Ohren zu und durch

Ursula Baus
21. März 2012
Ein Laubbläser vor der Tat: Nichts wie weg, wenn der Apparat angeworfen wird (Bild: Ursula Baus). 
Lärm – Quantität und Qualität

Lautstärke ist messbar, und eine bestimmte Anzahl von Dezibel erlaubt keinen Zweifel an ihren Konsequenzen. Reden wir mal nur von allgemeinen Wohn- und Kleinsiedlungsgebieten und reinen Wohngebieten, dann sehen VDI-Richtlinie 2058 und TA Lärm das so: Von 6 Uhr in der Frühe bis 22 Uhr am Abend dürfen 55 bzw. 50 dB nicht überschritten werden, in den Nachstunden dazwischen 35 dB. Und damit man sich etwas unter diesen Zahlen vorstellen kann: Ein ruhiger Garten wird mit 20 dB angesetzt, normale Unterhaltung mit 50 dB. Bei 60 dB liegt die Stressgrenze, und bei 65 dB beginnt das vegetative Nervensystem Schaden zu nehmen. Ab 85 dB müssen Arbeitgeber einen Gehörschutz zur Verfügung stellen, neben Kreissägen, dem Presslufthammer stressen 100 bis 120 dB. Bei 130 dB ist Schluss, da kann das Gehör Schaden nehmen, und Gehörschäden sind generell irreversibel. Aber ach! Der ganze Terror, den ein stetes Wassertröpfchen, ein leises Schnarchen, eine gut gemeinte Kaufhaus- oder Hotelbeschallung verbreiten, lässt sich in Dezibel leider gar nicht angeben. Architekturrelevante Differenzierung von Luft-, Körper- und Trittschall erlernt man im Studium und ist gut beraten, bei der Gebäudeplanung das Gelernte zu berücksichtigen. Nur: Das ganze Schallthema ist dermaßen komplex, dass mit Richtlinien und umsichtigem Bauen immer nur dort Abhilfe geschaffen werden kann, wo wieder mal über die Stränge geschlagen und aus Lärmbelästigung Körperverletzung wird. Gern wird an Schopenhauer erinnert, der im 30. Kapitel des 2. Bandes seiner Pargera und Paralipomena über "Lerm und Geräusch" klagte. Und darum geht es.

103.123 Autos durchqueren auf der A46 täglich Wersten, als Hochtrasse darüber die Werstener Straße – weit und breit ist die Gegend unbewohnbar. (Bild: Andreas Endermann) 
BMW und Bahn

Schützen muss man sich vor Lärm schon vor dem Einzug: Wird eine Wohnlage als "verkehrsgünstig" angeboten, dann ist gemeint, dass sie laut ist. Wir wissen alle, dass Mobilitätsbedürfnisse und überbordender Konsum in den Wegwerfgesellschaften die Ursachen dafür sind, dass immer mehr Menschen von hier nach da müssen oder wollen, dass immer mehr Güter über weite Strecken transportiert werden. Bis 2025 rechnen Experten mit einer Zunahme des Güterverkehrs hierzulande von rund 70 Prozent. Mehr Straßen, mehr Gleise, neue Start- und Landebahnen sind die logischen Konsequenzen, Dreck und Lärm inbegriffen. Das Rheintal beispielsweise, einst eine Landschaftsader, an der die deutsche Seele mal nicht martial genesen wollte, ist so gut wie verloren. Als Haupttrasse zwischen Rotterdam und Genua wird sie zwischen Bingen und Koblenz alle 3 Minuten von einem Zug befahren – in Zahlen: Anwohner sind dann von 100 dB geplagt, der Dauerschallpegel liegt hier bei 85 dB. Das ist die Dezibelzahl, bei der man als Arbeitender einen Gehörschutz tragen sollte. Das Rheintal: Verloren, versaut, und dann wird noch von Weltkulturerbe gefaselt?
Ähnlich geht es dem gesamten Gebiet rund um den Frankfurter Flughafen, Offenbach und Mainz inbegriffen. Hier, in den Ein- und Ausflugschneisen kann man nicht normal leben. Und das treibt die Menschen mit Wut im Bauch auf die Straßen. Eine Immobilie wird mit jedem Dezibel über 50 um etwa 1,5 % wertloser.
Was ist zu tun, wo Lärm als ökonomisch legitimierte Körperverletzung jegliches Dasein zur Qual macht? Schallschutzfenster schützen nur den Innenraum – und das mehr schlecht als recht. Schienenstegdämpfer und Flüsterbremsen werden debattiert, aber Güterzüge der Bahn sind jahrzehntelang im Einsatz, sodass die Anwohner des Rheintals lange warten könnten, bis sich eine neue Güterzuggeneration bewegt. "Flüstern" ist auch auf der Straße versprochen. Aber Flüsterasphalt ist teuer in der Herstellung und pflegeaufwändig: also auch nach dem Einbau teuer. Ja und? Dann werden Güter wegen teureren Transports eben auch teurer. Und solche, die nur kurze Wege zurücklegen, billiger. Lärmschutzwände werden derzeit flächendeckend entlang der Auto- und Bahntrassen gebaut: Was hier an Verschandelung von Landschaften, Dörfern und Städten entsteht, spottet jeder Beschreibung. Gefördert von der EU.

Eine innerstädtische Lärmschutzwand der Bahn – verlorenes Terrain (Bild: Grüne Liga) 
Stihl, Bosch, Kärcher & Co.

Neben diesen großräumig wirksamen Lärmquellen drängen die vermeintlich kleinen bis in die Häuser hinein. Der alltägliche Wahnsinn, der gesetzlich von 6 bis 22 Uhr erlaubt ist, nimmt seinen Anfang im Garten- oder Baumarkt. Was Stihl, Bosch & Co. anbieten, sind Krachmacher erster Güte – und jeder, der nach einer anstrengenden Woche den Samstagmorgen auf dem Balkon oder im Garten genießen möchte, weiß um die Feinde, die solche Erholungsmomente zunichte machen: Elektrische Heckenscheren, Rasenmäher, Häcksler, Laubblasapparate, Hochdruckfugenreiniger: Es sind ohrenbetäubende Maschinen, bei deren Handhabung 85 dB und mehr entstehen und der Handwerker ohrschutzverpflichtet ist – die Amateure kennen indes nichts, wenn ihnen die einschlägigen Maschinenhersteller Klein-Versailles mit akkuraten Hecken und unkrautlosen Beeten "im Nu" versprechen. Vom Baulärm ganz zu schweigen. Nicht jeder hat die Möglichkeiten wie Geheimrat Goethe, der sich vom Baulärm im Nachbarhaus gestört fühlte, es kurzerhand kaufte und verfallen ließ. Was tun? Natürlich ist ein freundliches, gleichwohl ernstes Gespräch mit dem Nachbarn einen Versuch wert, aber in der Regel nutzlos. Der Schwarze Peter liegt jedoch bei den Maschinenherstellern: Lärmschutz bei den Geräten ist teuer, senkt die Effizienz – und der Gesetzgeber wird mal wieder nichts unternehmen, um die Hersteller in die Lärmsenkungspflicht zu nehmen. Sie, die Hersteller, sehen sich ebenfalls in keiner Pflicht, nirgends.
Doch nicht unterschätzen darf man die Rücksichtslosigkeit der Zeitgenossen generell. Handy, MP3, Kaufhaus- und Gastronomiebeschallung: Mutwillige Umweltverschmutzung mit Schall darf man damit vergleichen, wie leichtfertig allüberall Müll einfach weggeschmissen wird. Die Bahn, die eben noch als Lärmverursacher gescholten wurde, muss man hier loben: Sie führte in den ICEs Ruhezonen ein, in denen Palavern, Telefonieren und Musikhören unerwünscht sind. Und weitgehend achten die Ruhesuchenden auch darauf, dass sich hier niemand als Zampano aufführt.
1907 wurde in Hannover einer der ersten Antilärmvereine des Landes gegründet, und im selben Jahr das Ohropax erfunden. Über ein Jahrhundert später darf man beim Thema Lärm nicht Ursache und Wirkung aus den Augen und Ohren verlieren. Und bei der Lärmvermeidung, man muss es sagen: ist jeder in die Pflicht zu nehmen. ub

In dieser Höhe verursachen Flugzeuge etwa 120 bis 130 dB – in Frankfurt alle 3 Minuten, in Peking alle 42 Sekunden (Bild: Grüne Liga) 

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