Groß, aber oho!

Maren Harnack, Christian Holl
17. April 2013
Die High-Deck-Siedlung in Berlin, erbaut 1975 bis 84, Entwurf: Rainer Oefelein und Bernhard Freund. 1999 installierte die Senatsbauverwaltung hier ein Quartiersmanagement, das inzwischen als vorbildlich und erfolgreich gilt. (Bild: Christian Holl) 

Wohnungsbau ist wieder ein Wahlkampfthema, bezahlbarer Wohnraum ist in den Großstädten keine Selbstverständlichkeit mehr. Die Folgen werden nicht von allen begrüßt. "Es herrscht eine Stimmung wie in den 70er Jahren. In der Politik geht es doch jetzt nur noch darum, wer die meisten Wohnungen lostritt. Und wenn ausschließlich Geschwindigkeit gefragt ist, gerät die Qualität völlig aus dem Blick", wird Stefan Forster im Deutschen Architektenblatt zitiert. Geschwindigkeit war auch gefragt, als jene Großwohnsiedlungen der Nachkriegsepoche entstanden, die sich generell keines besonders guten Rufs erfreuen. Doch wer möchte, dass in Sachen Wohnungsbau nicht nur Quantität, sondern auch Qualität eine Rolle spielt, der muss auch ein Interesse daran haben, dass sich die Diskussion um die Großwohnsiedlungen der 1960er und 70er Jahre nicht mehr darauf beschränkt, sie pauschal als städtebauliche Fehlentwicklung zu stigmatisieren. Nicht nur, weil sie eine erhebliche Reserve auf dem Wohnungsmarkt bilden und in Ballungsräumen oft noch gerade bezahlbaren Wohnraum bieten – denn damit würde ja wieder nur die Quantität als Argument dafür dienen, diesen Siedlungen Aufmerksamkeit zu schenken. Reduziert man sie auf ihre Größe, blockiert man weiterhin die dringend notwendige Auseinandersetzung mit diesen Siedlungen als Teil der Stadt, den es wie alle anderen Teile auch weiterzuentwickeln gilt. Diese Auseinandersetzung kann aber nur dann auch gegenüber denen, die dort wohnen, fair sein, wenn man bereit ist, auch ihre Geschichte und ihre Qualität wahrzunehmen.

Der schlechte Ruf hat eine lange Geschichte
Und daran mangelt es. Das ist kein Wunder, angesichts einer Diskursgeschichte, die von Mitscherlichs "Unwirtlichkeit unserer Städte" über Christiane F.'s "Kinder vom Bahnhof Zoo" bis dahin reicht, in ihnen potenzielle Ghettos oder Slums zu sehen. Behindert wird ein halbwegs vorurteilsfreier Zugang zu diesen Siedlungen dadurch, dass es vielen schwerfällt, sie als Teil unseres geschichtlichen Erbes zu akzeptieren, für das man sich verantwortlich fühlen sollte. Denn das Städtebauleitbild, das diesen Siedlungen zugrunde liegt, wird selbst als ungeschichtlich rezipiert. Nüchtern betrachtet ist das wohl kaum ein schlüssiges Argument: Angesichts der Achtung, die man vielen Zeugnissen der Moderne entgegenbringt, gleich, welches Geschichtsverständnis ihnen zugrunde gelegen hat, ließe es sich recht leicht entkräften. Doch es ist nicht das einzige, das der Entwertung von Großwohnsiedlungen zugrunde liegt.

Der Wohnpark Alt Erlaa in Wien (Entwurf: Architekturkonsortium Glück-Hlawenicka-Requat-Reinthaler) wurde zwischen 1973 und 85 gebaut. Alt Erlaa erfreut sich außerordentlicher Beliebtheit. (Bild: Christian Holl) 

Denn anders als andere Gebäude und Ensembles werden Großwohnsiedlungen heute vor allem als Gegen-Modell zur sogenannten europäischen Stadt verstanden und im Kontext ihres sozialpolitischen Programms kritisiert, hier freilich nicht als Möglichkeit der Emanzipation von Härten auf dem freien Wohnungsmarkt, sondern als Bevormundung durch einen übergriffigen Staat. So ist Dieter Hoffmann-Axthelm der Ansicht, dass man die Nachkriegsmoderne aus dieser sozialpolitischen Kritik heraus begreifen müsse: "Es hat damals in Deutschland ein neues Gesellschaftsbild geherrscht: das einer staatlich organisierten Massengesellschaft. Man glaubte, der Staat sei verpflichtet, die Vergesellschaftung aller Lebensbezüge vorzunehmen, die vorher in der Verantwortung der Individuen lag." (1)
Der Blick in die Geschichte zeigt aber auch, dass das Feindbild Großwohnsiedlung vor allem gebraucht wurde, um die vielfach vom Abriss bedrohten Gründerzeitquartiere zu retten, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht annähernd den Komfort boten, den wir heute – viele Förder-Milliarden später – kennen. Dies war zweifellos ein großer und wichtiger Erfolg. Aber er hat seine Schattenseiten: einerseits die unter dem Schlagwort Gentrifizierung bekannte Verdrängung der ärmeren Bevölkerungsschichten aus diesen Gebieten, andererseits die bis heute andauernde, nachhaltige Diskreditierung von Großwohnsiedlungen als eine vermeintlich ausschließlich von Defiziten bestimmte Wohnform.

Kennenlernen ist Versöhnungsarbeit
Jenseits aller berechtigten Kritik an Großwohnsiedlungen ist diese offensichtlich auch dadurch motiviert, dass das Leben dort weder den Idealen der Planer und ganz allgemein dem vorherrschenden kulturellen Leitbild des guten Lebens entspricht. Dass es Menschen geben kann, die sich beispielsweise in den Bauten der 1970er Jahre im Hamburger Stadtteil Mümmelmannsberg wohler fühlen als in Eppendorf, das dem Leitbild der europäischen Stadt entspricht, wie eine Studienarbeit an der HCU ermittelte, ist offenbar schlicht jenseits des Vorstellungsvermögens der meisten Akteure in Politik und Verwaltung.
Statt dessen wird Großwohnsiedlungen nur wieder ein Leitbild übergestülpt, das nicht zu ihnen passt, man versucht auf Biegen und Brechen die städtebauliche Struktur diesem Leitbild anzupassen. Großwohnsiedlungen zu würdigen heißt deswegen ja noch lange nicht, dass man heute wieder genauso bauen sollte wie damals.

Die Siedlung Mainfeld in Frankfurt (1968 bis 74) sollte weitgehend abgerissen werden. Die Bewohner lehnten dies ab – in weiten Kreisen der Stadt stieß das auf Unverständnis. (Bild: Christian Holl) 

Völlig ausgeblendet wird heute in der Regel schon der Blick auf das, was diese Siedlungen überhaupt geleistet haben: Viele derer, die Wohnungen in Großwohnsiedlungen bezogen haben, kamen zum ersten Mal in den Genuss einer Wohnung mit fließendem Wasser, Zentralheizung, Isolierverglasung oder Balkon, kurz: Sie kamen aus Behelfsunterkünften. Die beachtliche staatliche Leistung des Massenwohnungsbaus hat erst die Basis geschaffen, auf der man sich eine Kritik an ihm erlauben kann; eine Kritik, die aber eine andere sein müsste, wenn sie die Komplexität der Bedingungen unter denen diese Siedlungen entstanden sind, berücksichtigte: "Denn 'Kennen' meint auch, sich mit den Dingen auszusöhnen und mit den guten Gründen, die sie zu dem machen, was sie sind", so Bruno Reichlin (2). Wird ein solches "Kennen" nicht angestrebt, wird man die Weiterentwicklung dieser Siedlungen eher erschweren als erleichtern. Denn jenseits aller Schwierigkeiten, die das Leben in einer Großwohnsiedlung im Gegensatz zu kleinteiligeren und nutzungsgemischten Strukturen mit sich bringen mag, wird damit den in ihnen lebenden Menschen noch zugemutet, ihre Heimat gegen eine diskreditierende Außenwahrnehmung verteidigen zu müssen. Planer und Architekten sollten entschiedener bei verantwortlichen Akteuren dafür werben, im Umgang mit Großwohnsiedlungen dort anzusetzen, wo die Bewohner selbst Defizite erkennen, anstatt deren Lebensumfeld pauschal abzuwerten. Denn sonst wird unterschwellig suggeriert, der Unterhalt lohne sich ohnehin nicht, so dass am Ende auch die ganz normale Pflege und Instandhaltung unterbleibt, die bei anderen städtebaulichen Strukturen selbstverständlich und unhinterfragt gewährleistet wird. Es gilt wahrzunehmen, dass Siedlungen wie Alt-Erlaa in Wien oder Asemwald in Stuttgart gerne bewohnt und von den vielfach pauschal unterstellten sozialen Problemen nicht betroffen sind. In den Blick genommen werden darf dann auch, dass es Großwohnsiedlungen gibt, in denen etwa das Programm der sozialen Stadt dauerhaft und stabil Verbesserungen gebracht hat, wie die Wohnsiedlung Mainfeld in Frankfurt, die dessen ungeachtet (bis auf die Gebäude, in denen sich Eigentumswohnungen befanden) beinahe abgerissen werden sollte.

Cité du Lignon, Genf, 1963–71 (Architekten: Georges Addor und Dominique Juillard). Die Siedlung für 7.000 Menschen steht unter Denkmalschutz, sie wird seit 2008 energetisch saniert. (Bild: Wiki commons/ Port(u*o)s) 

Und der baukulturelle Wert?
Mit einer vorurteilsfreien Sicht auf Großwohnsiedlungen, die nicht mehr erst prinzipielle Vorbehalte gegen ihr Bestehen an sich entkräften müsste, ließen sich schneller Verbesserungen in die Wege leiten, wo sie durch Sanierung, Erweiterung, Umbau, Anreicherung von weiteren Nutzungen und anderem Umgang oder Management des öffentlichen Raums möglich sind. Dann könnte vermutlich endlich auch über ein weiteres Defizit in der Diskussion um die Großwohnsiedlungen gesprochen werden: der der Beurteilung ihres baukulturellen Wertes. Es ginge dann auch um eine qualitative Differenzierung jenseits von ausschließlich sozialpolitischen und funktionalen Kriterien, jenseits der von früherer oder aktueller Politik verschuldeten Nachteile (etwa durch schlechte Verkehrsanbindung oder unglückliche Belegungsregelungen). In diesem Punkt hinkt die Diskussion weit der Bewertung einzelner Gebäude aus der gleichen Epoche hinterher. Auch das ist wohl kaum zufällig, denn hier lässt sich nicht mit der Vorstellung eines auratischen Objekts operieren, das im materiellen Gegenstand ein historisches Zeugnis musealisiert, als übrig gebliebener Rest auf bereits Vernichtetes verweist und in dieser Doppelgesichtigkeit von Präsenz und Verweis auf Verlorenes Geschichte anschaulich macht. (3). Ein Umgang mit den Großwohnsiedlungen ist deswegen auch eine Herausforderung an die Denkmalpflege, die daran zur Überprüfung ihres eigenen Selbstverständnisses herausgefordert wird. Angesichts der Demontage der institutionellen Denkmalpflege (zuletzt etwa in Nordrhein-Westfalen) ist ihr kaum vorzuwerfen, dass sie dem nicht ausreichend nachkommen kann. Um so mehr ist es an der Zeit, dass die Fachwelt diesen Wohnsiedlungen mit einem differenzierten Urteil gegenübertritt, das nicht mit einer vermeintlich bereits bekannten Wahrheit über sie vernebelt ist. Maren Harnack, ch

Maren Harnack ist Professorin für Städtebau an der Fachhoschule Frankfurt. Ihr Forschungsschwerpunkt "Identifikation und Imagewandel als Faktoren der Gebäudeentwicklung" widmet sich dem Wohnungs- und Städtebau der 1960er und 70er Jahre


Links und Literatur
Frank Bielka, Christoph Beck (Hg.): Heimat Großsiedlung. 50 Jahre Gropiusstadt. Entwicklungsmöglichkeiten für die Zukunft. Berlin 2012

Karin Hopfner, Karin; Christian Simon-Philipp, Christina; Clau Wolf: Größer, höher, dichter – Wohnen in Siedlungen der 1960er und 1970er Jahre in der Region Stuttgart.Stuttgart 2012

Arch+ 203: Planung und Realität. Strategien im Umgang mit den Großsiedlungen. Juni 2011

Kompetenzzentrum Großssiedlungen

Zitate
(1) Die katastrophale Utopie – Planungswirtschaft und Sozialdogmatismus. Im Gespräch mit Dieter Hoffmann-Axthelm. In: Michael Braum, Christian Welzbacher (Hg.): Nachkriegsmoderne in Deutschland. Eine Epoche weiterdenken. Basel 2009
(2) Überlegungen zur Erhaltung des architektonischen Erbes des 20. Jahrhunderts. In: Elise Feiersinger, Andreas Vass, Susanne Veit: Bestand der Moderne. Von der Produktion eines architektonischen Werts. Zürich 2012
(3) siehe hierzu den Beitrag von Andreas Vass: Denkmalpflege und Moderne. In: Feiersinger, Vass, Veit: Bestand der Moderne. Zürich 2012

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