Urban Dingsbums

Dirk E. Haas
14. November 2012
Bild: REFLEX architects_urbanists, Päivi Kataikko

Auch zwei Jahre nach dem Ende des europäischen Kulturhauptstadtjahres "RUHR.2010" sind Planung, Politik, Wissenschaft und Regionalmarketing auf der Suche nach Kriterien, die es rechtfertigen, dem Ruhrgebiet eine spezifische Urbanität zu attestieren. Die Region zwischen Duisburg und Dortmund, Wesel und Hagen gilt als einzigartiges Konglomerat aus verstädterten Zonen, großmaßstäblichen Infrastrukturen, dörflichen Enklaven und postindustriellen Wildnissen, das mit dem herkömmlichen Verständnis einer europäischen Stadt oder gar einer europäischen Metropole wenig gemein hat. Ganze Generationen von Stadtplanern haben hier in guter Absicht immer wieder Raumordnung zu betreiben versucht: Robert Schmidt, Gründungsdirektor des Siedlungsverbands Ruhrkohlenbezirk, dessen 1912 erschienene Dissertation "Denkschrift betreffend Grundsätze zur Aufstellung eines General-Siedelungsplanes für den Regierungsbezirk Düsseldorf (rechtsrheinisch)" nun Anlass für ein Robert-Schmidt-Jahr ist, gilt beispielsweise als Erfinder jener regionalen Grünzüge, die auch heute noch, 100 Jahre später, zum räumlichen Grundgerüst dieser ansonsten reichlich unübersichtlichen Region zählen. Es ist nicht ohne Ironie, dass diese Grünzüge, die ursprünglich dem Zweck dienten, ein Zusammenwachsen der Ruhrgebietsstädte und ihren unzähligen Siedlungen zu einer riesigen Ruhrstadt zu verhindern, heute als Beleg für eine spezifische Urbanität des Ruhrgebiets angeführt werden – aus der Abwehr (und Abwesenheit) von Stadt ist ein Merkmal für Urbanität geworden.

Eine vielversprechende Suche

Allerdings bleiben die Vorstellungen, was denn nun die "andere Urbanität" des Ruhrgebiets tatsächlich ausmachen könnte, bislang weitgehend blass. Während sich das Regionalmarketing darum bemüht, die Dichte der Museumslandschaft oder die Anzahl und Größe der Fußball-Stadien als Ausweis für die Einzigartigkeit der Region in den Vordergrund zu stellen, suchen Wissenschaftler derartige Eigenschaften häufig in der Raumstruktur selbst zu finden, zum Beispiel in der engmaschigen Verknüpfung von Siedlung und Freiraum oder der ausgeprägten Polyzentralität der Region. So wird die räumliche Eigenlogik des Ruhrgebiets zur Grundlage einer wie auch immer gearteten "Ruhrbanität" erklärt; letztlich bleiben es aber bislang raumplanerische Annäherungsversuche, denen es bislang nicht gelingt, das "Andere" einer ruhrgebietsspezifischen Lebensweise herauszuarbeiten, vor allem in Abgrenzung zu zwischenstädtischen Raumpraktiken, wie man sie etwa im Rhein-Main-Gebiet vorfindet.
Man könnte diese fortwährende Suche nach der anderen Urbanität im Ruhrgebiet also leicht als rein akademische Übung oder als übliches Begleitgeräusch im Standortwettbewerb der Regionen abtun. Sie ist unter Umständen aber sinnvoll, wenn sie berücksichtigt, dass sich das Ruhrgebiet nach erstaunlich zeitgemäßen Parametern vermisst – Pluralität statt Einheit, Brüche statt Kontinuität, Hybridität statt Identität – und daher für viele grundsätzliche Fragen ein dankbares Forschungs- und Experimentierfeld ist; diese Suche ist gerade dann vielversprechend, wenn sie nicht entlang traditioneller Stadt-Vorstellungen verläuft, die das Ruhrgebiet immer nur als defizitären Raum begreifen können, sondern entlang neuer Transformationsprozesse, die gegenwärtig im Ruhrgebiet stattfinden und womöglich die Basis legen für das, was künftig sein wird.

Auftaktsymposium Urbane Künste Ruhr (Bild: Urbane Künste Ruhr, Roman Mensing) 
Urbane Künste Ruhr

Die Auseinandersetzung mit derartigen Fragen ist zentrales Anliegen eines in der Nachfolge der Kulturhauptstadt RUHR.2010 neu geschaffenen Programmfelds: Urbane Künste Ruhrversteht sich als "Forschungsabteilung der Kulturmetropole Ruhr" und startete vor wenigen Wochen mit einem Auftaktsymposium, das nicht nur allgemeine urbanistische Themen, sondern konkrete Orte, in denen sich Diskurse neu bündeln lassen, in den Blick genommen hat. Der Stadtspaziergang des ersten Tages führte einerseits zu etablierten Kulturinstitutionen in der Bochumer Innenstadt, die sich künftig noch stärker mit Aspekten des Städtischen beschäftigen möchten, aber auch zu Orten, an denen sich Subkultur und Wissenschaft auf neue Art verknüpfen lassen. Der ehemalige Katholikentagbahnhof ist künftig nicht mehr nur temporärer "Szene-Ort", sondern beherbergt mit dem neu gegründeten Collaboratorium eine Einrichtung der Ruhr-Universität Bochum, die seinerzeit wie so viele Universitätsneugründungen im Ruhrgebiet auf der grünen Wiese außerhalb der Stadt errichtet wurde. Für kommende Urbanitätsdiskurse im Ruhrgebiet ist dies eine viel versprechende räumliche und programmatische Konstellation.

Der folgenreiche Abriss in Bruckhausen (Bild: LEGENDA e.V., Boris Sieverts) 
Das Bruckhausen Projekt

Die alte Entwicklungslogik des Ruhrgebiets mit ihrem unvermittelten Nebeneinander von Schwerindustrie und Wohnen war bis in die jüngste Zeit an kaum einem Ort besser erfahrbar als im Duisburger Stadtteil Bruckhausen. Hier ließ sich die wesentliche Urbanisierungsgeschichte des Ruhrgebiets mit einem einzigen Bild erzählen. Dieses Bild könnte bald Vergangenheit sein, es wird nicht leise und kaum merklich nach und nach verblassen, sondern in einem dramatischen Prozess verschwinden: Nahezu ein Drittel des Stadtteils wird in wenigen Monaten zugunsten eines Parks abgerissen, der als Puffer zwischen verbleibender Wohnbebauung und Hüttenwerk fungieren soll. Der konkrete Nutzen dieses Parks ist mehr als umstritten; Appelle für ein Abriss-Moratorium werden mittlerweile auch aus der Fachöffentlichkeit laut. Konstatieren muss man allerdings auch die schillernde Faszination dieses Vorgangs, denn die Gebäude werden in loser Folge und ohne erkennbares Muster abgerissen und an Ort und Stelle zu einem Granulat verarbeitet, mit dem die entstandene Lücke schließlich bedeckt wird. Es entsteht ein eigenartiges System aus para-öffentlichen Räumen in einem in Teilen abgerissenen Stadtquartier. Eine neue Herausforderung für die Wissenschaft, Planung, aber auch für die Stadtgesellschaft: Wie kann man mit solchen neuartigen Stadträumen umgehen, wie sie nutzen und besetzen?

Marxloh International und SchlimmCity

Welche mitunter abenteuerlichen Transformationskarrieren Städte und Stadtteile durchlaufen können, wird im benachbarten Stadtteil Marxloh noch sehr viel deutlicher: Hier liegen Aufbruch, Niedergang, Lethargie und neuerlicher Aufbruch – zeitlich wie räumlich – besonders dicht zusammen. Der Stadtteil, der in erster Linie durch seinen hohen Anteil an türkisch-stämmiger Bevölkerung und den Bau einer der größten Moscheen Deutschlands (das "Wunder von Marxloh") bekannt geworden ist, hat sich nach dem partiellen Niedergang der Stahlindustrie mittlerweile zu einer der ersten Adressen für Braut- und Abendmoden entwickelt. Zwar spielt der Stadtteil in den offiziellen Zentrenhierarchien Duisburgs oder des Ruhrgebiets keine besondere Rolle, für viele türkischstämmige Bevölkerungsgruppen aus Deutschland, Frankreich, Belgien und den Niederlanden ist Marxloh jedoch de facto ein Zentrum von internationalem Rang. Die Internationalisierung des Stadtteils, seiner Ökonomie und seiner Zentralität bleibt nicht ohne Auswirkung auf das, was künftig unter Urbanität im Ruhrgebiet zu verstehen sein wird.

Mode in Marxloh (Bild: LEGENDA e.V., Boris Sieverts) 

Nach wie vor gilt vielerorts die Attraktivität der Innenstädte als Gradmesser für Urbanität. In einer Region, in der viele Zentren um die Kaufkraft von immer weniger Menschen konkurrieren und sich gleichzeitig die Betriebsmodelle des Einzelhandels massiv verändern, wandeln sich notgedrungen die Entwicklungsbedingungen von Innenstädten – und damit das, womit Urbanität charakterisiert werden kann. Duisburgs Nachbarstadt Mülheim an der Ruhr zum Beispiel sucht im Rahmen des ExWost-Forschungsfelds "Innovationen für Innenstädte" nach neuen Ansätzen, die sich nicht darin erschöpfen können, lediglich Nachnutzungen für leerstehende Warenhäuser aus den 1960er Jahren zu generieren. Mit mehrwöchigen Festivals wie SchlimmCity und Ruhrzilla gehen auch Kulturinstitutionen wie der örtliche Ringlokschuppen dem Bedeutungswandel von Innenstädten nach; sie schließen dabei nicht aus, dass vom Einzelhandel bestimmte Innenstädte als Träger eines zeitgemäßen Verständnisses von Urbanität in absehbarer Zukunft keine besondere Bedeutung mehr haben werden.
Womöglich ist es daher sinnvoll, anstelle der Zentren und Kernräume dieser Region die "Epi-Zentren" der Veränderungsprozesse in den Blick zu nehmen, wenn diese Sehnsucht nach einer "anderen Urbanität" des Ruhrgebiets beforscht und beschrieben werden soll. Eine andere Sehnsucht, nämlich die eine Metropole sein zu wollen, muss hingegen Illusion bleiben. Das skurrile Mantra, mit dem der Begriff von der Metropole Ruhr nun seit einigen Jahren vorgetragen wird, verstellt einmal mehr den Blick auf die tatsächlichen Qualitäten dieses Raums und offenbart einen besonders verzweifelten Versuch, für die Region und ihre räumliche Eigenlogik einen passenden Begriff zu prägen. Klüger wäre es, sich die Ratlosigkeit tatsächlich einzugestehen und das Ruhrgebiet vorerst als das zu behandeln, was es ist: ein Wirrwarr an Nutzungen und Identitäten, mit einer Vielzahl an Grenzen, Übergangsräumen, blinden Flecken und räumlichen Dramen. Ein urban Dingsbums. Dirk E. Haas

Der Autor ist Stadtplaner, Stadtforscher und Mitinhaber des Büros REFLEX architects_urbanists. Er lebt und arbeitet in Essen.

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