Alleskönner auf dem Land

PASEL-K Architects
23. August 2023
Baukultur im ländlichen Raum: der Gesundheitskiosk in Kirchheilingen, Thürungen (Foto: Thomas Müller, IBA Thüringen)
Worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?

Es war einzigartig, eine völlig neue, unbekannte Gebäudetypologie zu entwickeln. Insbesondere die Tatsache, dass es sich bei den Gesundheitskiosken nicht um eine städtische, sondern ganz im Gegenteil, um eine Aufgabe im ländlichen Kontext und zur Stärkung des ländlichen Raumes handelte, war für uns hoch spannend, da sie das Potenzial mit sich brachte durch Kleinstarchitekturen auf regionaler Ebene wirksam zu werden. Das Projekt war also viel größer als das Projekt. Bei der konkreten architektonischen Findung lag dann die die große Herausforderung der Bauaufgabe in der geforderten Deckungsgleichheit zwischen sozialen, ökologischen und ökonomischen Anforderungen an das Projekt, sowie in den sich nach und nach herauskristallisierenden funktionalen Anforderungen an die Gesundheitskioske. Neben der infrastrukturellen Bedeutung und der Stärkung der Daseinsfürsorge auf dem Land durch eine medizinische und telemedizinische Versorgung, sollten gleichzeitig Funktion wie Bushaltestelle, Treffpunkt / Neue Dorfmitte, WiFi-Hotspot, digitales schwarzes Brett, Info-Point und Regio-Kiosk sowie zentrale Ladepunkte für E-Mobilität und E-Bikes erfüllt werden. Die Gesundheitskioske sind also kleine Alleskönner. 

Klimagerechte Architektur im ländlichen Raum zur Stärkung der sozialen Infrastruktur: die Gesundheitskioske im Seltenrain (Foto: Thomas Müller, IBA Thüringen)
Welche Inspiration liegt diesem Projekt zugrunde?

Im Laufe der Bearbeitung wurde ziemlich schnell deutlich, dass mit einem seriellen, systemischen Ansatz nur bedingt die Anforderungen der einzelnen Gemeinden erfüllt werden konnten. Wollte man den spezifischen, lokalen Gegebenheiten gerecht werden, muss eine Strategie entwickelt werden, die einerseits auf Wiederholung bekannter Prinzipien in der Umsetzung zurückgriff und anderseits in der Lage war, individuelle, ›dorfeigene‹ Gebäude zu entwerfen. So entwickelten wir das Bild der Familie: jedes einzelne Mitglied hat seinen eigenen Charakter, seine eigenen Fähigkeiten und Talente, seine eigenen Bedürfnisse und Interessen – und trotzdem liegen allen Familienmitgliedern die gleichen genetischen Eigenschaften zugrunde. Es verbindet sie ein unsichtbares Band. Es sind so individuelle, identitätsstiftende Architekturen entstanden, die auch in einem übergeordneten Zusammenhang lesbar und über die einzelnen Dörfer hinaus als regionale Entwicklung wirksam werden.

Treffpunkt aussen, digitale medizinische Versorgung innen: die neuen Gesundheitskioske in Thüringen bringen das Land nach vorn! (Foto: Thomas Müller, IBA Thüringen)
Wie reagiert der Entwurf auf den Ort?

Die Gesundheitskioske sind ganz spezifisch auf die Gegebenheiten der jeweiligen Orte abgestimmt. Lediglich die Strategie ist übertragbar, das Vorgehen, die Umsetzung, der Bauprozess. Die gestalterischen Anforderungen leiten sich in den unterschiedlichen Dörfern individuell aus der Lage und den Notwendigkeiten im Dorf ab, freistehend/bebaut, Topografie/Landschaft, Denkmalschutz, Mobilität, Wendeschleife, Verkehrsinsel, etc. Der Wiederholungsfaktor lag folglich in einer soliden Grunddetaillierung, die dann durch das Handwerk an die jeweilige Situation angepasst werden konnte. Den spezifischen Architekturentwürfen lag also keine modulare Bauweise zugrunde, sondern eine gemeinsame ›Denkökonomie‹. Lediglich das Material Holz war von Anfang an gesetzt, da die Vorbildbauten exemplarisch für eine neue Holzbaukultur in Thüringen stehen sollten.

Haben Sie den Auftrag über einen Wettbewerbsbeitrag oder direkt erteilt bekommen?

Dem Auftrag ging ein konkurrierendes Verfahren voraus, bei dem einerseits Referenzen zu Arbeitsweisen in kollaborativen Prozessen gefragt waren und andererseits eine konkrete Ideenskizze zum Projektvorschlag unterbreitet werden sollte. Das Verfahren, das wir für uns entscheiden konnten, ging von den Auftraggebern des Landengel e.V., der Stiftung Landleben und der Internationalen Bauaustellung (IBA) Thüringen aus, die den Prozess beratend begleitete.

Gesundheitskiosk mit Bushaltestelle und E-Bike Ladestation: die neue Dorfmitte in Urleben, Thüringen (Foto: Thomas Müller, IBA Thüringen)
Welche besonderen Anforderungen wurden gestellt? Wie haben Sie diesen im Projekt Rechnung getragen?

Ziel war es von Anfang an, exemplarische Holzbauten zu schaffen, die nicht nur hinsichtlich der Materialverarbeitung und bezüglich baukonstruktiver Ansätze einen Leuchtturmcharakter für die Thüringer Holzbaukultur sein sollten, sondern auch neue Gestaltungsansätze und Umsetzungsprozesse ausloten sollten. Die Überlagerung einer klimaorientierten, ökologischen Nachhaltigkeit mit den konkreten Anforderungen zur Stärkung des sozialen Zusammenhaltes der Dörfer im Sinne einer sozialen Nachhaltigkeit, waren von Beginn an das erklärte Ziel im Umsetzungsprozess. So wurden regelmäßig stattfindende Bauhütten mit den Bewohnern und Akteuren vor Ort organisiert, mit unterschiedlichen Umsetzungs- und Beteiligungsverfahren experimentiert, zirkuläre Baumethoden getestet, gebrauchtes Material geerntet und im Wiedereinbau rezikliert, sowie unterschiedliche Werkstoffe, z.B. Dämmstoffe getestet. 

Entstanden sind eine Reihe unterschiedlicher und eigenständiger Gesundheitskioske, die sich einerseits an die dorfspezifischen Eigenheiten anpassen, andererseits aber einen größeren Zusammenhang bilden und über einzelne Dörfer hinaus als regionale Entwicklung wirksam werden. Einer Familie ähnlich bestehen alle Kioske aus eigenständigen Charakteren, basieren aber dennoch auf einem einheitlichen ›Gen-Pool‹.

Trotz einheitlicher Materialität in Holzbauweise, waren im Einzelfall die Ausgangpunkte in den verschiedenen Dörfern sehr unterschiedlich. Waren in Blankenburg denkmalpflegerische Ausgangspunkte leitend, so war es in Urleben die Herausforderung mit der Hanglage und der Geländetopographie des Dorfangers umzugehen. In Bruchstedt bezieht der Gesundheitskiosk Stellung am Brückenkopf und bildet freistehend die neue Mitte im Dorf, wohingegen er sich in Kirchheilingen grenzständig an seine Nachbarn anpasst. In Sundhausen wurde gänzlich auf Neubau verzichtet und mit dem Haus-im-Haus-Prinzip der Bestand des ehemaligen Dorfkonsums transformiert. 

Neue Baukultur auf dem Land: der Gesundheitskiosk in Urleben als experimenteller Holzbau in kollaborativer Bauweise erstellt (Foto: Thomas Müller, IBA Thüringen)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren Nutzer*innen den Entwurf beeinflusst?

In den Entwurfsphasen wurden regelmäßige Bauhütten mit allen Beteiligten, Auftraggebern und zukünftigen Nutzern durchgeführt. Aus diesen heraus haben sich nicht nur unterschiedliche Anforderungen für den Entwurf herausgebildet, sondern auch engagierte Akteursgemeinschaften in den einzelnen Dörfern gebildet, in denen die Dorfbewohner gemeinsam mit lokalen Handwerkern in die konkrete Umsetzung der verschiedenen Gesundheitskioske einbezogen wurden.

Gesundheitskiosk in Urleben, Treffpunkt, soziale Mitte und telemedizinische digitale Versorgungseinrichtung (Foto: Thomas Müller, IBA Thüringen)
Wie hat sich das Projekt vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Bauwerk verändert?

Auf der programmatischen Ebene haben sich die Kleinstbauten im Laufe der Zeit zu reinen Funktionswundern entwickelt. Sie sind nicht nur Teil einer sich neu entwickelnden Gesundheitsinfrastruktur, sondern bilden einen realen und sicheren Standort der Gesundheitsfürsorge und des sozialen Miteinanders. Sie sind an das digitale, telemedizinische Versorgungsnetz angeschlossen und dienen als Treffpunkt, drinnen, wie draußen im Außenraum. Mit WiFi ausgestattet, bieten die langen überdachten Fassaden-Bänke nicht nur eine komfortable Wartesituation für die Bushaltestelle, sondern ebenso einen attraktiven Ort für die Jugend zum ›abhängen‹. 

Entscheidender Teil des Entwurfsprozesses war die Suche nach dem geeigneten Bauplatz, der inhärent an die Leistungsfähigkeit einer neuen sozialen Mitte gekoppelt war. So wurden im Laufe der Zeit mehrere potenzielle Standorte in den jeweiligen Dörfern getestet und wieder verworfen, bis die jeweils zentralen Positionen gefunden wurden.

Inwiefern haben Sie im Projekt die Verwendung von Naturbaustoffen und zirkulären Baustoffen angestrebt?

Neben der Zielsetzung ökologisch und nachhaltig bauen zu wollen, gab es aufgrund des sehr geringen Budgets, das für die Gesundheitskioske zur Verfügung stand, die Notwendigkeit über alternative Bauprozesse, Eigenleistung, Beteiligung und auch einen optimierten Materialeinsatz im Sinne des ressourcenschonenden Bauens neu nachzudenken. So wurden nicht nur auf der sozialen Ebene möglichst viele Akteure aktiv in die Projekte eingebunden, sondern mussten auch für den Einsatz und die Wiederverwendung von Baustoffen kreative Lösungen entwickelt werden. Der Materialeinsatz war damit untrennbar mit einer sozialen aber ebenso mit einer ökonomischen Frage verbunden. 

Der Gesundheitskiosk in Blankenburg, digitale Versorgung meets physische Hilfe und Erstversorgung Thüringen (Foto: Thomas Müller, IBA Thüringen)
Welche digitalen Instrumente haben Sie bei der Planung eingesetzt?

Der digitale Austausch war besonders mit dem Holzbauer sehr vorteilhaft, hier wurden nicht nur in der Planungsphasen digitale CAD Modelle zu Planungs- und Abstimmungszwecken ausgetauscht, sondern auch in der Umsetzung ergänzend zu den Vor-Ort-Terminen digitale Baustellen-Begehungen durchgeführt. Hierdurch war eine höhere Baustellenbetreuung möglich und konnte in dialogischen Abstimmungen schnell und passgenau auf die Herausforderungen der einzelnen Baustellen auch von Fernab reagiert werden. 

Mobilität trifft auf Gesundheits- und Daseinsfürsorge: die neuen Sozialbauten der Gesundheitskioske auf der zentralen Verkehrsinsel: Anlaufstelle, Treffpunkt und Bushaltestelle. (Foto: Thomas Müller, IBA Thüringen)
Welche Überlegungen stecken hinter den Entscheidungen für die eingesetzten Materialien?

Im Falle des Holzbaus steht natürlich der nachwachsende, CO2-speichernde Rohstoff im Vordergrund und der Wunsch aller Beteiligten klimagerecht Bauen zu wollen. 

Der Einsatz von rezyklierten, wiederverwendeten Baustoffen führte Aufgrund des vorherigen Ausbaus der Materialien zum intensiven Austausch über reversiblen Verbindungen und einem hohen Grad an zirkulärem Bauen. Dieser Ansatz war auch, aber nicht nur, ökonomisch motiviert und konnte vor allem aufgrund von Eigenleistung in die Realität umgesetzt werden.

Das Ziel einfache, reduzierte, aber trotzdem gestalterisch hochwertige Vorbildbauten zu schaffen, führte zu einer Einfachheit des Bauens, die Ihre Vorteile gerade auch in einer hohen Reproduzierbarkeit und Kopierbarkeit hat. Beim baukonstruktiven Ansatz stand weniger die Erfüllung der DIN-Normen im Vordergrund als vielmehr die ernsthafte Frage, wie man gemeinsam eine angemessene, verantwortungsvolle Architektur schaffen kann, die sich den jeweiligen Bedingungen eines spezifischen Ortes annimmt und den Interessen der Beteiligten gerecht wird.

Der Regio-Kiez: Stärkung einer dörflichen Region durch soziale Infrastruktur (Zeichnung: PASEL-K Architects)
Beschäftigten Sie sich im Büro mit den Tendenzen des zirkulären Bauens und der sozialen Nachhaltigkeit?

Zirkuläres Bauen wird ein zunehmend wichtiger Bestandteil in der Architektur. Es ist nicht nur an die Rohstofffrage, den Ressourcenverbrauch und die Qualität von Baustoffen gekoppelt, sondern auch untrennbar mit grundlegenden baukonstruktiven Fragen verbunden. Insbesondere das Thema der Reversibilität von Verbindungen wird eines der großen Zukunftsfelder werden. Daran wird in den kommenden Jahren eine völlige Neubewertung der gesamten architektonischen Qualität stattfinden, vom Entwurf bis in die Detaillierung. 

Das Spannende sind bei dieser Entwicklung weniger die sich in der Folge herausbildenden Zertifizierungen und Standardisierungen, sondern die Tatsache, dass das Entwerfen in zwei Richtungen verstanden werden muss, vorwärts- und rückwärts. Der ›Wert‹ von Architektur wird sich zukünftig also auch an der Frage messen, inwieweit einem Entwurfsansatz nicht nur potenzielle Transformationseigenschaften und Nutzungsänderungen zugrunde liegen, sondern auch welchen konkreten Materialwert es hat und unter welchem energetischen Aufwand die Materialressource ›Haus‹ wiederverwendet werden kann. Im Büro beschäftigen wir uns zunehmend mit dem ›Entwerfen rückwärts‹, das die Architektur aus vorhandenen Rohstoffen, und zur Verfügung stehenden Materialien heraus denkt.

Lageplan Dorfregion Seltenrain, Positionierung der Gesundheitskioske in der Dorfmitte (Bild: PASEL-K Architects)
Grundrisse Gesundheitskioske: Alle Gesundheitskioske sind ortsspezifischen Gegebenheiten angepasst (Zeichnungen: PASEL-K Architects)
Schnitte Gesundheitskioske: Alle Gesundheitskioske sind Teil eines größeren räumlichen Gefüges, eines größeren Ganzen (Zeichnungen: PASEL-K Architects)
Nutzungspotenziale der Gesundheitskioske: zentrale Versorgungs-Hubs im Dorf
Minimale architektonische Eingriffe schaffen einen Aufenthaltsort in der Dorfmitte (Bild: PASEL-K Architects)
Kollaborative Prozesse und zirkuläres Bauen als elementare Bestandteile der Gesundheitskioske im Seltenrain (Bild: PASEL-K Architects)
Energie, Versorgung, Vernetzung. Vorbildarchitekturen in Zeiten des Klimawandels: die Gesundheitskioske im Seltenrain (Zeichnung: PASEL-K Architects)
Gesundheitskioske
2022
Region Seltenrain
99947 Kirchheiingen
 
Nutzung
Multi- Gesundheitsbauten
 
Auftragsart
Qualifizierendes Verfahren
 
Bauherrschaft
Landengel e.V., Stiftung Landleben, IBA Thüringen
 
Architektur
PASEL-K Architects, Berlin
Projektleitung: Ralf Pasel, Mareike Krautheim 
Mitarbeit: Marie Dahlmann, Charlotte Perschmann
 
Fachplaner
Planergruppe, Bad Langensalza
 
Ausführende Firmen
Holzbau Krieghoff, Bad Langensalza
 
Bruttogeschossfläche
162,5 m²
 
Gebäudevolumen
556 m3
 
Kubikmeterpreis
630 €/m3
 
Gebäudekosten
350.000 €
 
Gesamtkosten
500.000 €
 
Auszeichnung
Deutscher Städtebaupreis 2023 (u.a.)
 
Fotos
Thomas Müller

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