Abstraktion und Einfühlung
In der Tchoban Foundation Berlin sind bis Anfang Juli Meisterzeichnungen aus der Wiener Albertina zu sehen. Falk Jaeger hat die Ausstellung besucht.
Was haben Johann Bernhard Fischer von Erlach und Hans Hollein außer ihrer Wirkungsstätte Wien gemeinsam? Was verbindet den Ornamentverächter Adolf Loos mit dem Dekorfanatiker Gian Lorenzo Bernini? Nichts Wesentliches, mag man denken. Und trotzdem sind sie in einer Ausstellung des Berliner Museums für Architekturzeichnung vertreten, gemeinsam mit knapp drei Dutzend weiteren Baukünstlern von Giulio Romano bis Frank Lloyd Wright, von Francesco Borromini bis Zaha Hadid, von Antonio Galli-Bibiena bis Josef Frank, von Hubert Robert bis Friedrich Kiesler.
Gemeinsam ist allen ausgestellten Blättern die Herkunft aus der Wiener Albertina. Der Leiter der Architektursammlung der Albertina, Christian Benedik, hat die hochkarätige Schau aus der 35.000 Zeichnungen umfassenden Sammlung als eine Abfolge von Highlights aus sechs Jahrhunderten zusammengestellt.
Dass die Albertina bei der Tchoban Foundation zu Gast ist, hängt mit der Ausstellungspolitik der Stiftung zusammen. Sergei Tchoban, der seine bedeutende Privatsammlung in die Stiftung eingebracht hat und auch ein eigenes Museum auf dem Berliner Pfefferberg dafür errichtete, hat er ein internationales Netzwerk mit gegenseitigem Ausstellungsbetrieb aufgebaut, beispielsweise mit dem Soane´s Museum in London, der Eremitage in St. Petersburg, der Académie des Beaux Arts in Paris und der Cornell University in New York. So können vier Ausstellungen im Jahr gezeigt werden, jeweils eigene und Gastausstellungen im Wechsel.
Nun also «Meisterzeichnungen der Architektur aus der Albertina», und diesmal ist es keine Themenausstellung mit Bildungsanspruch und ausgeklügelter didaktischer Methodik wie «Piranesis Paestum», «Architektur im Kulturkampf» oder «Lebbeus Woods. ON-LINE», sondern ein lustvoller Parforceritt durch die Geschichte der architektonischen Bilderwelt.
Aus der Zeit 1431–1438 stammt das älteste Exponat, ein Blatt aus dem Musterbuch des Antonio Pisanello, Teile eines gotischen Turms zeigend. 2003 hat Hans Hollein das jüngste datiert, einen 20 Schilling-Geldschein mit dem Bild der Albertina, auf dem er während eines Restaurantbesuchs seine Idee des Flugdachs und der Rolltreppenanlage für den neuen Eingang der Albertina skizzierte. Keine Ehrfurcht heischende Zeichnung von Meisterhand also, sondern eine mit einem Augenzwinkern präsentierte Pointe, die dem beliebten Genre der «Serviettenzeichnungen» zuzurechnen ist (Tchoban selbst pflegte früher im angeregten Gespräch ganze Tischdecken zu bemalen).
Die Ausstellung zeigt wunderbare Blätter verschiedenster Genres der Architekturdarstellung, penible Studien, akribische Risse, stimmungsvolle Veduten, locker hingeworfene Skizzen und prächtige Projektpräsentationen bis hin zur Abstraktion zeitgenössischer Darstellungen.
Einen «szenografischen Perspektivblick in die Vierung von St. Peter in Rom» von Giovanni Nicolò Servandino zum Beispiel, der 1724 mit der Dramatik der Lichtführung die Möglichkeiten heutiger Foto- und Animationskunst vorweg nimmt. Einen romantischen «Entwurf für ein Schiller-Denkmal in idealem Landschaftsgarten», von Jakob Wilhelm Mechau und Johann Gottfried Klinsky, 1806 in der Manier der Zeit malerisch in Szene gesetzt. Oder eine prächtige Ansicht des Berliner Doms, die Otto Wagner 1891 quasi als Kommentar zu Raschdorffs damals in Bau befindlichem wilhelminischen Repräsentationsbau veröffentlichte, die aber trotz Verwendung neuester Bauweisen mit Glas und Eisen noch opulentere Züge aufweist.
Am faszinierendsten vielleicht jene Entwurfsskizzen von Bernini oder Borromini, die den unmittelbaren, individuellen Strich der Meister spüren lassen, Striche, die vor Jahrhunderten getan wurden und denen man fast glaubt, live zuschauen zu können. Hilfreich ist die intime Kabinett-Atmosphäre des hermetischen Museums, die Kontemplation und die Einfühlung in die Werke fördert. Wer glaubt, es sei mit der Rezeption derartiger Blätter auf guten Abbildungen in Büchern oder mithilfe von Scans am Bildschirm getan, wird in der Ausstellung von einer neuen Dimension des Kunsterlebnisses überrascht werden und einen gänzlich anderen Zugang finden.
Weitere Informationen
www.tchoban-foundation.de, Christinenstraße 18 a, 10119 Berlin
Ausstellung bis 10. Juli 2016, Mo–Fr 14–19 h, Sa / So 13–17 h. Katalog 30 €.
Prof. Dr. Falk Jaeger ist Autor, Architekturkritiker und Architekturhistoriker. Er schreibt Ausstellungs-, Buch- und Lexikonbeiträge zu Themen der zeitgenössischen Architektur, zu Geschichte und Theorie der Architektur und der Denkmalpflege.