Vom Kahlschlag zum Kunstpreis

Oliver Pohlisch
10. Juni 2015
Die Hauseigentümer in der Cairns Street fingen als erstes damit an, den Straßenraum zu begrünen (Bild: Oliver Pohlisch)

ArchitektInnen als Anwärter auf eine der prestigeträchtigsten Auszeichnungen innerhalb der Kunstwelt? Die Nominierung des Londoner Kollektivs Assemble war die größte Überraschung bei der Bekanntgabe der Short List für den britischen Turner Prize im vergangenen Mai. Sie erfolgte für das Engagement von Assemble in Granby Four Street, einem Viertel im Liverpooler Stadtteil Toxteth.

Granby Four Street liegt eine Meile südlich der Innenstadt von Liverpool. Das Quartier bildet ein von viktorianischen Reihenhauszeilen durchzogenes Dreieck, gerahmt von zwei aufeinander zulaufenden Hauptstraßen im Osten und Westen sowie einer Neubausiedlung im Norden. Die meisten der Backstein-Reihenhäuser oder Terraced Houses, wie sie in Großbritannien genannt werden, stehen leer. Ihre Fenster sind mit Metallplatten verbarrikadiert. In der Granby Street, der Zentralachse des Viertels, haben fast alle Läden dichtgemacht. Doch seit gut sechs Monaten herrscht hier wieder reger Betrieb, Bauarbeiter und Handwerker haben damit begonnen, die Häuser zu renovieren. 

Granby Four Street würde es nicht mehr geben, hätten sich nicht BewohnerInnen über Jahrzehnte gegen den Abriss der Häuser gewehrt. Hauptsächlich ihrer Initiative ist es zu verdanken, dass im vergangenen Jahr ein 13,7 Millionen Pfund schweres Regenerationsprogramm für das Quartier in die Wege geleitet wurde. Die Stadt Liverpool, zwei Wohnungsbaugesellschaften und eine Genossenschaft beteiligen sich nun daran, rund 110 Terraced Houses bewohnbar zu machen.

Granby Four Streets, axonometrische Ansicht

Flächensanierung als Strafe
Zuletzt drohte Granby Four Street im Rahmen des Housing Market Renewal Pathfinder Programme sprichwörtlich plattgemacht zu werden. 2002 wurde die Maßnahme von der New-Labour-Regierung aufgelegt. Sie sollte den Wohnungsmarkt Nordenglands beleben helfen, der zu dieser Zeit nicht den gleichen Boom erfuhr, der London und den Südosten erfasst hatte. Die lokalen Verwaltungen im Großraum Liverpool planten dabei den heftigsten Kahlschlag. Ihr Argument: In der Stadt und ihrer Umgebung bestünde ein massiver Überhang an unveräußerbaren, qualitativ niedrigwertigen Terraced Houses. Insgesamt 18.000 Immobilien sah man zum Abriss vor.

KritikerInnen warfen den örtlichen VerfechterInnen des Programms vor, außer acht zu lassen, dass Liverpool nach langer wirtschaftlicher Stagnation wieder einen zaghaften Aufschwung erlebte, befördert auch durch seine Ernennung zur Europäischen Kulturhauptstadt 2008. Längerfristig hätte dies ein erhöhtes Kaufinteresse an dem historisch wertvollen, viktorianischen Baubestand des Innenstadtrands zur Folge.

Betroffene BewohnerInnen beklagten dagegen, dass, anders als bei den Slumbeseitigungen der Nachkriegszeit, die geplante Aufwertung einer sozialen Säuberung gleichkäme. An Stelle der alten Terraced Houses sollten Public Private Partnerships Neubauten mit höherwertigem Wohnraum errichten – adressiert vor allem an einkommensstarke ZuzüglerInnen.   

Granby Four Street bot sich als Ziel des Pathfinder Programms an, weil es schon lange vor 2002 dem Untergang preisgegeben worden war. Toxteth gilt als das historisch erste schwarze Stadtteil Großbritanniens, Einwanderer unterschiedlichster Herkunft landen hier. Und es zählt eher zu den ärmeren Gegenden Liverpools. Der Niedergang von Industrie und Hafen seit den Sechzigerjahren hatte Toxeth hart getroffen. Eine anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und rassistisch motivierte Polizeigewalt gegenüber der schwarzen Bevölkerung führten dort im Juli 1981 zu den bis dahin heftigsten Straßenunruhen in der Geschichte des Landes. Ihren Ausgang nahmen sie in Granby Four Street. Seitdem lagen Pläne zur Flächensanierung des Dreiecks und seines Umfelds auf dem Tisch – als Bestrafung für die Ausschreitungen, sind sich Ortsansässige bis heute sicher.

Die Stadt übernahm den Bestand von Wohnungsbaugesellschaften und setzte MieterInnen um. Und sie ordnete die Zwangsenteignung jener BewohnerInnen an, die das Reihenhaus, in dem sie lebten, auch besaßen. Der Müll wurde nicht mehr entsorgt, kaputte Straßenlampen wurden einfach nicht repariert. Das Viertel leerte sich nach und nach, denn viele zogen freiwillig weg, weil sie den «gelenkten Niedergang» nicht länger ertrugen. Doch andere leisteten Widerstand: Seit 1993 mobilisierte die Granby Residents Association gegen den Abbruch von Granby Four Street. Und einige HausbesitzerInnen wehrten sich in jahrelangem Rechtsstreit erfolgreich gegen ihre Räumung.

Rund um das Granby Four Street Dreieck wurden derweil zahlreiche Terraced Houses eingeebnet. Wobei die angestrebte Umstrukturierung Stückwerk blieb. Zwischen einigen suburban anmutenden Wohnanlagen aus verschiedenen Zeitphasen klaffen auch heute noch Brachen. Und während die Abrissbirne Granby Four Street selbst weitestgehend verschont hatte, verwaiste das Quartier mit seinen insgesamt 200 Häusern. Am Ende der Nullerjahre harrten nur noch 70 BewohnerInnen aus. Die Bausubstanz der aufgegebenen Adressen rottete vor sich hin.

GranbyFourStreet/Ducie Street. Links standen die Häuser, die mit Parthfinder abgerissen wurden (Bild: Oliver Pohlisch)
Monatlicher Straßenmarkt initiiert durch die BewohnerInnen von Granby Four Street. (Bild: Ronnie Hughes)

Farbe für die Gefahrenzone
Dem Pathfinder Programm fiel in Granby Four Street schließlich eine Häuserzeile zum Opfer. Die konservativ-liberale Regierungskoalition, die nach der Parlamentswahl 2010 auf die Labour-Alleinherrschaft folgte, hatte da im Zuge ihrer rigiden Sparpolitik das Programm schon gekippt. In diesem Moment - die Granby Residents Association gab es nicht mehr - griffen die letzten Übriggebliebenen zur Selbsthilfe, um Granby Four Street von seinem Image der dunklen und heruntergekommenen Gefahrenzone zu befreien.

Zunächst besorgten sie Farbe und strichen ohne Genehmigung leerstehende Häuser an, pinselten auf die Fensterverschlüsse Vorhänge und Blumenbänke. Sie übten sich im Guerilla Gardening, begrünten Zwischenräume und stellten Pflanzenkübel in den Straßenraum. Dann initiierten sie einen monatlichen Straßenmarkt, auf dem sie Selbstgebackenes und Second-Hand-Kleidung verkauften. Schnell wurde dieser zum Anziehungspunkt für ein Publikum aus der weiteren Umgebung.

Als die Stadt 2011 versuchte, nun die Renovierung des gesamten Altbaubestands von Granby Four Street einem einzigen Privatinvestor in die Hände zu geben, reagierten die BewohnerInnen mit der Gründung eines Community Land Trusts und wurden so im Königreich zu Pionieren der Erprobung dieser Körperschaftsform im urbanen Raum.

Der Import aus den USA fand bis dahin ausschließlich auf dem Land Anwendung, da die nicht-profitorientierten Trusts städtische Bodenpreise in der Regel nicht bezahlen können. Mit der Hilfe eines Trusts kann Grund dauerhaft in Gemeinbesitz gehalten werden. Der Verkauf oder die Vermietung darauf befindlicher Immobilien orientiert sich an der Einkommensstärke der lokalen Bevölkerung. Im Vorstand eines Community Land Trust haben BewohnerInnen von Gebäuden auf dem Trust-Land, BürgerInnen aus der Nachbarschaft und zivilgesellschaftliche Organisationen, die vor Ort tätig sind, gleiches Stimmrecht.

Nachdem auch die letzte Akquise privaten Kapitals zur Aufwertung von Granby Four Street gescheitert war, legte der Community Land Trust selbst eine Entwicklungsstrategie vor – erarbeitet mit Hilfe von Assemble. Dafür erhielt der Trust einen günstigen Kredit von Steinbeck Studio, einem sozialen Investor. Die Agenda des Plans lautete: kollaborativ denken und verschiedene Akteure in die Wiederbelebung von Granby Four Street einbeziehen.

Am Ende mit ihren eigenen Ideen, willigte die Stadt in den Plan ein und ließ sich zudem dafür gewinnen, dem Trust zehn Häuser in Granby Four Street für jeweils ein Pfund zu überlassen. Liverpool nahm sich dabei Stoke-On-Trent zum Vorbild, das als erste Kommune begonnen hatte, leerstehende Häuser aus dem Pathfinder Programm für diese nominelle Summe zu veräußern. Darüberhinaus konnte der Trust rund eine Million Pfund an Fördergeldern und Darlehen einwerben, mit denen er derzeit die zehn Gebäude renoviert. Nach Fertigstellung sollen sie entweder vermietet oder teilverkauft werden – im Idealfall an ehemalige BewohnerInnen von Granby Four Street, die einst enteignet oder umgesetzt wurden.

Die Mitglieder der Assemble Group (Bild: Assemble)

Keine Standardkästen
An den Plänen zur Hausrenovierung hat Assemble ebenfalls maßgeblich mitgewirkt. «Alle sind begeistert von dem Design, das Assemble vorgeschlagen hat. Die Leute hier sind nämlich nicht besonders scharf auf die Standardkästen der Wohnungsbaugesellschaften» sagt Tracey Gore, die selbst eine kleine Wohnungsbaugesellschaft, die Steve Biko Housing Association, leitet – und zugleich im Vorstand des Community Land Trust sitzt.

Das Londoner Kollektiv bezieht sich in ihren Entwürfen auf das, was schon da ist. Ist etwa in einem Haus während des Leerstands ein Teil der Zwischendecke eingefallen, lässt Assemble diese Lücke bestehen, um großzügigeren Wohnraum zu schaffen. Und jedes der Gebäude erhält einen Kamin, der aus dem Bauschutt von Nachbargrundstücken gestaltet ist.

Die 18 Mitglieder von Assemble sind alle noch unter dreißig Jahre alt. Einige von ihnen haben Fächer wie Englisch oder Geschichte  studiert, und keiner derjenigen mit Architekturdiplom hat bisher den formellen Status des vollwertigen Architekten erreicht. An die Öffentlichkeit trat die Gruppe erstmals vor fünf Jahren, als sie in London eine aufgegebene Tankstelle vorübergehend in ein Kino verwandelte. Inzwischen weist ihr Portfolio unter anderem die Gestaltung öffentlicher Plätze, temporäre Theaterstrukturen oder den Bau von Atelierräumen auf. Anfang diesen Jahres hat Assemble den Wettbewerb für die Umwandlung eines alten Badehauses in die Kunstgalerie des Londoner Goldsmith College gewonnen.

Auch wenn Assemble gegenwärtig in einem Ostlondoner Lagerhaus  residiert, das der Traum eines jeden jungen trendbewussten Kunst- und Medienschaffenden sein könnte: Seine Mitglieder in die Kategorie Hipster einzuordnen, wäre unzutreffend, angesichts der Tatsache, dass sie die sozialen Aspekte von Architektur mit einer Ernsthaftigkeit wahrnehmen, die sich auch in ihrem Verhalten nach der Nominierung für den Turner Prize widerspiegelt. Sie gaben in Granby Four Street Bescheid und erklärten, notfalls abzulehnen, sollte den BewohnerInnen des Viertels die damit verbundene Medienaufmerksamkeit unrecht sein.

Dem Granby Four Street Community Land Trust ist das Scheinwerferlicht auf das Quartier jedoch willkommen. Denn damit erhöhe sich die Möglichkeit, fehlendes Kapital für die nächste Planungsphase zu beschaffen, freut sich Tracey Gore. «Es wäre geradezu kriminell, würden wir nicht alle Vorschläge von Assemble umsetzen», sagt sie. Das Kollektiv möchte in einer Hausruine einen Wintergarten anlegen. Schnell ist der entsprechende Entwurf zum bestimmenden Bild ihrer Turner Prize Nominierung geworden. Zudem sollen die Läden an der Ecke Granby Street/Cairns Street wiedereröffnen, weshalb sich der Community Land Trust von der Stadt ein Vorverkaufsrecht für die Geschäftsgebäude hat zusichern lassen. Ein Antrag auf Lotteriegelder für die Instandsetzung ist eingereicht.

Einige Häuser in der Beaconfield Street sind bewohnt, andere werden wieder hergerichtet (Bild: Oliver Pohlisch)
Bauarbeiten auf der Rückseite der Häuserzeile in der Jeremyn Street. Im Hintergrund ist die neue Bebauung zu sehen (Bild: Oliver Pohlisch)

Ein Rüffel für die Architekturszene
Dass Assemble auf der Short List des Turner Prize gelandet ist, nährt sicher nicht nur die Debatte über die Unschärfen in der Definition von Kunst. Sie kann durchaus auch als Kritik an der britischen Architekturszene und deren Preisvergabepolitik verstanden werden. Prozesshafte Projekte wie die lokal angestoßene Planung in Granby Four Street werden kaum ausgezeichnet. Eher ikonographische Solitäre, die Symbole einer Entwicklung britischer Städte sind, in der Planungsinstanzen unter dem Deckmantel eines angeblichen öffentlichen Interesses den Wünschen privater Investoren stets Vorrang vor den Bedürfnissen einkommensschwächerer Bevölkerungsschichten geben.

Im Großraum Liverpool gibt es inzwischen mehrere Community Land Trusts, die dagegen die Chance einer urbanen, gemeinwohlorientierten Entwicklung von unten bieten. Allerdings bedürfen solche Körperschaften einer strengen Prüfung auf ihre Offenheit und Transparenz, um sie vor einer Instrumentalisierung durch Partikularinteressen zu schützen.

Planer Matthew Thompson warnt zudem davor, dass Liverpooler Community Land Trusts zu stark in die bestehenden Strukturen der zwar öffentlich finanzierten aber doch profitorientiert arbeitenden Wohnungsbaugesellschaften inkorporiert werden könnten. Obwohl letztere zum Teil aus Genossenschaften hervorgegangen seien, die sich im Widerstand gegen die Slumbeseitigungen der Nachkriegszeit formierten, hätten sie - welch Ironie - kräftig am Pathfinder Programm mitgewirkt.

Ganz aktuell wird der gemeinnützige Auftrag der Wohnungsbaugesellschaften durch das Vorhaben des gerade erst im Amt bestätigten konservativen Premiers gefährdet, ihren MieterInnen das Recht zum Kauf ihrer Wohungen einzuräumen. Kommt der entsprechende Gesetzentwurf durchs Parlament, könnten langfristig auch die Ziele des Granby Four Street Community Land Trust durch Spekulation in der eigenen Nachbarschaft unterminiert werden.

Gesamtstädtisch gesehen ist der Erfolg des Granby Four Street Community Land Trust sowieso nur ein sehr punktueller. An anderer Stelle sehen Verwaltung und Wohnungsbaugesellschaften eine solche von BürgerInnen getragene Initiative als unliebsame Konkurrenz um die immer spärlicher fließenden Mittel aus nationalen Fördertöpfen. Oder als Hindernis für eine Politik, die sich letztlich immer noch in der Kontinuität des Pathfinder Programms bewegt.

Plus Dane, ausgerechnet eine der Wohnungsbaugesellschaften, die in Granby Four Street an der Renovierung der viktorianischen Reihenhäuser beteiligt ist, hat von der Stadt die Genehmigung des Abrisses von 387 Gebäuden gleichen Typs im benachbarten Welsh Streets Areal erhalten. Darunter ist auch eins, in dem Beatles-Schlagzeuger Ringo Starr ein paar Jahre seiner Kindheit verbracht hatte. Der Anfang des Jahres durch die britische Regierung verhängte Stopp der Planierung wird von der Stadt angefochten. Für die von der Selbstorganisation der dort noch lebenden BürgerInnen vorgelegten Pläne zum Erhalt der Häuser sieht die Kommune keinerlei Bedarf.

Wohnungsbaugesellschaften renovieren die Häuserzeilen an der Beaconfield Street (Bild: Oliver Pohlisch)

Andere Artikel in dieser Kategorie