23. November 2011
 
Vorwärts Männer, wir müssen zurück

"Klarheit schaffen" – das ist eine der Parolen auf den Plakaten, die (in diesem Fall) die Befürworter mobilisieren soll. Man könnte damit auch die Gegner des Projekts ansprechen. Es ist die Crux dieses Bürgerbegehrens: Wer gegen Stuttgart 21 ist, sollte mit "Ja" stimmen, wer dafür ist, muss dagegen sein. "Ja – zum modernen Verkehr im ganzen Land" fordern die Projektgegner, genau das, was die Befürworter für eine Qualität von Stuttgart 21 halten. Die Zusammenhänge sind zwar komplexer, als dass sie sich mit Ja oder Nein beantworten ließen. Mit Komplexität werden Menschen aber offensichtlich nicht mobilisiert. Auch wenn es jeder weiß, dass wegen Stuttgart 21 weder der Juchtenkäfer aussterben wird, noch bald die Massen nach Bratislava reisen werden, denen die Reise bislang zu lange dauerte.
Zwar demonstriert man mit einfachen Antworten, schillernden und symbolischen Bauprojekte Leistungs- und Handlungsfähigkeit. Das wussten möglicherweise schon die, die für Stuttgart 21 1995 jenseits von Beteiligung, Diskussion und öffentlicher Abwägung im geschlossenen Zirkel entschieden hatten. (siehe den nicht mehr neuen, aber keineswegs veralteten Beitrag in der Süddeutschen von 2010). Aber eine Schnellbahntrasse verbessert nicht die Struktur des Bahnverkehrs in der Fläche, ein neuer Bahnhof bildet nicht die Grundlage einer wirtschaftlichen Entwicklung, die breiten Wohlstand gewährleistet anstatt die Diskrepanz zwischen Groß- und Geringverdienern weiter wachsen zu lassen. 30 Hektar teures innerstädtisches Bauland sind kein Ersatz für eine verantwortungsvolle Stadtentwicklung.
"Geklärt" wird am 27. November viel zu wenig. Über die Abstimmung wird keine Kostentransparenz geschaffen, es wird nicht geklärt, was passiert, wenn eine Mehrheit für Stuttgart 21 ist, die Kosten – wie etwa bei Hamburgs Elbphilharmonie – am Ende doch aus dem Ruder laufen. Es wird nicht auf die Frage geantwortet, wie Bürgerbeteiligung organisiert werden kann, ohne dass am Ende hilflos eine Frage konstruiert werden muss, um abstimmen zu können. Es wird nicht darauf geantwortet, wieso Politiker keine Konsequenzen fürchten müssen, wenn sie wichtige Informationen zurückhalten.
Der Fall zeigt aber vor allem, dass wir scheinbar vergessen haben, was Demokratie eigentlich sein könnte. Man will sich nicht einigen, also wird abgestimmt. Das fühlt sich nicht gut an. Demokratie heißt nicht, die Mehrheit bestimmt und wer verliert, hat eben Pech. Demokratie heißt, Transparenz zu fordern und zu gewährleisten, heißt, sich einzumischen, sich miteinander auseinanderzusetzen und im besten Fall zu einem Ergebnis zu kommen, mit dem alle leben können. Die Voraussetzungen dafür waren bei Stuttgart 21 von Anfang an ausgeschlossen: weil es keine Bereitschaft gab, das Projekt, was sicher möglich gewesen wäre, in Einzelteile zu gliedern und jeweils separat zu verhandeln und weil es nicht in Relation zu anderen Verkehrsinvestitionen gestellt wurde. Die Abstimmung verschiebt und verdrängt die eigentlich notwendige Auseinandersetzung nur. Ob sie jemals ernsthaft, mit gegenseitiger Achtung geführt werden wird? ch

Schein und Sein – Die Bahn verpasst die Zukunft der Mobilität

Es gibt eine Stelle, bei der man sich in Stuttgart über das Bahnhofsmanagement beschweren kann – und es täglich muss: die DB Station&Service AG, Bahnhofsmanagement, Arnulf-Klett-Platz 2, 70173 Stuttgart. Wie die Bahn den Bürgern beziehungsweise ihren Kunden den Bonatz-Bau madig macht, spottet jeder Beschreibung. Olivenholz-Kram, Wurstbüdchen, ausgedientes Zahnarzt-Besteck – jeder darf sein Gerümpel, seine Tischchen, Abfalleimer ohne weiteres in der Haupthalle deponieren. Der gesamte Raum wird an Hinz und Kunz und jeden finanzkräftigen Werbekunden verramscht, so dass einem Bahnfahrer, der einen Fahrplan oder eine Anzeigetafel oder ein Gleis sucht, Hören und Sehen vergeht. Wie dreist die Bahn mit "neuesten Illustrationen" für ihr 21-Projekt wirbt, schlägt im Vergleich dazu dem Fass den Boden aus.

Visualisierungen: Aldinger & Wolf 

Das linke Bild landete am 19.11.2011 auf der 1. Seite der Stuttgarter Nachrichten mit dem Titel "So sieht der neue alte Bahnhof aus". Ein leerer, großer, schöner Raum, wenige Menschen, Transparenz allerorten – nirgends Werbung, kein Konsumgerümpel. Aber die Realität sieht so aus:

Eine Fahrplananzeige muss man lange suchen. Werbeleuchttafeln überall, Werbung wird sogar auf den Boden geklebt. Was sich Nokia mit seinem "Objekt" erlauben durfte, ist unbegreiflich. (Bilder: Wilfried Dechau) 

Wer mit gerenderten Darstellungsweisen atmosphärisch schummelt oder falsche Tatsachen vortäuscht, kann in einer Auseinandersetzung um die Sache nicht mehr ernst genommen werden. Gewiss lassen sich solche Bilder, die auch als "geschönt" verharmlost werden, als Darstellungsgattung bis in die frühen Zeiten der Architekturgeschichte zurückverfolgen. Das rechtfertigt ihre manipulativen Absichten nicht im geringsten. Das Problem verschärft sich vielmehr, seit die digitale Bildbearbeitung eine Raffinesse erreicht hat, die auch einem Experten die Unterscheidung eines Fotos vom Rendering unmöglich macht.
Womit wir bei der Sache sind: Für eine umweltverträgliche Mobilität im 21. Jahrhundert sind längst Szenarien entwickelt worden, denen traditionelle Bahnhofskonzepte nicht mehr standhalten. Das räumliche Gleiskonzept mit Tunnels (wie bei S21) schränkt die Anpassung des Schienenverkehrs an neue Mobilitätszellen zusätzlich ein. Bahnchef Rüdiger Grube schließt nun die leistungsfähigste, gewiss nicht billige "Kombilösung" (unterirdische Gleise für den Schnellverkehr, oberirdische für die übrigen) mit dem abwürgenden Argument "Es geht nur ganz oder gar nicht" aus und knüpft S21 an den inzwischen unsinnigen Begriff "Wirtschaftsstandort Deutschland" (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20. 11. 2011, Seite 27). Wäre ihm daran gelegen, mit seiner Bahn AG ambitioniert und unternehmerisch, das heißt auch: riskant an das Thema Mobilität heranzugehen, dann wäre die Kombilösung die eigentliche Herausforderung. Mit ihr ließen sich über Zürich oder Lille oder Masdar hinaus weisende Mobilitätskonzepte entwickeln. In einem Bundesland der Erfinder und Tüftler wäre ihm die Zustimmung sicher.
Es bleibt außerdem das Geheimnis des Bahnchefs, wieso die Neubaustrecke Stuttgart-Ulm zwingend an den Bahnhofsumbau in Stuttgart geknüpft sein soll. Er behauptet auch, die von SMA und Geißler vorgeschlagene Kombilösung habe "alle verwirrt". Für wie blöd hält Grube "alle"? Ich persönlich traue ihm nicht mehr zu, die Herausforderung Mobilität über das Business as usual hinaus voranzutreiben. ub
P.S. am 23. 11. 2011, morgens: Im Briefkasten landet ein Schreiben des Stuttgarter Oberbürgermeisters, abgesendet von der Stadt Stuttgart: Ein Plädoyer ausschließlich pro Stuttgart 21. Das ist unserer Ansicht nach Amtsmissbrauch. Das Land Baden-Württemberg hatte eine Infobroschüre mit 10 Gründen für und 10 Gründen gegen Stuttgart 21 verschickt. So hätte es die Stadt Stuttgart auch tun müssen. Und heute morgen weist Rüdiger Grube in den Stuttgarter Nachrichten darauf hin, dass die Bahn mögliche Mehrkosten des Projektes nicht alleine tragen möchte. Sollte die Kostenobergrenze von 4,5 Mrd. Euro durchstoßen werden, seien "alle Vertragspartner trotzdem in der Pflicht, zu Ende zu bauen". Augen zu und durch. Sage niemand, er sei vor dem Schlamassel nicht gewarnt gewesen. 

Die dritte Start- und Landebahn des Münchner Flughafens könnte das S21 der bayerischen Landeshauptstadt werden. (Bild: www.bund-naturschutz.de) 
Auswirkungen weit über Stuttgart hinaus

In Stuttgart ist das Bahnprojekt dieser Tage mal wieder das beherrschende Thema. Das manifestiert sich nicht nur in den Medien, sondern auch auf dem Bodenbelag der Königstraße, in den Geldrückgabeschächten der DB-Fahrkartenautomaten, auf Autos, Fahrrädern und Straßenschildern. Überall finden sich die Aufkleber der Gegner und Befürworter. Doch wie steht es außerhalb Baden-Württembergs um dieses Thema? Das Interesse war und ist groß, man kommt – gibt man sich erst als Stuttgarter zu erkennen – um eine Erklärung, um seine eigene Meinung nicht umhin. Denn viele wissen nicht wirklich, worum es bei diesem Mammutprojekt geht, was es angeblich bringen soll, wie der Entscheidungsprozess abgelaufen ist, mit welchen geologischen Schwierigkeiten man in Stuttgart zu rechnen hat und und und. Doch kann man es einem Hamburger, Dresdner, Düsseldorfer oder Hannoveraner wirklich übel nehmen, wenn ihn das alles nicht über Wochen und Monate hinweg interessiert, während andernorts die Politiker für den Euro kämpfen, Menschen gegen die Macht der Banken demonstrieren und viele Städte ihre ganz eigenen Sorgen haben? In Hamburg schweben die Baukosten für die Elbphilharmonie in astronomische Höhen, Berlin hat sein Schloss und München die Planungen für die dritte Startbahn des Flughafens. Das könnte zum S21 für die dortige CSU werden. Womit wir bei dem Punkt angekommen wären, der von Stuttgart in die ganze Republik ausgestrahlt hat: Großprojekte sind für viele Bürger ein rotes Tuch geworden, wie eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach vom August dieses Jahres zeigt. Zehn Prozent der Befragten waren der Meinung, dass sich Großprojekte nur noch sehr schwer durchsetzten lassen, weitere 48 Prozent halten es immerhin noch für schwer (bei 19 Prozent Unentschiedenen). Dazu und zu den Protesten gegen Stuttgart 21 passt ein Aspekt aus der nächsten Frage, die sich mit den "Voraussetzungen für Investitionen in große Bauprojekte" befasst hat. Denn die Zahl derer, die meinen, in ein Projekt würde nur dann investiert, wenn es von der Bevölkerung akzeptiert wird, ist im Vergleich zum Vorjahr von 31 auf 40 Prozentpunkte gestiegen. Wenn man diese Zahlen liest und sich gleichzeitig vor Augen führt, wie viele große Infrastrukturprojekte uns im Zusammenhang mit der Energiewende noch bevorstehen, ist klar, dass nun die Politiker – gleich welcher Couleur – gefragt sind und ihr Handeln wieder glaubwürdig werden muss. sh

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