22. Dezember 2010
Entwurf für ein Fußballstadion in Katar. "Ortstypische, kulturell und historisch verwurzelte Elemente wurden in modernste Fußballstadien umgesetzt." Dass der Fußball historisch in Katar nicht verwurzelt ist, spielt keine Rolle. (Bild: AS&P, Frankfurt aM) 
2010 – mit einem dicken Ende

Ruhr 2010. Stuttgart 21. Und die Fußball WM. Und die Expo Shanghai. Deutsche Fußballer brillieren, deutsche Ingenieure beeindrucken. Man kann nicht behaupten, es sei kein aufregendes Jahr gewesen. Zum Ende hin kam es dann allerdings dicke. Die Kürzung der Städtebauförderung, der Kahlschlag beim Programm Soziale Stadt. Und dann die WM-Entscheidung – erst werden an die FIFA Korruptionsvorwürfe gerichtet, dann wird Russland und Katar zum Austragungsort der Weltmeisterschaften 2018 und 2022 ausgewählt. Katar! Die Fußballgroßmacht. Nichts gegen das Büro Albert Speer und Partner, das zusammen mit Proprojekt und Serviceplan die Bewerbung erarbeitet hat. Wenn aber der Fußballfan in mir spricht, dann gelten Reden von einer fußballbegeisterten Bevölkerung in Katar nicht. Fußballbegeistert ist heute jeder. Allerdings nur alle vier Jahre, und deswegen hat das mit Fußball nichts zu tun. Fußball ist ein Spiel das auf dem Pausenhof mit platten Tennisbällen anfängt und über viele feine Zwischenstufen linear in die Stadien führt, in denen ein Spielführer einer großen Mannschaft einen Pokal küsst, als gäbe es kein Morgen. Fußball ist ein Spiel, das mehr zum öffentlichen Raum gehört als alle Latte Macchiatos unter allen Heizpilzen dieser Welt zusammen. Zum Fußball gehört, dass er ein Schicksal ist, dem man sich zu stellen hat, und zwar unabhängig vom Wetter. Wie hätten wir alle England die Austragung der WM gegönnt. Ehrlich. Wer einmal in einem sozialen Brennpunkt Londons Jungs dabei zugeschaut hat, wie sie im Regen Fallrückzieher üben, weiß wovon die Rede ist. Der weiß auch, dass der Kairos des geglückten Torschusses keiner 60000 Zuschauer bedarf, Stadion ist überall, wo Tore stehen und geschossen werden. Nun wird also 2022 in als Fußballstadien verkleideten, solarbetriebenen Kühlschränken der Weltmeister ausgespielt. Ich weiß, dass sich die Zeiten geändert haben. Gespielt wird nicht mehr in der Kampfbahn Rote Erde, sondern im Rechtschreibregeln außer Kraft setzenden "easyCredit-Stadion". Bei einer WM muss man sich mit Menschen über Fußball unterhalten, die davon keine Ahnung haben. Und beim Public Viewing sich von denen stören lassen, die unbedingt ein Fest feiern und nicht das Spiel verfolgen wollen. Aber wenn überall die Geschichte beschworen wird, bei jeder Steinplattenverkleidung eines seelenlosen Bankgebäudes, dann darf man auch fordern, dass darauf Rücksicht genommen wird, dass der Fußball Kultur ist, mehr als beispielsweise das pseudokennerhafte Weingeschlotze in Hamburger Schickkneipen. Eine WM in Katar hat mit Fußball soviel zu tun wie ein Weihnachtsmarkt mit der Frohen Botschaft. Es wäre doch auch absurd, die Weihnachtsmärkte samt Kulissen einer historischen Innenstadt in großen, künstlich beschneiten und gekühlten Fabrikhallen am Autobahnkreuz abzuhalten. Obwohl... ch

Bilder: Joint Venture Qatar 2022, AS&P/ ProProjekt (links), WHIM/ Ramon Knoester (rechts) 
Eine Insel mit zwei Bergen...

Das Jahr und vor allem die bald zu Ende gehende Vorweihnachtszeit haben uns wahrscheinlich alle mehr oder weniger gestresst. So manche Entscheidung unserer Politiker, Funktionäre und Möchtegerne tat dabei ein Übriges – wir haben es gerade gelesen. Sind wir deshalb nicht alle reif für die Insel? Doch auch Inseln sind schon lange nicht mehr das, was sie einmal waren – im negativen wie im positiven Sinne. Das zeigen die beiden folgenden Ideen für neue Inseln.
Auf der einen, die im Hafen von Doha (der Hauptstadt des Emirats Katar) aus dem Meer herausragen soll, wird es wohl nichts werden mit Ruhe und Erholung. Denn nahezu die ganze Fläche des palmenartigen Gebildes wird, sofern die Pläne realisiert werden, das Doha Port Stadium für die Weltmeisterschaft 2022 einnehmen. Ein Neubau für 202 Mio. USD. An den kleinen "Seitentrieben" werden Wassertaxis anlegen können, um die Fußballbegeisterten rechtzeitig zum Anpfiff auf ihre Sitzplätze zu bringen. Aus der Vogelperspektive sehen sie aus wie kleine, romantische Bötchen. Irgendwie alles ein bisschen kitschig. "Ortstypische, kulturell und historisch verwurzelte Elemente" nennt man das dagegen bei den Frankfurter Architekten von AS&P, aus deren Feder der Entwurf stammt.
Ein wirklich drängendes Problem versuchen hingehen die niederländischen Architekten von WHIM mit ihrem Entwurf der "Recycled Island" anzugehen. Diese Insel soll nur aus Plastikmüll bestehen, der bereits tonnenweise in den Ozeanen treibt, Vögeln und Meeresbewohnern das Leben schwer macht und sich aufgrund der Meeresströmungen im Nordpazifik sammelt. Bewohner der Recycled Island könnten Menschen sein, die aufgrund des künftig wohl ansteigenden Meeresspiegels ihre Heimat verlieren werden. Was als Konzept begann, soll bis Anfang kommenden Jahres in einen Prototyp münden, denn das Interesse ist groß. Die Insel ist quasi als Selbstversorgerinsel konzipiert, die mit der Meeresströmung im Ozean herumtreiben soll. Doch natürlich bleiben noch viele Fragen offen: Zu welchem Land soll die Insel gehören? Wessen Gesetze gelten für die Bewohner? Wer soll das Ganze finanzieren? Und vor allem, wie bekommt man den Plastikmüll aus dem Meer, ohne einen noch größeren Schaden anzurichten? Bleibt zu hoffen, dass Ramon Knoester und sein Team im neuen Jahr möglichst viele Antworten finden werden. sh

Grafik: Wikipedia
Es werde Licht

Es war einmal ein Dorf in den italienischen Alpen. Drei Monate im Jahr mussten die Einwohner ohne Sonnenlicht auskommen, um genau zu sein vom 12. November bis zum 2. Februar. Erst dann schaffte die Sonne wieder ihren Weg über die Bergspitze bis hinunter ins Tal. Dank des ehrenamtlichen Bürgermeisters, der eigentlich Lokführer bei der Italienischen Staatsbahn ist, konnte der Fortschritt nach Viganella einziehen. Denn der Bürgermeister ließ auf der gegenüberliegenden Hangseite einen Metallreflektor mit einer Fläche von 40 Quadratmetern installieren, der nun computergesteuert das Licht auf die Piazza lenkt. Und plötzlich wurde aus dem kleinen Dorf Viganella mit seinen 207 Einwohnern ein kleiner Touristenmagnet. Kostenpunkt: 100.000 Euro.
Ortswechsel: Ein kleines Städtchen in Österreich. Ebenfalls drei Monate ohne direktes Sonnenlicht. Aber mit den gleichen Träumen von Licht im Tal während des Winters. Hier wurde ein großes Lichtlabor mit der Planung beauftragt. Eine Anlage aus Heliostaten, Umlenkfeldern und Spiegeln sollte entstehen. Kostenpunkt: einige Millionen. Übrig blieben geplatzte Träume.
Vielleicht ist es doch sinnvoll, immer wieder die Frage zu stellen, wie groß die Projekte eigentlich sein müssen. Müssen für ein paar Fußballspiele komplette Inseln erschaffen werden, müssen neue Stadtquartiere geschaffen werden, indem man alte abreißt oder verfallen lässt oder müssen wir unser Haus anzünden um die Kerzen am Baum zum Leuchten zu bringen. Oder kommt man nicht vielleicht auch mit kleinen, sinnvollen Schritten ans Ziel.
Doch allen, denen noch nicht die Erleuchtung gekommen ist, sei gesagt: Naturgemäß werden mit dem Winteranfang die Tage wieder länger. Es werde Licht! pb

Bauzaun vor Bahnhof mit Demonstranten: Logo 2010 (Bild: http://www.35i-forum.de/sonstiges/witziges/126891-stuttgart-21/) 
Kommt Kinder, geht spielen ...

Mein Bruder bekam die Spielzeugeisenbahn zu Weihnachten (und später immer mal ergänzende Faller-Häuschen) geschenkt, damit unser Papa und wir (meine Schwester und ich) sofort mitspielen durften. Ich war deutlich kleiner als die Geschwister und hatte einen allerliebsten Teddybär bekommen, der leider mit keinem Trafo auf Touren zu kriegen und nicht elektrisch beleuchtet war. Die Spielzeugeisenbahn muss rückblickend natürlich als sozialpädagogisch und verkehrpolitisch nachhaltiges Präsent bewertet werden – nach der Bescherung verschwand nicht jeder vor seinem Laptop, fingerte keiner an seinem Handy rum, sondern man hatte einfach einen gehörigen Spaß zusammen.
Apropos Handy. Allen Ernstes schlug gestern eine baden-württembergische Kulturpolitikerin vor, die Handschrift zu vereinfachen, weil die motorischen Fähigkeiten der Kinder nicht mehr für kompliziertes Schreiben von Hand geeignet seien. Hallo? Sollen wir die Bleistifte und Füller aus den Schulen nicht gleich verbannen? Kinder nicht mehr malen lassen, sondern gleich vor den Bildschirm fesseln?
Zurück zur Eisenbahn: Wenn doch die Häuschen nicht so piefig und die Rasenfolie nicht so steif gewesen wären, dass man keine Steilhänge in eleganter Optik hinbekam! Wir bastelten Brücken und Häuser schließlich selbst, weil die Spielzeugeisenbahnindustrie sich jeglicher Modernisierungstendenz verweigerte. Friedlich ging es bei uns auch nicht zu, denn die Anlage wurde so getunt, dass der Zug mit Karacho aus der Kurve sauste und die Weihnachtsplätzchen aus den Güterwaggons flogen. Märklin kommt dieser Tage übrigens nur durch Insolvenz-Fragen in die Schlagzeilen... Oh, Eisenbahn, was ist aus Dir geworden! Die Schaffner sind viel, viel freundlicher und hilfsbereiter als früher – und die Ärmsten (heute heißen sie "Zugbegleiter") bekommen den gesamten Zorn der Bahn-Wutbürger ab, die sich darüber ärgern, dass Mehdorn die Gewinne nicht ins Schienennetz steckte, sondern die Bahn börsenfit trimmte. Darüber, dass Grube nicht aus Mehdorns Fehlern lernte und den Protest gegen das Projekt – sic: da sind wir bei Stuttgart 21 – nicht zugunsten der Bahnkunden zu wenden wusste. Loben wir andererseits: Mehdorn erkannte, dass Bauwerke der Bahn besser gestaltet sein müssen als zu der Zeit seit Dürr, und Hartmut Grube gibt diese ambitionierte Linie Mehdorns wenigstens nicht auf. Aber das ist viel zu wenig, wenn es um die Konzeption eines stadt-, provinz- und transalpinverträglichen Mobilitätskonzeptes für das 22. Jahrhundert geht. Früh ereilte uns dieses Jahr schneereiches Winterwetter, bereits im Spätherbst – alle redeten vom Wetter, die Bahn leider auch. Aber als ich in der vergangenen Woche mit dem Zug durch die Republik fuhr, Stunden verspätet ankam, hieß es: "Wegen Schienennetzüberlastung im Raum Berlin...", "wegen Streckenüberlastung im Raum Frankfurt..." – wie bitte? Fahrpläne sind doch hoffentlich so konzipiert, dass sie zu einem Schienennetz und einer Zugflotte passen. War wohl nichts mit dem einstigen, grandiosen Werbespruch der Bahn: "Alle reden vom Wetter. Wir nicht".
Kinder, geht spielen. Erfindet neue Welten, die sich nicht im Cyberspace verlieren, sondern handfeste Freuden bescheren. ub

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