Ablenker am Steuer

Christian Holl
17. Oktober 2012
Eine Herausforderung an Politiker, Planer und Gestalter: Die Popularität des Fahrrads. (Bild: Erich Westendarp/ pixelio.de) 

Anfang September hat das Kabinett der Bundesregierung den "Nationalen Radverkehrsplan 2020" (NRVP) beschlossen. Etwa drei Millionen Euro werden dafür ab 2013 jährlich investiert. Wofür die genau ausgegeben werden sollen, das erschließt sich beim Lesen dieses "Plans" nicht. Dort stehen viele freundliche Sätze, man findet ein paar nette Ideen, vor allem aber Unverbindliches. Dazu gehören so aussagekräftige Formulierungen wie: "Der Bund wird sich für eine Verbesserung der Abstellsituation an Bahnhöfen einsetzen." Es beruhigt auch sehr, dass der Bund "eine Dachmarke mit einem eigenen Logo entwickeln" wird, die er "vorrangig für seine eigenen Maßnahmen der Radverkehrsförderung nutzen wird." Muss sich da ein Bundesminister Ramsauer noch wundern, wenn gerade die Radverbände enttäuscht sind? Die Last der Investition sollen die Kommunen tragen, am Bund können sie sich kein Beispiel nehmen, der reduzierte die Ausgaben für den Bau von Radwegen innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs von 100 Millionen Euro (2010) auf 86 (2011) und 76 im Jahr 2012. 2013 sollen es nur noch 50 Millionen Euro sein. Ein wenig erfreuliches Bild, das weiter durch das Geschimpfe Ramsauers auf "Kampfradler" getrübt wird. Vor diesem Hintergrund ist auch brisant – schon im Februar hatte die Zeit darauf hingewiesen –, dass mit Ramsauers neuem Konzept der Punkte-Regelung für Verkehrsvergehen Raser begünstigt werden. Raser in PKWs versteht sich.

Potenziale liegen brach

Dabei wächst der Radverkehr ständig. Und hätte wahrscheinlich noch ganz andere Potenziale als die im NRVP angegebenen Steigerungsraten: Dort wird das Ziel ausgegeben, den Anteil des Radverkehrs an allen zurückgelegten Wegen bis 2020 auf 15 Prozent gegenüber zehn Prozent von 2008 zu erhöhen. Inzwischen werden in Deutschland mehr Räder als Autos gekauft, etwa 70 Millionen gibt es in Deutschland, Pedelecs machen auch längere Strecken, Steigungen, das Radfahren für Ältere attraktiv. Radverleihsysteme haben inzwischen teilweise großen Erfolg, auch wenn, wie in Nürnberg oder Kassel, noch nachgeholfen werden muss – wobei sich allerdings auch direkt die Frage stellt, warum Radvermietungen nicht wie der ÖPNV selbstverständlich und dauerhaft subventioniert werden dürfen. Dass es keine befriedigende Antwort auf diese Frage gibt, ist ein Hinweis darauf, dass die Realität bei der Politik noch nicht so recht angekommen ist. Mit der populistischen Polemik gegen Kampfradler soll davon offensichtlich nur abgelenkt werden. Mit einem solchen Feindbild wird nur die Einsicht blockiert, dass sich die Aufgaben, die sich mit dem steigenden Radverkehr stellen, nicht mehr so ohne weiteres durch ein Fortschreiben bisheriger Routinen lösen lassen.

"Der Bund wird sich für eine Verbesserung der Abstellsituation an Bahnhöfen einsetzen." Es gibt viel zu tun. Statt Radparkhäuser wie in den Niederlanden findet der Radler in Deutschland Radleichen an den wenigen Radparkplätzen. (Bild: Christian Holl) 

Denn so ärgerlich im einzelnen Radfahrer, die sich nicht an Regeln halten, auch sein mögen – sie sind nicht ärgerlicher oder gefährlicher als Autofahrer oder Fußgänger, die sich nicht an Regeln halten. Viel eher muss man wohl konstatieren, dass die Balance nicht mehr stimmt, dass die planerische und politische Sorgfalt und die Aufmerksamkeit, die dem Radverkehr gewidmet wird, dessen Zuwachs nicht mehr gerecht wird. Wie oft müssen Fahrradfahrer absteigen, weil der Radweg endet, können schnellere Radler langsamere nicht überholen, müssen umständlich eine Kreuzung queren, bei engen Radwegen aufgehende Türen parkender Autos fürchten. Autos parken auf Radwegen, die Ampelphasen sind für PKW-Geschwindigkeiten ausgelegt, die wenigen Radparkplätze an Knotenpunkte werden oft monatelang von Fahrrädern blockiert, deren Besitzer sich nicht mehr für sie interessieren – die Liste ließe sich fortsetzen. Den so genannten Kampfradlern stehen viele geduldige und rücksichtsvolle Radler gegenüber, die sich mit all diesen Schwierigkeiten arrangieren. Anstatt auf Kampfradler zu schimpfen, müsste mit deutlich größerer Energie und höherem Mitteleinsatz als bisher nach Modellen gesucht werden, wie die heterogene Gruppe der Radfahrer und der Platzbedarf des deutlich gestiegenen Radverkehrs so berücksichtigt werden, dass es nicht zwangsläufig zu Konflikten kommt.

Verkehr neu denken

Dafür müsste ein Denkprozess in Gang gesetzt werden, der nicht nur Ramsauer zu überfordern scheint. Es hieße zunächst, konsequenter Radfahren als eine Komponente eines vernetzten Systems zu verstehen. Es genügt nicht, mehrere Systeme parallel zueinander zu betrachten, man muss sie gezielt miteinander verknüpfen – über eine intelligente Steuerung ließen sich freie Parkplätze über Smartphones ebenso anzeigen wie freie Räder nahe gelegener Mietradstationen. Denn es wird nicht nur mehr Rad gefahren, es wird das Rad auch anders genutzt: als ein dem ÖPNV vergleichbares und ihn ergänzendes Angebot, das einem die Flexibilität und Beweglichkeit sichert, die das moderne Leben mit den Chancen der (und oft genug auch dem Zwang zur) Mobilität bietet (beziehungsweise fordert). Auch das Carsharing entwickelt sich zu einem Erfolgsmodell nicht zuletzt, weil die pragmatischen Vorteile des Teilens wichtiger als das Auto als Statussymbol werden – bei Jugendlichen nimmt, wie Trendforscher schon lange erkannt haben, die Bedeutung des Autos ab: 1999 noch waren 17 Prozent der Neuwagenkäufer jünger als 30, 2009 waren es nur noch sieben Prozent.

Viel zu schmale Radwege – einer von vielen Gründen für die Konflikte zwischen einer wachsenden Zahl von Radfahrern und anderen Verkehrsteilnehmern. (Bild: Egon Häbich/ pixelio.de) 

Diese Trends treffen sicher deutlich häufiger in den Städten als auf dem Land zu. Ramsauers Politik und Polemik als eine zu verstehen, die sich bei seiner Stammwählerschaft verortet, ist allerdings wenig tröstlich – gute Politik muss nicht dort die einen gegen die anderen ausspielen, wo es überhaupt nicht notwendig ist. Denn auch auf dem Land könnten die Möglichkeiten, das Rad zu nutzen, verbessert werden.
Auf Zeit spielen hilft nicht. Letztlich ist der Radfahrboom keine Freizeitmode wie es das Inlineskaten gewesen sein mag. Dahinter stehen nicht nur viele pragmatische Vorteile, sondern auch neue Lebensmodelle, die schon lange dem überkommenen Familienklischee der Nachkriegszeit nicht mehr entsprechen, Lebensmodelle, in denen das Radfahren nicht nur Ausdruck eines Lebensstils, sondern schlicht und einfach ein Teil der Alltagsbewältigung ist. Der gestiegene Radverkehr ist dabei auch Teil jener Prozesse dank derer die Stadtzentren an Bedeutung gewonnen haben.

Verkehr produziert Stadt

Die Konsequenzen dieser Entwicklungen müssten aber auch in deutlich erheblicherem Maße als bislang gestalterische Fragen einbeziehen. Bislang war der Verkehr in Städten und Ortschaften davon geprägt, dass man sich mühte, Auto- und Fußgängerverkehr gerecht zu werden. Radwege wurden dort angelegt, wo es weder den einen noch den anderen Verkehr beeinträchtigte, wurden entweder auf Bürgersteigen oder als schmale Zusatzspur auf der Straße angelegt. Auch sonst folgte man entweder der Logik des einen oder der des anderen. So manch merkwürdig gewundener Radweg, und andere oben genannten Mängel – etwa jener der zu kurzen Ampelphasen – erklären sich so. Und ebenso, wie es Jahre dauerte, bis Fußgänger wieder einigermaßen gleichberechtigt berücksichtigt wurden, muss nun der Radverkehr grundsätzlich als ganzheitliche Aufgabe verstanden und mit langem Atem angegangen werden. Das bedeutet zu verstehen, wie sich Radfahrer bewegen, welche Räume sie benötigen, das bedeutet, Experimente zu wagen, wie die verschiedenen Verkehrsarten und -mengen neu aufeinander abgestimmt werden können. Das hieße, Universitäten und Forschungseinrichtungen damit zu beauftragen, nach Lösungen zu suchen, wie Straßen- und Stadtraum anders organisiert werden kann, ohne dass Radfahrer entweder wie langsame Autofahrer oder wie schnellere Fußgänger behandelt werden. Dafür darf man auch schauen, wie es die anderen machen: die Niederlande etwa. Oder Kopenhagen.

Schwacher Trost. Ob nach dem Umbau alles besser wird? (Bild: Christian Holl) 


Es wäre also auch eine Aufgabe für Designer, Architekten, Städtebauer: Ein Raumbild zu entwickeln, das den Raumwahrnehmungen und -produktionen der vernetzten Mobilität und des Nebeneinanders der verschiedenen Verkehrsarten gerecht wird; nach jenem, das im Nachkriegsstädtebau als gegliederte und aufgelockerten Stadt dem Primat des Autoverkehrs entsprach und als Alternative zu dem Raumbild des 19. Jahrhunderts, das derzeit so häufig als Allheilmittel postuliert wird, das aber sich vor allem am Fußgänger orientiert. Das hieße, Radfahren nicht lediglich als Verkehr, sondern als Ausdrucksform eines Lebensmodells und als eine Form der Stadtproduktion im Sinne Michel de Certaus zu interpretieren: "Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen".
Vor allem ist dann auch eine Politik gefordert, die die Verknüpfung von Bauen und Verkehr in einem Ministerium produktiv nutzt, eine Politik, die sich auf veränderte Rahmenbedingungen einlässt, sie aufgreift, die die Mittel und Möglichkeiten bereitstellt, daraus Modelle für die Zukunft zu entwickeln. Auf vermeintliche Kampfradler zu schimpfen ist dagegen nur ein hilfloser Offenbarungseid. ch

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