Wiedergelesen: Hat die Linke doch recht?

Christian Holl
11. Januar 2012
Ein Rest Schönheit in unwirtlicher Umgebung (Offenbach). Vielleicht glauben Offenbacher ja wegen solcher Häuser, ihre Stadt sei architektonisch noch nicht so zerrüttet wie Hamburg. Nur hilft das weder Hamburg noch Offenbach. (Bild: Christian Holl) 

Derzeit dominieren die wenig professionellen Eskapaden eines Bundespräsidenten, der diesem Amt nicht gewachsen zu sein scheint, die Tageszeitungen. Wenn auch eine dem konservativen Lager verpflichtete Zeitung schreibt, dass dieser Präsident zum "Deutschland der Partygänger und Schnäppchenjäger, dem Deutschland der Eventmanager und Spesenritter" gehöre, dann ist das zumindest ein Symptom dafür, dass der Konservativismus in der Krise ist. "Genuin konservativ zu sein würde vor allem zweierlei bedeuten: ein Gefühl für das Gewicht der Wirklichkeit zu haben; daraus folgt von selbst eine Mäßigung", schrieb Lorenz Jäger Anfang Oktober in der FAZ. Jäger bekannte, wie kurz vor ihm einige andere Journalisten und Publizisten (zum Beispiel Frank Schirrmacher), dass er sich unter Rechten nicht mehr wohlfühle. Mit der Überschrift "I'm starting to think that the Left might actually be right" leitete Charles Moore diese Reihe von Bekenntnissen ein, die in den neuen Rechten "eine Gefahr für die Wirtschaft" und "Totengräber der Mittelklasse" (Constantin Seibt) sehen. Dass Bankenrettungen der Demokratie wenig dienen, sondern in die Oligarchie führen, war Anfang Dezember in der FAZ zu lesen – freilich im Feuilleton. Von konservativen Architekten oder Architekturkritikern war ein "Adieu Kameraden, ich bin jetzt ein Gutmensch" bislang nicht zu vernehmen. Wir lesen statt dessen, dass Hanno Rauterberg die Hässlichkeit deutscher Städte am Beispiel Hamburgs geißelt: dort regierten Geld, Geschäft und Rendite. Allerdings glaube er, dass Hamburg noch nicht "architektonisch zerrüttet wie Köln, Stuttgart oder Hannover" sei. Danke für das Gespräch. Auch andere jammern gerne: "In der City trifft sich längst nicht mehr die große weite Welt" (Hannelore Schlaffer in der FAZ vom 31.12.2011), dort dränge sich nur die Provinz. Immerhin, auch wenn er kein Anhänger des ästhetischen Konservativismus ist: Niklas Maak schimpfte kürzlich auf "Massivhausbauer und die Vorortplaner und die Quastenheinis", beklagte, dass "der Ökonomisierung des Bauens die Entpolitisierung des Baudiskurses gegenübersteht."

Richtig: "Die lebendigen Menschen, noch die zurückgebliebensten und konventionell befangensten, haben ein Recht auf die Erfüllung ihrer sei's auch falschen Bedürfnisse" (Adorno). Aber wie weiter? (Bild: Christian Holl) 
Keine andere Architektur ohne Änderung der Gesellschaft

Wie aber wäre der Baudiskurs zu politisieren? Was wäre ein architekturkritisches Äquivalent zur Konservativismus-Kritik à la Moore, Jäger, Seibt und Schirrmacher? Vielleicht lohnt es sich, dazu das ein oder andere Buch wieder in die Hand zu nehmen, über das die Zeit hinweggegangen zu sein schien. Dass eine schöne Frau eine Woche lang gut, eine gute Frau ein Leben lang schön sei, lesen wir zum Beispiel bei Ernst Bloch in "Das Prinzip Hoffnung"; er zitiert damit ein arabisches Sprichwort. Das darf man ruhig mal in die aktuelle "Unsere Stadt soll schöner werden"-Diskussion werfen – schön sein allein reicht eben nicht weit. Als Erzsozialist versteht Bloch dies so, dass ohne Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse sich oberflächliche Korrekturen als nicht dauerhaft erweisen können: "Erst die Anfänge einer anderen Gesellschaft ermöglichen wieder echte Architektur", schreibt er weiter vorne. Vielleicht muss man nicht an die Erfüllung der Geschichte im Sozialismus glauben, aber dass die Stadt nicht schön werden kann, so lange Reiche reicher (und weniger) und Arme ärmer (und mehr) werden, darf trotzdem gesagt werden.
Nein, man muss sich nicht durch die 1600 Seiten von Blochs Opus Magnum fressen, das teilweise nicht einfach verdauliche Kost bietet. Aber vielleicht tun es die Seiten 819 bis 872, die von "Bauten, die eine bessere Welt abbilden" erzählen. Dort ist zu lesen, dass sich Architektur nicht in der Technik und dem Abarbeiten von Grundlagen erschöpft. "Trotzdem musste vom Architekten das Haus selbst, dies Ganze und Einheitliche seines Werks, nach Leitbildern erfunden und entdeckt werden, die nicht im unmittelbar Gegebenen der Außenwelt liegen", lehrt die Vergangenheit. Bloch kritisiert, dass heute die Häuser vielerorts wie reisefertig drein sähen. Das war, als es geschrieben wurde (zwischen 1938 und 1947) so richtig, wie es 2012 ist: "Das ist das Ergebnis, muss es sein, solange eine Baukunst um den Boden, der nicht stimmt, sich nicht bekümmert."

Ästhetik erzwingt die Veränderung nicht

Bloch hatte gegen Ornament und bildnerische Fülle nichts einzuwenden, er verurteilte die "extreme Kiste" wie den Kitsch. Architektur als "Produktionsversuch menschlicher Heimat" kann nicht ohne die Vorstellung von einer besseren Welt entstehen: "Sämtliche große Bauwerke waren sui generis in die Utopie, die Antizipation eines menschenadäquaten Raums hineingebaut." Mag sein, dass zu wenig Architekten diese Vorstellung haben, aber selbst wenn sie sie hätten, müsste sie von anderen geteilt werden. Niklas Maak forderte, "die Architekten sollten endlich mal auf die Straße gehen, damit man sieht, dass es sie noch gibt, die Architekten, die Straße." Wenn allein die Architekten auf die Straße gehen, wird sich kaum etwas ändern. Wohin die exklusive Architektenvorstellung der besseren Welt führt, wissen wir. Dass Bloch so ganz falsch nicht liegen kann, erweist sich dort, wo sich urbanes Leben nicht entfaltet, obwohl so schön auf die Form geachtet wurde; vor allem die in Gründerzeitmanier gebauten Quartiere zeigen, dass die architektonische Form allein den gesellschaftlichen Inhalt nicht erzwingen kann. Da ist die Pragmatik der Tübinger Südstadt weiter, die Nutzungsmischung und Dichte mit hoher individueller Gestaltungsfreiheit verbindet – dass sich dort die Häuser mitunter wie Egoisten einander gegenüber stehen macht aber nichts, sie folgen einem Einverständnis anderer Art. Und das ist nicht primär ästhetischer Art.

Bis heute lebt die im 16. Jahrhundert im Veneto ausgeprägte Idealisierung und Ideologisierung der Landidylle fort, wenn auch nicht immer in ähnlich überzeugenden Formen. (Bild: Christian Holl) 

Wem Bloch zu schwül ist (was man verstehen kann), dem sei der Blick in ein anderes Buch empfohlen, das zum ersten Mal 1970 publiziert wurde: "Die Villa als Herrschaftsarchitektur" von Reinhard Bentman und Michael Müller. Die Resonanz war seinerzeit überwältigend, seine Autoren wurden aber auch heftig angefeindet. Radikal wird darin Ästhetik auf ihre sozialgeschichtliche Implikation befragt, darauf, wie sie soziale Ungerechtigkeit legitimiert. Bentmann und Müller zeigen, dass die Ausbildung der Villenarchitektur im Veneto im 16. Jahrhundert einer Strategie zur Sicherung von Herrschaftsstrukturen folgt. Dort wurde die agrarische Lebensform als Ausdruck einer gottgewollten und ewigen Ordnung inszeniert, verschleierte Architektur und religiöse Idealisierung den Konflikt zwischen Herr und Knecht. In dieser Architektur sollten sich die ewigen Harmoniegesetze abbilden – derer zufolge eben auch die Gesellschaftsordnung eine ewige ist.

In der Architektur zeigen sich gesellschaftliche Intentionen

Im Veneto wurde (bis in die Gegenwart folgenreich, wie die Autoren zeigen) "die Villa als gesellschaftliches wie künstlerisches 'Kunstwerk' lückenlos in das System der ideologischen Sicherung" eingefügt. "Die Villen-Bewegung verdeckt Autoritätskonflikte und rekonstituiert archetypische Zustände (...) Unter diesem Blickwinkel demaskiert sich die Villa (...) de facto als reaktionäre Erscheinung. Allerdings kann man die aufgezeigten Zusammenhänge nicht in direkte Abhängigkeit bringen von bewussten, das heißt: bewusst artikulierten Intentionen der herrschenden Schicht des 16. Jahrhunderts." Die Grundlagen dieser Architektur waren derart selbstverständlich geworden, dass deren gesellschaftlicher Code nicht mehr hinterfragt wurde. Architektur ließ sich nicht mehr von dem trennen, was sie repräsentierte. Dabei irritiert nicht nur die Autoren die hohe künstlerische Qualität der Ergebnisse: Auch Goethe habe schon den Widerspruch der Palladio-Villa empfunden: "Ihre 'Lüge' liegt in der künstlerischen Wahrheit, ihre 'Wahrheit' in der gesellschaftlichen Lüge."

Luxuriöses Stadtwohnen ist auch eine Form, in der sich gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen abbilden. Nur wird heute statt des Landes die Stadt zur ungeschichtlichen Konstante verklärt. (Bild: Christian Holl) 

Es war 1970 kaum schwerer als heute, Parallelen zu denen des 16. Jahrhunderts zu ziehen. Auch heute ist zu warnen vor jenen, die versuchen, "das stolze Ross einer eigentlichen, von der Geschichte isolierten Ästhetik zu reiten". Bentmann und Müller kritisierten das Penthouse als "stadtfeindlich zumindest so lange, als es nur Privileg sehr weniger sehr Begüterter sein kann." Gilt das nicht genau so für die derzeit aktuellen Formen des privilegierten Stadtwohnens?
Kritik kann demnach mehr sein als die Kritik an Ökonomisierung und vermeintlicher ästhetischer Zerrüttung. Kritik kann zeigen, wie Architektur in die Antizipation des menschadäquaten Raums hineingebaut ist – ohne dass sie erzwingen kann, was sie antizipiert. Kritik sollte es sich leisten, Ästhetik und Gesellschaft aufeinander zu beziehen und etwa Bildungs- und Verteilungsgerechtigkeit mit der Gestalt der Häuser und Städte zu betrachten. Sie tut das zu wenig. Es ist ja richtig, wenn die impertinente Art, mit der ein Bundespräsident die ihm gewährten Vorzugsbehandlung rechtfertigt, auf das Haus bezogen wird, das er sich damit ermöglichte. Das reicht aber nicht. Dass sich gesellschaftliche Intentionen nach wie vor weit darüber hinaus in Architektur wirksam ausdrücken, das zu zeigen, gerade wenn sie sich wie im Veneto nicht (mehr) bewusst artikulieren – das wäre eine Kritik, die behaupten könnte, "dass die Linke doch recht hat." ch

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