellten Designer setzen nicht nur auf Emotion, sie setzen auf den gebildeten und aufgeklärten Betrachter, der zu deuten versteht. Frédéric Dedelley etwa, dessen wunderbare, fragile "Memento Mori" sich auf die zerstörerische Wirkung des Menschen beziehen lassen. Seine Objets Mélancoliques erinnern nicht zufällig an platonische Körper und damit an Dürers Melancolia, den rätselhaften Stich aus der Zeit zwischen Mittelalter und Renaissance – auf ihn zu verweisen stellt die Frage, welche Zeitenwende wir nun gewärtigen.

Baustelle der heilen Welt auf dem Frankfurter Römer. Die Schirn gegenüber zeigte 2010 Courbet: Der hat „ausgehend von der deutschen Romantik die Vision einer poetischen Kunst der Moderne realisiert“, so die Ankündigung. (Bild: Christian Holl) 

Die Designer in Köln reden, wie die Romantiker über das, was verloren zu gehen droht, und sie wissen wovon sie reden. Sie sind genauso wenig nur "schwärmerisch, verträumt, ...", wie es die Romantik gewesen ist. Die wusste um die verweigerte Versöhnung. Wer einmal alle Märchen der Brüder Grimm liest, wird sich wundern. In ihren Märchen hat nicht immer am Ende das Gute triumphiert. Und: Die Romantik kannte nicht nur die Kategorie des Schönen, sondern auch gerade die des Erhabenen. Sie hat als erste Kunstrichtung den unendlichen Raum ästhetisch ermessen, fand darin eine Entsprechung dessen, was sich in den philosophischen und politischen Diskursen zuvor geäußert hatte: "Die Bürger des 17. und 18. Jahrhunderts (...) haben für die Freiheit und für deren rechtliche Sicherung gekämpft und damit zugleich für Gleichheit und Gerechtigkeit optiert", wie Volker Gerhardt in seinem kürzlich erschienenen, grandiosen Buch "Öffentlichkeit" dargestellt hat. Menschenrechte werden zu Rechten Aller, sie werden nicht auf einen bestimmten Raum begrenzt, sie gelten überall, sie eint die Vielheit der Menschen, ohne sie zu vereinheitlichen: Das ist die politische Relevanz des unendlichen Raums – und dieser Raum ist einer der Öffentlichkeit, denn nur sie gewährleistet die Einhaltung dieser Rechte. Im Umgang mit der Kreatur, wie ihn Julia Lohmann anhand der Mäusebabys thematisiert, scheint diese Dimension auf, allemal mehr als in der Cappuccino-Urbanität der Großstädte, in denen verdrängt wird, was den neuen Gummistiefelträger stören könnte. Sie braucht wieder einen kräftigen Schuss echter, radikaler Romantik, die Großstadt. Und die Kleinstadt, das Land, sie brauchen eine Wertschätzung, die frei von schwärmerisch vernebelter Idealisierung amerikanischer frontier mentality ist. Die darf auch Großstädtern kommen.

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