Brutalismus

Ursula Baus
16. Mai 2012
Das Historische Museum in Frankfurt am Main, 1972 gebaut, 2011 abgerissen (Bild: Wikipedia_EvaK, 2007) 

"Der jetzige Bau ist, ganz höflich ausgedrückt, unangemessen und ein Zeichen von Brutalismus" – so adelte Frankfurts Kulturdezernent Felix Semmelroth 2007 das Historische Museum in Frankfurt von 1972, ohne es zu wissen. Und ohne wissen zu wollen, worum es beim Brutalismus überhaupt ging.
Die Inkubationszeit, bis Häuser als bauhistorisch kanonisiert gelten, wird immer kürzer. Inzwischen wissen Architekten deswegen recht gut, dass sie am besten wegkommen, wenn sie zu ihrer Architektur gleich eine Art "Labelisierung" mitliefern. Es schießen dann Ismen ins Kraut, über die wir im eMagazin immer mal wieder berichten. Ein frühes Beispiel dafür, wie ein so entstandener "Ismus" eine ganze Epoche kennzeichnen sollte, ist der Brutalismus. Ihm widmeten sich das KIT und die Wüstenrot Stiftung vergangene Woche in einem international besetzten, zweitägigen Symposium, das mehr Fragen aufwarf als beantwortete. Das muss nicht schlecht sein – denn so kann durchaus Bewegung in erstarrte, reflexartige Argumentationen gebracht werden.

Was ist Brutalismus?

Gleich zu Anfang des Symposiums setzten die Kunst- und Architekturhistoriker Werner Oechslin, Stanislaus von Moos und Kenneth Frampton methodische Akzente: Das Verhältnis zwischen Geschichte und Gegenwart und Geschichtsschreibung, zwischen Kunst und Architektur verändere sich nun mal, und zunächst müsse es für den Brutalismus darum gehen, einfach mal etwas Ordnung in seine Geschichte zu bringen (Oechslin).

Reyner Banhams Buch in der deutschen Übersetzung von 1966 
Asplund, Smithsons, Team X und Banham

Gemeinhin wird der "Brutalismus" auf Peter und Alison Smithson und Reyner Banham zurückgeführt, der 1955 mit einem Aufsatz in der Architectural Review den Begriff lancierte und in seinem 1966 erschienenen Buch "New Brutalism" einen fulminanten publizistischen Erfolg hatte  - obwohl er in eben diesem Buch den britischen Brutalismus bereits beendet sah. Noch im gleichen Jahr erschien die von Jürgen Joedicke herausgegebene deutsche Übersetzung bei Karl Krämer in Stuttgart -  zur Publikationsgeschichte siehe die rechte Spalte. Die Smithsons hatten sich in den 1950er Jahren, zunächst im Team X, gegen CIAM, gegen die formale Erstarrung der Vorkriegsmoderne gewandt und waren der Ansicht, dass das Bauen wieder künstlerisch, unmittelbar, echt im Umgang mit Material und Konstruktion sein solle. Es kursierten Mythen, wie der Begriff Brutalismus überhaupt in Umlauf kam: Was war mit Hans Asplund, den die Engländer besucht hatten und der schon vorher vom Brutalismus sprach? Wie ist die Episode zur Mischung von Peter Smithsons Spitzname "Brutus" und dem Vornamen "Alison" zu deuten? Welche Rolle spielt das französische Wort "brut", das wir hierzulande eher als Kennzeichen von Getränken denn als Charakterisierung von Beton kennen? Ein Begriff wie der "béton brut" meint eben nichts anderes, als dass der Beton materialgerecht eingesetzt sein möge – das deutsche Adjektiv brutal, das Substantiv Brutalität und schließlich auch ein Begriff wie Brutalismus sind mit ganz anderen, negativen Werten konnotiert. Wie auch immer: Smithsons Bauten und Aufsätze und Banhams Buch verhalfen dem Begriff zu erheblicher Aufmerksamkeit, was nicht zuletzt der ubiquitären englischen Sprache zuzuschreiben ist. Heute beschert der Begriff, der nicht nur in den europäischen Sprachen so unterschiedlich bewertet wird, ärgerliche Verwirrung. Und mit dieser Verwirrung hatten die Gelehrten ihre liebe Not. Zu bedauern ist, dass für die Begriffsgeschichte nicht auch skandinavische Wissenschaftler eingeladen waren, immerhin widmete sich Kenneth Frampton der Situation in Schweden.

Florian Dreher, Werner Oechslin, Stanislaus von Moos, Anette Busse und Kenneth Frampton (Bild: Ursula Baus) 
Rehabilitierung einer Epoche

Eine zweieinhalbtägige Veranstaltung mit 15 Vorträgen zusammenzufassen, kann der Einzelerkenntnis kaum gerecht werden. So beschränken wir uns hier auf die Relevanz, die das Thema vor allem für die Mitveranstalter, die Wüstenrot-Stiftung hat, die sich seit langer Zeit der Pflege moderner Architektur verpflichtet sieht. Bauten aus den 1960er und 1970er Jahren sind derzeit akut bedroht, weil sie eben noch nicht zur kanonisierten Baugeschichte gehören, aber dem Hype des Neuen auch nicht mehr entsprechen. Hilfreich waren Vorträge, die den Brutalismus in verschiedenen Ländern ausloteten – bestens erläuterte beispielsweise Jörg Gleiter die Situation in Japan oder  Tom Avermaete die Rolle Frankreichs in Nordafrika mit den "ateliers des bâtisseurs ATBAT". Sie bestätigten, dass, wo vom Brutalismus die Rede war, kein formal erkennbarer Stil, sondern eine Haltung auszumachen ist. Ziegel oder Beton, auch Stahl – rechte Winkel wie schräge Baukörper: Es ging seinerzeit zwar auch, aber nicht nur darum, "as found" zu bauen. Reyner Banham hatte 1966 weit ausgegriffen: Corbusier und Mies, atelier 5 usw. – aber seine Sammlung brutalistischer Architektur lässt sich kaum als schlüssig bezeichnen, wenn den Handlungssträngen der Nachkriegsarchitekten differenziert nachgespürt wird.

Jörg Gleiter erläuterte die Situation in Japan nach 1950 u. a. mit Kenzo Tanges Rathaus in Kurashiki von 1960 – Beton in Holzbauweisenoptik (Bild: Ursula Baus) 

Beatriz Colomina erinnerte an die individuellen Hintergründe von Persönlichkeiten, die traumatisiert aus dem Krieg zurückgekommen und in den 1950er und 1960er Jahren als Architekten tätig waren. Es gilt, die Handlungsimpulse einer kriegsgeschundenen Generation zu erkunden, um die Architektur des Brutalismus zu verstehen – und anzuerkennen, dass die Ästhetik, die daraus entwickelt wurde, in der Architekturgeschichte eine ebenso bedeutsame Rolle spielt wie Pracht und Prunk des Barock. Die Rolle der Kriegstraumata hatte Jörg Gleiter auch für japanische Architekten wie Kenzo Tange oder Arata Isozaki überzeugend präsentiert.

Denkmalschutz für Nachkriegsarchitektur ist in Schleswig-Holstein nicht gern gesehen (Bild: Ingrid Scheurmann im Vortrag) 
Praktische Denkmalpflege

Ingrid Scheurmann blies wieder den kalten Wind der denkmalpflegerischen Praxis in den Vortragssaal der 1960 von Werner Düttmann gebauten Akademie der Künste. Bevor die Denkmalpflege Bauten aus den 1960er bis 1980er Jahren unter Schutz stellen kann, sind diese – wirtschaftlich – längst abgeschrieben und damit für ein Land, in dem Architektur immer öfter nur ökonomisch und nicht kulturell bewertet wird, Abrisskandidaten. Manche Denkmalpfleger hängen, so Scheurmann, außerdem immer noch – kunst- und kulturwissenschaftlich unbegreiflich – der These nach, die Denkmalpflege sei lediglich Anwalt des "schönen Alten". Als ob je ein Schönheitsempfinden generationsunabhängig gewesen wäre. Freundet man sich mit der vorläufigen These an, dass die Architektur des so genannten Brutalismus erst einmal im Fachdiskurs analysiert und das so erarbeitete Wissen popularisiert werden müssen, dann wird es höchste Zeit. Der Wüstenrot-Stiftung gebührt in diesem Sinne Anerkennung, weil sie sich an die Spitze eines Bewertungswandels traut.
Der Kalamität, dass brut und brutal, brutalims und Brutalismus in unterschiedlichen Sprachen gänzlich unterschiedliche Bedeutung haben, konnte in Berlin nur andeutungsweise etwas entgegen gesetzt werden. Es ginge aber darum, die exzellenten Brutalismus-Bauten der 60er bis 80er Jahre gegen die kaum zu zählenden Trivialbrutalimus-Beispiele differenziert und argumentativ zu verteidigen. Längst engagieren sich Bürger für die Bauten einer Epoche, die ihnen eine moderne Heimat bieten. Die Geschichtswissenschaften sind jetzt im Zugzwang. ub

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