Weltläufte und Großprojekte

Ursula Baus
14. September 2011
Elektroautos, die auf der aktuellen IAA eine ganze Halle füllen – hier von VW (links) und Renault. (Pressebilder)
Verkehrsgerechte Stadt

Dass die Ruhe in den öffentlichen Nachrichten des Sommers trügt, erläuterte Christian Holl vergangene Woche für die Wirkungsweise medialer Oberflächen und realer Städte. In den darauf folgenden Tagen erreichten uns besorgniserregende Nachrichten aus dem BMVBS, außerdem die immer wieder wichtigen Einwürfe aus verfassungsrechtlich versierten Kreisen: Konkret und mustergültig begleiten und beeinflussen sie die jüngste Entwicklung von Stuttgart 21. Keine Angst: Um Grabenkämpfe für und wider geht es im Folgenden nicht, sondern um die gesamte Mobilitätsstrategie eines reichen Landes, das mit seiner Autoindustrie ein Jahrhundert individueller und kollektiver Mobilität prägte – und nichts unversucht lassen darf, um auch Vorreiter anderer, umweltverträglicher Mobilität des 21. Jahrhundert zu werden. Dies und Jenes wird man auf der IAA in Frankfurt ab morgen, 15. bis Montag, 19. September schon besichtigen können. Dominierte das Auto indirekt die Stadtplanung des 20. Jahrhunderts in den Konzepten der "autogerechten Stadt", greift die Autoindustrie im 21. Jahrhundert direkt nach dem urbanen Raum – etwa wie beim Audi Urban Future Award.

Verkehr, Infrastruktur und Stadt neu gedacht: Der Audi Urban Future Award 2011 für New York (Bild: Audi) 
Zug, Flinkster, eBike

Das Zusammenspiel von Stadt und Verkehr sieht in der bürokratisierten, verkrusteten Praxis derweil jämmerlich aus. Stuttgart 21 als Ummodelung eines bedeutenden Verkehrsknotenpunktes im deutschen Süden wurde monofunktional für die Eisenbahn entwickelt. Die Spartentrennung der Verkehrssysteme ist jedoch Schnee von gestern: "Shared Space" ist ein zarter Versuch für das effiziente Zusammenführen nicht schienengebundener Verkehrsarten; und der Schienen-Konzern Bahn AG will mit Mietwagen- und Fahrradleihsystemen mehr notgedrungen und schlecht als recht den anderen Mobilitätswünschen der Bahnkunden entgegen kommen. Aber eine sinnfällige Koordination der deutschen Mietwagen-, Carsharing- und sonstigen Konzepte gibt es nicht. Absurde Bürokratie, Versicherungswahn und abartige Lobbyisteninteressen unterbinden hierzulande eine vernünftige Strategie auf dem Weg zu menschen- und umweltverträglicher Mobilität, so dass man gelegentlich verzweifeln mag. Angesichts der Monostruktur von Stuttgart 21 erst recht.
Hier ein Pilotprojektchen wie Car2go, dort ein Stadtmobil, da die Bahn mit ihrer "Flinkster-Flotte" – all diese mehr oder weniger privatwirtschaftlichen Versuche, Mobilität zu reformieren, blühen nicht spontan auf, sondern krebsen vor sich hin. Der Politik gelingt es nicht, für eine sinnfällige Synchronisierung oder gar effiziente Zusammenführung dieser Initiativen zu sorgen, weil sie in der selbst geschaffenen Bürokratie erstickt und von parasitären Lobbyisten abhängt. Engstirnige Lokalpolitiker unterbinden Terrain übergreifende Initiativen. Es sind nicht allein diese Akteure, die Großprojekte nach Art von Stuttgart 21 wie Reliquien überholter Verkehrspolitik wirken lassen, sondern es ist die Verflechtung fast aller Akteure, die viele Mitwirkende ihrer Handlungsfreiheit beraubt. Es sind keine Verschwörungstheorien, die hier Raum greifen dürfen, vielmehr muss immer wieder die Aufmerksamkeit von staubigen Prestigeprojekten wie Stuttgart 21 auf rasches Handeln, auf partizipatorische, technische, wirtschaftliche Entwicklungen gelenkt werden.

Mappus und Merkel: "Wir sind das Volk" (Bild: Klaus Stuttmann) 
Rechtslagen

Bei Stuttgart 21 unterliefen, wie man es bei der Finanzierung eines solchen Großprojektes hätte ahnen können, auch rechtliche Schnitzer. Juristen verdeutlichten in den letzten Tagen mehrfach, dass der Finanzierungsvertrag zu Stuttgart 21 verfassungswidrig sei, weil es sich um Mischfinanzierung gem. Art. 104 a Abs. 1 GG (geändert 1969) handele; das Bahnprojekt ist eine Aufgabe des Bundes, die das Land und die Stadt Stuttgart nicht mitfinanzieren dürfen. In der Süddeutschen Zeitung vom 10. August 2011 meldete sich Hans Meyer, der Finanzrecht- und Verfassungsexperte und ehemalige Präsident der Humboldt-Universität Berlin, zu Wort und bekräftigte die Verfassungswidrigkeit der Verträge. Man fragt sich natürlich, wieso die neue grün-rote Landesregierung nicht klagt. Der gestrige Spiegel (37/2011, Seite 44-46) widmet sich dem angestrebten Volksentscheid - den Schwaben könnte ein "heißer November" bevorstehen. Es wird derzeit mit allen Mitteln um ein Projekt gerungen, dessen eigentlicher Sinn aus dem Blickfeld geraten ist: Verkehrstechnik und Stadt im 21. Jahrhundert.

An Alternativen zu Stuttgart 21 fehlte es nie – hier eine Visualisierung von GKR. Doch isolierte Projekte wie S21 oder K21 können sich im Lauf der Zeit von selbst erledigen. 
Der Bund verarmt

Das BMVBS kündigte unterdes in einem Entwurf seines Fünfjahresplanes an, dass der Bund kein Geld mehr für neue Straßen- und Schienenprojekte ausgeben könne – dass also Projekte aus dem Plan bis 2015 herausfallen sollen. Das sind: der Rhein-Ruhr-Express in NRW, die für den Güterverkehr wichtige Gabelung der Strecken in Norddeutschland, die Bahnstrecke Frankfurt-Mannheim, der Ausbau der Bahnknoten München, Hamburg, Mannheim und Bremen. Bundes- und Ortsumgehungsstraßen werden ebenfalls nicht realisiert werden können. Um Dimensionen zu nennen: Standen für die Rheintalbahn 2011 noch 48,8 Mio Euro zur Verfügung, sind es 2012 noch 19,8 Mio. Man sei gezwungen, Milliarden in den Bestand zu investieren. Nun ja, man darf vermuten, dass selbst dafür das Geld über kurz oder lang nicht ausreichen dürfte.

Kombilösung, Kombifinanzierung

Ja, wissen wir das nicht schon seit Jahrzehnten? Wieso wurden für fragwürdige Prestigeprojekte wie Stuttgart 21 überhaupt Milliarden in Aussicht gestellt? Das Kombi-Projekt aus Kopf- und Durchgangsbahnhof, dass die Schweizer Bahnprofis von SMA entwickelten und der Schlichter Heiner Geißler vorstellte, eröffnet vor allem Chancen im Sinne neuer Mobilitätskonzepte, in die unterschiedliche Verkehrsteilnehmer intensiv eingebunden werden müssen. Nein: Billig werden derartige Konzepte erst recht nicht. Aber die Finanzierung könnte auf ganz anderen Grundlagen aufgebaut werden, verschiedene Mobilitätssparten könnten sich die Lasten (und Profite) teilen. In der Schweiz, wo kontinuierliche Pflege und Weiterentwicklung des Bau- und Infrastrukturbestands eine ganz andere Wertschätzung erfahren als hierzulande, weiß man offenbar, dass Investitionen größeren Kalibers sich vor allem funktional rentieren müssen. Verfassungswidrige Finanzierungsverträge, leere Staatskassen, Lehrgeld in Sachen Partizipation – das sind Stichworte, die nach dem Sommerurlaub 2011 das funktional Notwendige und das ökonomisch Sinnvolle ins Gedächtnis rufen sollten. Es ist höchste Zeit für ein Bahnhofsprojekt, das der urbanen Mobilität im 21. Jahrhundert gerecht wird. Neudeutsch: Reset! ub

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