You'll never walk alone

Autor:
ch
Veröffentlicht am
Juni 13, 2012

Seit letzter Woche ist es wieder so weit: In den Städten werden Plätze und Kneipen, Gärten und Straßen zu Orten, an denen in größeren und kleineren Gruppen Fußball geschaut wird. Der Erfolg von Public Viewing lässt sich aber nicht nur als Fußballeuphorie deuten. Er sagt viel aus darüber, wie Menschen Stadt verstehen.
 
Mit dem Beginn von Fußballgroßereignissen verwandelt Public Viewing seit wenigen Jahren, teilweise aufwändig geplant, teilweise spontan inszeniert, die öffentlichen und halböffentlichen Räume der Stadt. Innerstädtische Verkehrsringe werden zu Strecken für Autokorsos, Nationalflaggen, Transparente und Wimpel schmücken Hausfassaden. Kopfbedeckungen, Halsketten und farbige Schminke signalisieren, welcher Mannschaft die Sympathie gilt.
Davon kann man sich distanzieren. Kritik lässt sich treffend belegen, wenn man Public Viewing (im Folgenden abgekürzt mit PV) lediglich auf die Ökonomisierung des städtischen Raums bezieht. Damit benennt man sicher einige der zu kritisierende Aspekte – etwa die, dass Städte sich von privaten Organisationen die Bedingungen zur Einrichtung von Fanmeilen und -zonen diktieren lassen, dass die überwachten Areale der Stadt ausgeweitet werden. In seiner umfassenderen Form ist PV zunächst aber erstmal eine Möglichkeit, Fußballspiele überhaupt oder überhaupt gemeinschaftlich sehen zu können. Die begrenzten Plätze im Stadion, die hohe Preise für Tickets, die Unmöglichkeit, die Reise zu Auswärtsspielen anzutreten und die Zugangsbeschränkung durch das Bezahlfernsehen stellen dem nämlich beträchtliche Hindernisse entgegen. PV enthält also genauso gut ein Momentum des Widerstands gegen Ökonomisierung; zudem wird durch regelmäßige Nutzung die Aufmerksamkeit für den öffentlichen Raum gesteigert. Deswegen lohnt sich vielleicht doch der unvoreingenommene Blick, der das Phänomen etwas umfassender in den Blick nimmt und darin offizielle wie informelle Formen des PV einschließt.

Ein städtisches Fest, das Gemeinschaft stiftet
PV-Veranstaltungen sind Feste. Zum Fest gehört, dass es eine Sonderstellung gegenüber dem Alltag einnimmt. Auch die emotionale Erregung, auf der auch die Faszination des PV basiert, kann nicht beliebig vermehrt werden. Die Ereignisse um die Fußballspiele in den Städten sind insofern Feste, als es sich dabei um Inszenierungen handelt: "Inszenierungen sind absichtsvoll eingeleitete oder aufgeführte sinnliche Prozesse, die vor einem Publikum dargeboten werden, und zwar so, dass sich eine auffällige spatiale und temporale Anordnung von Elementen ergibt, die auch ganz anders hätte ausfallen können." (Seel)
 
Der Sinn solcher Inszenierungen besteht nach Seel darin, Gegenwart auffällig zu machen. Sowohl in Stadien als auch beim PV wird vor allem die gemeinsame Betrachtung des Spiels inszeniert: Das Publikum inszeniert sich vor sich selbst und vor anderen. Es macht sich sichtbar als eine Gruppe, als die es weder von sich selbst noch von anderen wahrgenommen werden würde, weswegen dem Zeichen für diese Gemeinsamkeit eine große Rolle zukommt. Diese Inszenierungen sind darin Teil eines Prozesses, der für die Stadt konstituierend ist und in dem die Stadt selbst Medium wird – in ihr werden Menschen als Gruppen sichtbar. Im PV ist die Verschränkung mit medialer Vermittlung zudem bereits im Ereignis selbst angelegt, und dabei wird ein komplexer Prozess in Gang gesetzt. Hier findet nicht nur die Verwandlung von Wirklichkeit in Bilder statt, sondern auch die Verwandlung von Bildern in Wirklichkeit: Im PV entsteht durch das übertragene Bild eine dem Stadion ähnliche Wirklichkeit. Der medial vermittelte Erfolg des PV wiederum animiert dazu, am PV teilzunehmen oder PV anzubieten.
PV schafft das Stadion an der Straßenecke. Die auf den Fußball fokussierte Gruppe bildet in der Konzentration auf das Spiel eine Gemeinschaft auf Zeit, in der Regeln außer Kraft gesetzt sind, die sonst im öffentlichen Raum gelten: Es ist nicht peinlich vor anderen ausgelassen zu sein oder zu weinen. In dieser Trennung zwischen Sphären des Alltags und des Festes wird eine eigene Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem konstituiert. Während normalerweise in der Öffentlichkeit Regeln gelten, die die Privatheit in der Öffentlichkeit schützen (so etwa der Zwang, Handy-Gesprächen nicht zu folgen und ihren Inhalt nicht zur Kenntnis zu nehmen), so ist dieser Schutz der Privatsphäre im PV aufgehoben. In diesen Momenten schafft sich ein besonderes Bedürfnis nach Unmittelbarkeit Raum. Vergleichbar mit Sondersituationen wie dem Karneval kann dies als eine Kompensationsleistung verstanden werden, als Ausgleich zur Disziplin, die von den Menschen sonst bei der Einhaltung der Regel im Umgang miteinander verlangt wird. Demnach wäre das Öffentliche nicht nur etwas, das politisch und ökonomisch interpretiert (und idealisiert beziehungsweise kritisiert) werden kann, sondern gerade in seinen besonderen und außergewöhnlichen Nutzungszusammenhängen auch eine soziale Qualität darstellt, die auf keine andere Weise gewährleistet werden kann.
 
Es ist nachvollziehbar, dass die Innenstadt einige organisatorische Vorteile für das PV bietet – für den Anbieter wie für den Konsumenten. Hier lassen sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ohne Verabredung Gelegenheiten des PV in allen Varianten finden. Wenn die Vergemeinschaftung aber ein wichtiger Movens für die Teilnahme an PV ist, dann ist die Innenstadt nicht nur aus pragmatischen Gründen der prädestinierte Ort, denn hier trifft sich das Bedürfnis nach Gemeinschaft mit den Sinn stiftenden Qualitäten der Innenstadt. "Wie können sich Menschen wechselseitig aufeinander beziehen und verständigen, wenn sie in mehreren verschiedenen Erfahrungsräumen leben? Die Stadt scheint der kleinste gemeinsame Nenner zu sein, der Ort, an dem sich heterogene Lebensstile und Milieus noch begegnen können." (Bittner)
Die Innenstadt repräsentiert die Gesamtstadt, sie ist der Ort, an dem noch eine kollektive Identität für die Stadtgesellschaft konstruiert werden kann. Identität als eine solche kollektive Kategorie antwortet dabei auf die Frage, welches "soziale Band die Einzelnen zusammenhält, welche Gemeinschaft jenseits der individualisierten Aktivitäten, Begehren und Interessen die Einzelnen integriert." (Delitz) Jede Gesellschaft, so Delitz, sei darauf angewiesen, "dass sie sich gegenüber dem faktischen Wandel der Einzelnen feststellt. Identitätsschaffung ist die Existenzweise des Gesellschaftlichen schlechthin."

Public Viewing – ein popkulturelles Phänomen
Der Eindruck, Fußball werde in die Sphäre der bürgerlichen Hochkultur integriert, entsteht dadurch, dass das kulturelle System als Ganzes sich so verändert hat, dass auch Fußball dessen selbstverständlicher Teil werden kann. Diese Veränderung der Kultur wird meist mit dem Terminus des Pop belegt– nicht der im engeren Sinne auf die Musik bezogene Terminus; angesprochen ist damit ein spezifischer Umgang mit gesellschaftlichen Systemen wie Wissenschaft, Kultur und Kommunikation, als ein durch Zeichen, Konsum und andere soziale Praktiken vollzogener Austausch über mögliche Weltzugänge. Pop sei, so Beat Wyss, das Versprechen auf Teilhabe am Konsum aller, die nach Glück streben. Pop setzt eine prinzipielle oder zumindest potenzielle Verfügbarkeit und Zugänglichkeit (und damit Vervielfältigbarkeit) voraus. Teilhabe, Zugänglichkeit, Verfügbarkeit – es ist offensichtlich, dass Pop im Kern ohne massenmediale Aufladung nicht zu denken ist.
Etablierte Grenzen von Disziplinen und deren immanente Selbstbeschreibungen spielen dabei eine untergeordnete Rolle – man kann sogar sagen, dass die Grenzüberschreitung essentiell zum Pop gehöre, dass es sein Wesen sei, in fremden Revieren zu wildern. Gesänge mittelalterlicher Mönche werden genauso popularisiert wie religiöse Symbole. Fangesänge oder Sportkleidung dringen in Bereiche ein, in denen sie lange tabu waren. Die Grenzen werden geschliffen: die zwischen Hoch- und Massenkultur, zwischen Kunst- und Warenästhetik, zwischen Virtualität und Realität. Pop folgt dem und erzeugt das Bedürfnis nach Emotionen und intensivem Erleben – und erschöpft sich darin doch nicht. In diesem Sinne ist auch die Kritik an der Kommerzialisierung nur eine einseitige Betrachtung: "Nicht die Ökonomie dringt in die Kultur ein, sondern es ist die Ökonomie, die kulturell aufgeladen wird." (Müller)
 
Als festliche Inszenierung und popkulturelles Phänomen reagiert PV auf die Rahmenbedingungen der Produktion von Architektur und Stadt. Auch hier verstellt es den Blick, Architektur und Stadt nur auf ihre dauerhaften Zeugnisse bezogen zu verstehen. Eine zeitlich begrenzte und mit entsprechenden Konsequenzen verbundene Raumproduktion muss nicht als unangemessene Notlösung bewertet werden, sie kann auch als eine unserer Zeit, ihren Möglichkeiten und Bedingungen adäquate Form aufgefasst werden, dessen essentieller Teil das Vorübergehende und Performative ist, das die unmittelbare Erfahrung durch Verdichtung zu intensivieren verspricht. Wenn man nicht mehr sicher sein kann, sich in Gebäuden und Lebensräumen auf Dauer einrichten zu können, wenn eine auf den Ort bezogene verlässliche Lebensplanung keine realistische Option mehr ist, muss Verlässlichkeit durch die Erhöhung von Optionen sichergestellt werden. Dem dienen die Netzwerke und eine permanente Bereitschaft der Neuorientierung. Im Mittelpunkt des durch PV produzierten Raums steht ein Spiel, das diese Lebenshaltung widerspiegelt und dramatisiert, das die permanente Bereitschaft voraussetzt, auf der Basis hohen Könnens und spezifischer Intelligenz in einem einzigen maßgeblichen Augenblick eine nie vorher dagewesene Situation nutzen und damit möglicherweise über Sieg und Niederlage entscheiden zu können. Wie in der Improvisation werden aus Regeln neue und überraschende Momente erzeugt. Das muss nicht nur beim Fußball passieren, wie Christopher Dell meint: "Als Metathese gilt: Die Improvisation ist der grundsätzliche Lebensentwurf unserer Zeit. Improvisation ist Fußball, ist Architektur, ist gelebter Raum." ch

Der Artikel ist eine gekürzte Fassung eines Beitrags, der in der neuen Ausgabe der Zeitschrift "Forum Stadt" erscheint.
Zitierte Quellen
Martin Seel: Inszenieren als Erscheinenlassen, in: S. Hauser, C. Kamleithner, C. und R. Meyer (Hrsg.): Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Band 1. transcript, Bielefeld 2010, S. 352-358

Regine Bittner: Die Stadt als Event, in: dies. (Hg.): Die Stadt als Event. Zur Konstruktion urbaner Erlebnisräume. Campus Verlag, Frankfurt/ Main 2001, S. 16-25

Heike Delitz: Identität, Heimat, Architektur. Soziologische Überlegungen. In: BDA Jahrbuch 2008.2011, Architektur und Identität. BDA Niedersachsen, Hannover 2011; S. 82-87

Michael Müller: Kultur der Stadt. Essays für eine Politik der Architektur. transcript, Bielefeld 2010

Beat Wyss: Die Welt als T-Shirt. Zur Ästhetik und Geschichte der Medien. DuMont, Köln 1997