Nicht alltäglich

wulf architekten
20. Juni 2018
Blick von Westen auf das Pflegeheim mit den Panoramafenstern (Foto: Markus Guhl)
Worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?

Tobias Wulf: An sich handelt es sich um ein Alltagsprojekt. Bei näherem Befassen mit der Aufgabenstellung tritt jedoch die gesellschaftliche Bedeutung des Bauens für Senioren als wachsende Bevölkerungsgruppe zutage. Die Besonderheit ist die Normalität, die architektonisch so interpretiert werden muss, dass jegliche Banalität vermieden wird.

Detailansicht der Panoramafenster, die als Erker plastisch aus der Fassade treten und das Wesen des Hauses prägen. (Foto: wulf architekten)
Welche Inspirationen liegen diesem Projekt zugrunde?

Tobias Wulf:  Wenn man sich seit 30 Jahren mit diesem Thema beschäftigt und zu jeder "Generation" in der konzeptionellen Weiterentwicklung des Bauens für ältere Menschen einen baulichen Beitrag geleistet hat, liegt der Schwerpunkt der entwurflichen Herangehensweise in der Suche nach neuen Raumkonzepten, die dieser Entwicklung entsprechen.
Die spannende Frage nach Individualität und Gemeinschaft in einer unfreiwilligen Community, wie es im Pflegeheim nun mal ist, und der wirtschaftliche Zwang zu effizienten Nutzflächen ermutigte uns, den standardisierten Typus des Pflegezimmers "aufzubrechen". Durch die leicht aus der Fassade herausgedrehten Erker gelang es, die limitierte Raumgröße um etwa 10 Prozent zu erweitern.
Dies kommt einerseits der Raumqualität und andererseits der Plastizität der Fassade zugute. Die Zimmer gruppieren sich um großzügige Gemeinschaftsflächen mit polygonalem Zuschnitt. Es entstehen charaktervolle Räume, die die Wohnlichkeit betonen, ohne auf kostspielige Materialien zurückgreifen zu müssen.

Blick von Nordosten auf den Hauptzugang des Pflegeheims. Unterstützt durch den X-förmigen Grundriss empfängt das Haus seine Besucher. (Foto: Markus Guhl)
Blick von Südwesten (Foto: Markus Guhl)
Wie reagiert der Entwurf auf den Ort?

Tobias Wulf: Der auf den ersten Blick skurril wirkende x-förmige Footprint des Hauses ist präzise aus den städtebaulichen Strukturen des Umfeldes hergeleitet. Dieses besteht aus zeilenförmigen Wohnbauten der Nachkriegszeit in überwiegend viergeschossiger Bauweise. Die versetzten Straßeneinmündungen sind als verkehrsbremsendes Element typisch für dieses Gebiet. Der Neubau des Jakob-Sigle-Heims nimmt mit seinen beiden Höfen Bezug zu den einmündenden Querstraßen auf und bildet somit deren Zielpunkte.
Es entsteht ein Eingangshof auf der Nordseite und ein Gartenhof auf der Südseite.
Durch die dreiseitige Einfassung haben sie beschützenden Charakter und öffnen sich zugleich effektvoll zum öffentlichen Raum. So gliedert sich der Neubau trotz seiner eigenständigen Architektursprache ganz selbstverständlich in den städtebaulichen und sozialen Kontext ein.

Blick in ein Pflegezimmer mit der großzügigen Sitzbank, die in das Erkerfenster integriert wurde. (Foto: Markus Guhl)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren NutzerInnen den Entwurf beeinflusst?

Ingmar Menzer: Der Bauherr hatte klare Vorstellungen von seinen organisatorischen Abläufen und den wirtschaftlichen Zielen des Projektes. In diesem Rahmen haben wir die Konzeption entwickelt und das Projekt entworfen.
Während des gesamten Entwurfsprozesses haben wir den Bauherrn und Nutzer in unsere Planungen einbezogen und seine Wünsche funktional und gestalterisch in den Entwurf eingebunden.
Ziel über allem war ein Pflegeheim, das den Bewohnern einen möglichst „normalen“ Wohnalltag abseits eines Instituts- oder Krankenhauscharakters ermöglicht. Kaum ein alter Mensch zieht heute aus freien Stücken in ein Pflegeheim. Er tut es, weil es seine Situation erfordert. Wenn er es tut, dann sollte er trotz aller Einschränkungen ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen können. Das ist letztlich eine Frage des Betriebes und der Organisation des Betreibers. Wir Architekten schaffen dazu den Rahmen, in dem dies erst möglich wird.

Gemeinsam nutzbares Wohnzimmer, das allen Bewohnern die Möglichkeit bietet, dort zu kochen oder sich mit anderen zu treffen und auszutauschen. (Foto: Markus Guhl)
Blick von einer Loggia auf den Hauptzugang (Foto: Markus Guhl)
Wie hat sich das Projekt vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Bauwerk verändert?

Ingmar Menzer: Eine erste Konzeptstudie zur Bebauung haben wir bereits 2008 erarbeitet. Die Entwurfsvoraussetzungen hatten sich jedoch in der Zwischenzeit mit der geänderten Rechtslage zum Altenwohnen 2009 deutlich verändert. Zudem war zwischenzeitlich erkennbar, dass nicht für alle Bewohner ein Zwischenprovisorium gefunden werden konnte.
Damit war klar, dass das Projekt beginnend mit dem Pflegeheim in zwei Bauabschnitten umgesetzt werden und ein Teil des alten Pflegeheimes für die Dauer des ersten Bauabschnittes in Betrieb bleiben musste. Die Realisierung der größeren Baumasse des Pflegeheimes musste dadurch auf dem kleineren Teil des Grundstücks erfolgen. Der Bau des Gebäudes für das Betreute Wohnen konnte erst nach der Realisierung des Pflegeheimes begonnen werden. Dies führte zu einer Neuordnung des Grundstückes und schließlich auch zu einem neuen Entwurf.
Im weiteren Verlauf des Projektes wurde auf Wunsch des Bauherrn das Gebäude für das Betreute Wohnen unter Beibehaltung des Entwurfskonzeptes um zusätzliche acht Wohneinheiten erweitert.
Bei allen notwendigen Änderungen im Laufe des Projektes haben wir darauf geachtet, die Grundidee des Entwurfes nicht aus dem Auge zu verlieren.

Schwarzplan (Zeichnung: wulf architekten)
Grundriss Erdgeschoss: Pflegeheim (2017) und Betreutes Wohnen (2019). (Zeichnung: wulf architekten)
Schnitt Pflegeheim (Zeichnung: wulf architekten)
Luftbild (Foto: Emre Kayrak)
Jakob-Sigle-Heim Kornwestheim
Pflegeheim (2017) - Betreutes Wohnen (2019)
Rosensteinstraße 28-30
70806 Kornwestheim

Auftragsart
Direktauftrag / Machbarkeitsstudie

Bauherrschaft
Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg

Architektur
wulf architekten, Stuttgart
Mitarbeiter: Ingmar Menzer, Stephan Burger (PL), Emiliya Mykhaylyuk, Larissa Schuster

Fachplaner
Projektsteuerung: ARP Architektenpartnerschaft Stuttgart GbR, Stuttgart
Tragwerksplanung: Pfefferkorn Ingenieure, Beratende Ingenieure VBI, Stuttgart
Bauleitung: Ernst2 Architekten AG, Stuttgart
HLS-ELT: Deerns Deutschland GmbH, Stuttgart

Ausführende Firmen
Rohbau: Otto Heil GmbH & Co KG, Eltingshausen
Abbruch: Libare Rückbau GmbH und Libare Entsorgung GmbH, Winterlingen
Gerüst: Schnabel GmbH & Co. KG, Mosbach
Dachabdichtung: REFA Dachbau GmbH, Freiberg am Neckar
Fassade und Fenster: HW Heinrich Würfel Metallbau GmbH & Co. Betriebs KG, Sontra
Putz / Stuck: MDD Stuck GmbH, Hechingen
Sanitär: Hedisa Haustechnik GmbH, Stuttgart
Heizung: Bühr Lufttechnik GmbH, Gerlingen
Lüftung: Kiefer GmbH Luft- und Klimatechnik, Stuttgart

Hersteller
Fassade: Wicona / Sapa Building Systems GmbH
Fertigbäder: Kerapid GmbH & Co. KG
Linoleum: Forbo Flooring GmbH
WDVS: Sto SE & Co. KGaA
Aufzug: Alois Kasper GmbH Aufzugfabrik
Trockenbau: Knauf Gips KG
Farben: Sto und Caparol
Türen: Neuform-Türenwerk Hans Glock GmbH & Co. KG
Alu-Glas-Türen / Brandschutztüren: Wicona / Hydro Building Systems GmbH
Heizung / Bodenheizung: ClouSet Flächensysteme GmbH

Bruttogeschossfläche
Gesamt: 12.065 m²
Pflegeheim 7.094 m² / Betreutes Wohnen 4.971 m²

Gebäudevolumen
Gesamt: 37.244 m³
Pflegeheim 21.057 m³ / Betreutes Wohnen 16.187 m³

Gebäudekosten
Gesamt: ca. 18.000.000 €

Fotos
​Markus Guhl für wulf architekten
Emre Kayrak (Luftbild, Abb.8)
wulf architekten (Abb.3)

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