Die Kehrseite des Erfolgs

Autor:
Werner Girgert
Veröffentlicht am
Sept. 19, 2012

In den 1990er Jahren schien sich der unaufhaltsame Trend der Suburbanisierung auch in den USA umzukehren. Doch jüngste Zahlen sprechen wieder die alte Sprache. Weil die Immobilienpreise in den Städten explodierten, wuchsen Amerikas Suburbs auch im vergangenen Jahrzehnt deutlich schneller als die urbanen Zentren.
Bild: Frank Meyl, architekturbild e.v. 
Glücksverheißung oder Albtraum?
Seit mehr als einem halben Jahrhundert führt der American Way of Life für die Mehrzahl der US-Bürger geradenwegs ins Einfamilienhaus im Grünen. Stadtplanern und Umweltschützern gilt der vorstädtische Siedlungsbrei rund um die großen Metropolen seit langem als Lebensentwurf ohne Perspektive, gegründet auf Landschaftszerstörung und Energieverschwendung. Doch seit den 1990er Jahren schöpften die Kritiker der Suburbanisierung wieder Hoffnung. Die Boom-Jahre der US-Wirtschaft, die der Wende zum neuen Millennium vorausgingen, kündigten einen Gegentrend in der Stadtentwicklung an.
Nach Jahrzehnten der Massenflucht ins Umland, zeichnete sich in vielen größeren Kernstädten der USA ein neu erwachtes Interesse am Wohnen im Zentrum ab. Bürgermeister, Immobilienbesitzer und Investoren in den lange Zeit krisengeschüttelten Metropolen des Landes schienen nur zu gerne bereit, die steigenden Einwohnerzahlen als Vorboten einer Renaissance der amerikanischen Städte zu deuten. Zusätzlich bestärkt noch durch die Prognosen der staatlichen Zensusbehörde, die den Städten dank des rasanten Anstiegs bei den Einwandererzahlen auch für die Zeit nach der Jahrtausendwende satte Zuwächse verhießen.
Aber nach der jüngsten Volkszählung im Jahr 2010 macht sich in den Rathäusern und Planungsstäben von New York bis Los Angeles Ernüchterung breit. Denn Amerikas Vorstädte wuchsen im zurückliegenden Jahrzehnt immer noch deutlich schneller als die urbanen Zentren. Und die Lust der Amerikaner auf ein Leben in der Stadt ließ gegenüber den 1990er Jahren wieder nach, wie aus einer Studie hervorgeht, die William H. Frey vom Metropolitan Policy Program der Brookings Institution gerade vorgelegt hat. Im Gegensatz zum suburbanen Raum blieben die größten Städte des Landes deutlich hinter dem landesweiten Bevölkerungswachstum von knapp zehn Prozent zurück.

Ernüchternde Zahlen
New York, in den 1990ern mit einem satten Plus von 9,6 Prozent gesegnet, legte seit der Jahrtausendwende bescheidene zwei Prozent zu, während die Vororte rund um die bevölkerungsreichste Stadt der USA doppelt so schnell gewachsen sind. Los Angeles, in den 1980er Jahren mit einer Rate von 17,5 Prozent noch einer der Wachstumsmotoren unter den amerikanischen Städten, behauptete sich in der vergangenen Dekade mit 2,6 Prozent nur knapp vor der ewigen Konkurrentin New York. Und mit mageren 0,7 Prozent verzeichnete Central Los Angeles sogar die niedrigste Wachstumsrate seit den 1950er Jahren. Unterdessen erzielten die am weitesten außerhalb der Stadtgrenzen gelegenen Siedlungen Zuwächse von 30 Prozent.
Bild: Frank Meyl, architekturbild e.v. 
Den härtesten Rückschlag aber hatte Chicago zu verkraften. Nach einem Anstieg der Bevölkerung um vier Prozent in den 1990er Jahren, kehrten der Stadt im vergangenen Jahrzehnt rund 200.000 Einwohner den Rücken. Ein Minus von knapp sieben Prozent. Eindeutiger Gewinner ist auch hier der äußere suburbane Raum mit einem Plus von mehr als einer halben Millionen Einwohnern. Damit haben sich in Chicago die Hoffnungen von Lokalpolitikern und Planern fürs Erste zerschlagen, dass sich die Stadt nach herben Verlusten in den 1980er Jahren und der Erholung in den 90ern auf dem Weg zu einer dauerhaften Renaissance befindet.
Gänzlich unberührt von zwischenzeitlichen Erholungstendenzen blieben dagegen die altindustriellen Metropolen, die nach dem Niedergang der traditionellen Schwerindustrie und Massenproduktion bis heute nicht wieder auf die Beine gekommen sind. Detroit, einst groß geworden mit der boomenden Automobilindustrie, zählte Mitte des 20. Jahrhunderts noch mehr als 1,8 Millionen Einwohner. Beim jüngsten Zensus wurden noch etwas mehr als 700.000 ermittelt. Nicht anders sieht es in Baltimore, Birmingham, Cleveland oder Pittsburgh aus.

Ganz oben: die Region Las Vegas
Wie schon in den 1990er Jahren erlebten die großen Metropolregionen des Landes auch nach der Jahrtausendwende den stärksten Zustrom. Die Mehrzahl der Neubürger, die sich auf der Suche nach guten Jobs in den städtisch geprägten Regionen niederließen, entschied sich bei der Wahl des Wohnortes jedoch für den suburbanen Raum. Am deutlichsten zeigt sich der Trend in den 50 Metropolregionen mit mehr als einer Million Einwohnern, die inzwischen zu dichten Siedlungsteppichen verschmolzen sind. Anhand der Zensus-Daten hat der Stadtforscher Joel Kotkin errechnet, dass dort nur knapp neun Prozent des gesamten Bevölkerungswachstums auf das Konto der jeweiligen Städte ging, der große Rest verteilte sich auf die Vororte. Und das keinesfalls gleichmäßig: Die Anziehungskraft der suburbanen Siedlungen steigt mit der Entfernung vom Stadtzentrum.
Bild: Frank Meyl, architekturbild e.v. 
Ein Trend, der auch den Problemen geschuldet sein dürfte, mit denen viele ältere, zentrumsnahe Vorortsiedlungen mittlerweile zu kämpfen haben. Die Suburbs der ersten und zweiten Generation leiden an baulichem Verfall, Mängeln in der Infrastruktur, steigenden Arbeitslosenzahlen und Verarmungstendenzen. Hinzu kommt ein wachsender Anteil ethnischer Minderheiten. Sie stellen inzwischen mehr als ein Drittel der Vorortbewohner gegenüber einem knappen Fünftel im Jahr 1990. Die zahlungskräftigere weiße Mittelschicht wandert derweil ab in die weiter entfernten Suburbs und "Gated Communities" an den Rändern der Metropolregionen, in denen sie noch weitgehend unter sich ist.
Die größte Magnetwirkung entfalteten auch im vergangenen Jahrzehnt die klassischen suburban geprägten Metropolregionen um Las Vegas, Austin, Phoenix, Houston oder Atlanta im sonnenverwöhnten Süden und Südwesten. Sie konnten mit bezahlbarem Bauland, preiswerten Eigenheimen und dem Verzicht auf Baubeschränkungen punkten. Auf der Beliebtheitsskala ganz oben rangierte nach wie vor die Region um Las Vegas mit einem Bevölkerungswachstum von rund 42 Prozent. Allerdings macht sich in der Sunbelt-Region die Immobilienkrise am Ende des Jahrzehnts auch am heftigsten bemerkbar. In den uniformen Einfamilienhaussiedlungen rund um Las Vegas lag die Wachstumsrate zwischen 1990 und 2000 noch mehr als doppelt so hoch, wie aus der Studie von Frey hervorgeht.
Bild: Frank Meyl, architekturbild e.v. 
Am wenigsten scherten sich ganz offensichtlich diejenigen um die in sie gesetzten Erwartungen, die von Urbanisten wie Richard Florida seit Jahren als Vorhut der Re-Urbanisierung und Garanten der wirtschaftlichen Erholung der Städte gefeiert werden. Die Jungen, Gebildeten und Kreativen aus der Mittelschicht verabschiedeten sich, wie schon die Generation ihrer Eltern, von den städtischen Zentren, sobald sie die Phase der Familiengründung erreichten. So weist Joel Kotkin darauf hin, dass von den Städtern, die im Jahr 2000 zur Gruppe der 25- bis 34-Jährigen zählten, bis 2010 bereits jeder Vierte die Stadt verlassen hatte, während ihr Anteil in den suburbanen Regionen um zwölf Prozent gestiegen ist. Selbst Städte, die aufgrund ihrer toleranten Atmosphäre, ihrer kulturellen Vielfalt, einer lebendigen Szene und guter Jobs eigentlich zu den Gewinnern zählen müssten, verzeichneten Floridas Credo zum Trotz in dieser Altersgruppe Verluste im zweistelligen Prozentbereich: New York rund 15 Prozent, San Francisco und Oakland mehr als 20 Prozent und Boston annähernd 40 Prozent. "Städte haben zwar noch immer einen Reiz für die Jungen und Rastlosen, aber sie können sie nicht auf Dauer halten", so Kotkins Fazit.

Das Zentrum ist zu teuer
Man darf das gebremste Wachstumstempo der großen Städte getrost als Kehrseite ihres eigenen Erfolgs interpretieren. Lange Zeit galten die heruntergekommenen Innenstädte, hohe Kriminalitätsraten und schlechte Schulen als Hauptgrund dafür, dass die Mittelschichtfamilien, die es sich leisten konnten, in die vorstädtische Idylle flüchteten. Mittlerweile zwingt gerade die gestiegene Attraktivität der Städte, die den Übergang zur postindustriellen Ökonomie geschafft haben, selbst die Bezieher mittlerer Einkommen zur Abwanderung, obwohl viele lieber bleiben würden. Denn in den mit großem Aufwand revitalisierten und gentrifizierten Zentren von New York, Los Angeles, Chicago oder Boston können sich nur noch Top-Verdiener die ins astronomische schießenden Immobilienpreise und Mieten leisten.
Das hat vermutlich auch diejenigen abgeschreckt, die angesichts des demographischen Wandels als potenzielle Rückkehrer in die Städte galten: die Empty-Nesters, jene Paare aus den Vororten, deren Kinder mittlerweile aus dem Haus sind, und die steigende Zahl der Rentner, die der suburbanen Langeweile entgehen wollen. Sie entscheiden sich bislang jedoch eher für Kleinstädte und ländliche Regionen statt für die teuren Großstädte. Als nicht zu unterschätzende Wachstumsbremse für die größeren Städte erweist sich überdies ein noch recht neuer Trend, der sich besonders in der Gruppe der hispanischen Einwanderer ausmachen lässt. Sie lassen sich immer häufiger direkt in den Vororten nieder und wählen erst gar nicht mehr den Umweg über die Kernstädte. Insofern jedenfalls passen sie sich dem Mehrheitsgeschmack der suburbanen Nation bereits an. Werner Girgert

Der Autor ist Journalist und Soziologe. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt im Bereich der Stadtforschung. Sein besonderes Interesse gilt den Folgen der Globalisierung und dem Thema Gentrifizierung.


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Die Bilder dieses Beitrags sind von Frank Meyl; mit ihnen erhielt er beim Europäischen Architekturfotografie-Preis architekturbild 2011 "Dazwischen" eine Anerkennung. Frank Meyl über seine Bildserie: "Die Bilder sind Teil eines laufenden Kunstprojekts mit dem Titel 'Open Spaces'. Thematisiert wird der Umgang des Menschen mit Raum, wenn dieser quasi als endlose Weite vorliegt. Schnell wird der ursprüngliche Boden beschichtet, Mauern und Zäune zur Abgrenzung errichtet, sowie Zeichen und Schilder zur Orientierung aufgestellt. Zwischenräume entstehen, ohne die ein Leben unmöglich erscheint?"

Der Europäische Architekturfotografiepreis architekturbild 2013 ist bereits ausgelobt. Das Thema des nunmehr zehnten Wettbewerbs lautet "Im Brennpunkt – Focus of Attention".