Schlimmer als bei Maggie

Maren Harnack, Dominic Church
1. Dezember 2010
Leicester: Ein gut gestaltetes Wohnumfeld scheint vielen Hausbaufirmen entbehrlich. Daran wird sich unter der neuen Regierung nichts ändern. (Foto: Dominic Church) 

Die neu gewählte Regierung in Grossbritannien macht es sich recht einfach. Die Verantwortung dafür, die Teilnahme am politischen und Integration ins gesellschaftliche Leben aller Bevölkerungsgruppen aktiv sicherzustellen, lehnt sie ab. Der Bürger erarbeite sich die Mitsprache durch sein aktives Engagement. Kooperative, gemeinnützige, karitative und soziale Unternehmen seien ohnehin besser dazu geeignet, sich um die Bildung, Sozialversorgung, Altersvorsorge oder Gesundheit zu kümmern als staatliche Organisationen. Ganz in diesem Sinne sieht die Regierung vor, im öffentlichen Sektor radikal zu kürzen.
 

Sparen, Sparen, Sparen

Konkret sollen in den nächsten fünf Jahren 83 Milliarden Pfund eingespart werden (8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts). Im öffentlichen Sektor werden 490'000 Arbeitsplätze abgebaut, Kommunen müssen ihre laufenden Ausgaben um 27 Prozent kürzen und ihre Kapitalinvestitionen ersatzlos streichen. Gelder für den sozialen Wohnungsbau werden um 60 Prozent gekürzt. Auch die nationalen Ministerien müssen kräftig kürzen: durchschnittlich 19 Prozent. Bezeichnenderweise soll das für die Planung zuständige Department for Communities and Local Government (DCLG) deutlich mehr, nämlich 40 Prozent einsparen. Nun veröffentlicht ausgerechnet das Wirtschaftsministerium das Weissbuch Local Growth: Realising Every Place’s Potential. Darin werden die Vorhaben für die Raum- und Siedlungsplanung konkretisiert.

Regionalplanung, nein danke!

Schon vorher hatte Planungsminister Eric Pickles verkündet, Englands neun Regionalentwicklungsgesellschaften abzuschaffen. Damit wurden auch die Regionalentwicklungspläne, in denen die Leitlinien der regionalen Raum- und Infrastrukturplanung festgelegt sind, übergangslos ausser Kraft gesetzt.
Das Weissbuch erklärt nun, dass man die politische Entscheidungsgewalt den «communities» und der örtlichen Privatwirtschaft übergeben wolle, um damit effiziente und dynamische Märkte zu fördern und Wachstumsbarrieren zu überwinden, besonders im Bereich des Wohn- und Siedlungsbaus.
Allerdings waren in den vergangenen Jahren meist Anwohner das grösste Wachstumshemmnis. Sie wehrten sich oft gegen neue Bauvorhaben in ihrer Umgebung, weil sie fürchteten, dass der Wert ihres Eigentums sinken könnte. Es scheint, als wolle die neue Regierung mit Stärkung der lokalen Ebene den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.

Solihull: Öffentliche Räume in neuen Wohngebieten laden nicht immer zum Verweilen ein. (Foto: Dominic Church) 
Hauptsache Wachstum

Zunächst soll die Gewerbesteuer reformiert werden, die in England bislang zentral verwaltet wird. Die neue Regelung sieht vor, dass Kommunen die Einnahmen über einem gewissen Schwellenwert behalten dürfen. Darüber hinaus sollen sie die Möglichkeit erhalten, Gewerbesteuernachlässe anzubieten und auf diese Weise stärker miteinander zu konkurrieren.
Die Regierung will ausserdem über Regional Growth Funds 1,4 Milliarden Pfund für Infrastrukturprojekte und Gebiete des Strukturwandels zur Verfügung stellen. Die Bewerber müssen, um berücksichtigt zu werden, nachweisen, dass der private Sektor wächst, dass sie finanziell von der privaten Wirtschaft unterstützt werden, dass der wirtschaftliche Schwerpunkt sich von der öffentlichen Hand zur Privatwirtschaft verschiebt. Verteilt werden soll das Geld von einem 12-köpfigen Gremium. Neben dem ehemaligen Leiter der Stadtverwaltung Newcastle-upon-Tyne und einem Ökonom von der Universität Oxford kommen alle anderen Mitglieder aus der Privatwirtschaft. Raumplaner, Städtebauer, oder Infrastrukturplaner sind in diesem Gremium nicht vertreten.

Die Wirtschaft bestimmt

Laut Weissbuch will die Regierung eine weitere neue Planungseinheit etablieren: Local Enterprise Partnerships (LEPs) unter Führung der lokalen Wirtschaft sollen eine strategische Rolle übernehmen und damit das wirtschaftliche Wachstum sichern.
Gesetzliche Vorgaben zur Beschaffenheit der LEPs sind nicht vorgesehen. Kandidaten werden daraufhin geprüft, ob sie von der Wirtschaft unterstützt werden, ob sie den «wirtschaftlichen Raumzusammenhang» widerspiegeln, ob sie eine leistungsfähige Strategie für Wirtschaftswachstum nachweisen können, und ob sie auch von den Kommunen in ihrem Einzugsbereich unterstützt werden.
Ungeklärt bleibt, was sich hinter dem Begriff des «wirtschaftlichen Raumzusammenhangs» verbirgt. Ohne weitere Klarstellung besteht hier die Möglichkeit, mit diesem Begriff Interventionsbereiche nach Belieben abzustecken und dabei Gebiete gezielt auszuklammern, die nicht ins gewünschte Profil passen.

Barking: Das traditionelle Reihenhaus als Minimal-Variante, in der sich mangels Mindestraumgrössen kaum normale Möbel unterbringen lassen. Nur die Parkplätze sind so gross wie immer. (Foto: Dominic Church) 
Bauen ohne Genehmigung

Nicht näher definierte «communities» sollen ein «Recht auf Bauen» erhalten und Projekte auf Basis eines lokalen Volksentscheids auch ohne Baugenehmigung verwirklichen können. Neben der unklaren Einheit der «communities» bleibt ebenfalls offen, wie sichergestellt werden soll, dass sich kleine Gruppen nicht auf Kosten der weiteren Gemeinschaft als «communities» definieren und ihre Partikularinteressen durchsetzen. Offen bleibt auch, wie sich benachteiligte Gruppen – etwa mit mangelnden Sprachkenntnissen, wenig Geld und ohne Zugang zu professionellem Rechtsbeistand – ein solches Verfahren leisten können sollen.
Die «communities» können darüber hinaus einen «neighbourhood plan» erstellen. Ebenso unklar wie die Abgrenzung der «community» bleibt dabei, wie sich eine «neighbourhood» definiert. Vermutlich ist eine klar erkennbare, abgegrenzte räumliche Einheit gedacht, was der städtischen Realität mit ihren oft vielschichtig und räumlich überlagert auftretenden Bezugsrahmen und sozialen Feldern grundlegend widerspricht. Auch Struktur, Inhalt, und Entstehungsweise eines solchen Dokuments bleiben ungeklärt. Nichtsdestotrotz soll der Neighbourhood Plan die Grundlage der zukünftigen Siedlungsplanung werden.

Mindeststandards braucht man nicht

Die Regierung will nicht nur die Produktionszahlen im Wohnbau steigern, indem sie Neubauten fördert, sondern auch die Regulierungen beim Bauen weiter reduzieren. Planerische Vorgaben werden gelockert, damit Investitionen in solchen Gebieten gebündelt werden, in denen die Rendite am attraktivsten ist. Die Flächenstandards, die bisher zumindest im öffentlich geförderten Wohnungsbau noch für halbwegs benutzbare Grundrisse gesorgt haben, wurden Anfang November gleich ganz abgeschafft. Dass nun Wohnungen in den Gebieten gebaut werden, in denen sie am dringendsten gebraucht werden, bleibt fraglich. Der Blick auf die Nachkriegsgeschichte lässt ohnehin daran zweifeln, ob dieses Vertrauen in den Markt angebracht ist. In England besteht seit dem Rückzug aus dem staatlichen Wohnbau in den 1980er Jahren jährlich ein Defizit an Neubauwohnungen, was den privaten Sektor zu keiner Zeit zu verstärkter Produktion angeregt hat. Die Regierung folgt dennoch der Ökonomin Kate Barker, die bereits 2004 die Ansicht vertrat, das Problem sei fast ausschliesslich die planerisch verursachte Baulandknappheit und will Kommunen von 2011 bis 2017 für jede neue Wohnung einen Zuschuss in Höhe der Council Tax zahlen, um die Baulandausweisung anzukurbeln. Damit würde bis 2015 der Bau von etwa 134'000 neuen Wohnungen pro Jahr belohnt, weniger als die 160'000 Neubauwohnungen, die seit 1970 durchschnittlich pro Jahr fertiggestellt werden.
Für Barker damals (und für die Regierung heute) war nicht relevant, dass die Konzentration der englischen Hausbauindustrie weit fortgeschritten ist. 2009 wurden 25 Prozent der 133'710 neuen Wohnungen von nur drei Firmen errichtet. Letztendlich haben diese Firmen kein wirtschaftliches Interesse an einem entspannten Wohnungsmarkt, weil sie dadurch ihre eigenen Profite schmälern würden. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, dass ausgerechnet die Commission for Architecture and the Built Environemnt (CABE) infolge der Haushaltskürzungen aufgelöst werden wird, die sich bisher um Qualitätsfragen beim Bauen gekümmert hat und unter anderem versuchte, den kommerziellen Wohnungsbau zu verbessern.

Walthamstow: Diese anregende Spielumgebung trägt sicher eine ganze Menge zur positiven Entwicklung von Kindern bei. (Foto: Dominic Church) 
Planungsphobie und Aberglaube

Die neue Regierung hat offenbar eine unüberwindliche Abneigung gegen jegliche Form der Planung, die über den lokalen Rahmen (und lokale Interessen) hinausgeht. So schafft sie konsequent alle Mechanismen ab, die dem Ausgleich zwischen wirtschaftlich bessergestellten und benachteiligten Regionen, Quartieren oder Bevölkerungsgruppen dienen könnten. Über Feinheiten wie die Frage nach der demokratischen Legitimation von Planungen, die ja immerhin recht dauerhafte Folgen haben können, macht sie sich erst gar keine Sorgen. Die unheilvollen Allianzen, die diese Verquickung von lokalen Interessen, Wirtschaftsförderung und quasi-religiösem Marktglauben eingehen können, mag man sich gar nicht ausmalen. David Camerons Lieblings-Thinktank hat schon 2008 verkündet, dass die Städte des Nordens einfach nicht mehr zu retten seien, man solle die Förderprogramme für Liverpool oder Sunderland streichen und stattdessen den Bewohnern dieser Städte empfehlen, nach London zu ziehen. Auf die empörte Reaktion der Öffentlichkeit folgte eine kurze Distanzierung, dennoch hat Cameron den ehemals stellvertretenden Direktor des Thinktanks gleich nach Amtsantritt als Sonderberater eingestellt. Keine guten Aussichten. Maren Harnack, Dominic Church

Maren Harnack arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HafenCity Universtät in Hamburg und ist freie Stadtplanerin, freie Architektin und Mitgründerin des Büros urbanorbit. Daneben wirkte sie an zahlreichen Forschungsprojekten mit.

Dominic Church ist Architekt und leitet seit 2005 bei CABE im Bereich Wohn- und Siedlungsbau das Projekt Building for Life. 2001 bis 2005 arbeitete er am Cities Programme der London School of Economics in der Forschung und in der Lehre.

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