Der Bilbao-Defekt

Autor:
Werner Girgert
Veröffentlicht am
Juni 8, 2011

Städte wie Bilbao oder Glasgow gelten als Vorreiter beim Stadtumbau durch Kultur und Großereignisse. Arbeitsplätze für die vom Niedergang der Industrie Betroffenen sind dabei kaum entstanden. Stattdessen haben sich die sozialen Gegensätze verschärft.
 
Fasziniert blicken Lokalpolitiker und Stadtplaner aus aller Welt seit Jahren auf die baskische Provinzhauptstadt Bilbao. Lange Zeit allenfalls mit Eta-Terrorismus, siechender Industrie und hohen Arbeitslosenzahlen in den Schlagzeilen, ist die einstige Stahlmetropole inzwischen zum Inbegriff für den postindustriellen Stadtumbau geworden. Mit der Eröffnung einer Dependence des New Yorker Guggenheim-Museums im Jahr 1997 hat die Stadt nach Bekunden der politisch Verantwortlichen ihren Abwärtstrend gestoppt, sich als neues Mekka des internationalen Kunsttourismus' und als attraktiver Standort für Unternehmensansiedlungen etabliert. Marketing-Experten schwärmen bereits vom "Bilbao-Effekt", wenn sie den Einsatz von Kultur als Motor des Strukturwandels preisen.

Längst gilt Bilbao neben Barcelona und Glasgow als Vorbild für viele einst prosperierende Industriestädte, die seit Jahrzehnten gegen die Folgen des ökonomischen Niedergangs kämpfen. Immer mehr Kommunen setzen im Wettbewerb um Investitionen, um Arbeitsplätze, höhere Steuereinnahmen, Touristen und nicht zuletzt um öffentliche Subventionen auf Kultur und Spektakel als Impulsgeber für wirtschaftliches Wachstum und Pluspunkte im internationalen Städte-Ranking. Neben avantgardistischen Museumsbauten und Opernhäusern zählen kulturelle und sportliche Großereignisse zu den Jokern im Poker um überregionale Aufmerksamkeit.

Barcelona ist als Gastgeber der Olympischen Spiele und des Weltkulturforums eine bauliche und kulturelle Aufwertung des Stadtzentrums gelungen, die internationale Beachtung fand und das Image der Stadt als mediterrane Trendmetropole begründete. Das schottische Glasgow gilt in Großbritannien als Pionier des konsumorientierten Stadtmarketings mit Großveranstaltungen. 1990 nutzte Glasgow als eine der ersten Städte den mit dem Titel "Europäische Kulturhauptstadt" verbundenen Zufluss an Fördermitteln für den Stadtumbau. Inzwischen schmückt sich Glasgow mit den Titeln "Stadt der Architektur" und "Hauptstadt des Sports". Die Ruhrgebietsstädte haben das Kulturhauptstadt-Modell im vergangenen Jahr kopiert. Lissabon und Hannover dagegen sahen in der Ausrichtung der Expo ihre Chance auf der Suche nach Wachstumspotenzialen. Aber nicht nur die Zaungäste der Globalisierung wie Glasgow oder Lissabon, auch die alten Weltstädte London, Paris, Berlin und Wien haben in den vergangenen Jahren enorme Summen in Museen und Kultureinrichtungen investiert.
 
Beworben wird die Stadterneuerungspolitik mittels prestigeträchtiger Projekte von den zuständigen Akteuren aus Politik und Wirtschaft stets aufs Neue mit den ökonomischen Wohltaten, die sich wie ein warmer Regen gleichmäßig über die Stadt und ihre Bürger ergießen sollen. Schon der flüchtige Blick auf die Adressaten nährt Zweifel an den wohlklingenden Verheißungen. Denn die Revitalisierung der städtischen Zentren zielt in erster Linie auf die neuen hochqualifizierten Mittelschichten aus der Dienstleistungs- und Kreativbranche, auf zahlungskräftige Touristen und auf potenzielle Investoren, die mit ihren Standortentscheidungen die ersehnten Steuereinnahmen und Arbeitsplätze bringen sollen.

So beschert der Guggenheim-Ableger der Stadt Bilbao zwar einen erheblichen Image-Gewinn und knapp eine Million Kulturtouristen jährlich. Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt erweisen sich bei genauerer Betrachtung jedoch als dürftig, wie die Wirtschaftswissenschaftlerin Beatriz Plaza von der Universität in Bilbao festgestellt hat. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit verdankt sich zu einem erheblichen Teil der großzügig genutzten Frühverrentung ehemaliger Industriearbeiter und der Abwanderung von Arbeitskräften aus Andalusien, die einst in Bilbaos Stahlindustrie ihr Auskommen fanden. Von den rund 4.000 neu entstandenen Arbeitsplätzen in Hotels und Restaurants ist gerade mal jeder Vierte ein Vollzeit-Job. Bei 40 Prozent handelt es sich um prekäre oder informelle Beschäftigungsverhältnisse. Und die Löhne in Bilbao zählen zu den niedrigsten im Baskenland.

Gleichzeitig sind in den Vierteln rund um das Museum die Immobilienpreise gewaltig in die Höhe geschossen. Allein in den ersten sieben Jahren nach der Eröffnung stieg im Zentrum von Bilbao der Preis für Wohnungen im Durchschnitt um 150 Prozent. Inzwischen zählt Bilbao neben Madrid und Barcelona zu den teuersten Städten Spaniens. Geringverdiener finden bezahlbaren Wohnraum nur noch am Stadtrand. Nicht nur die räumliche Polarisierung der Bevölkerung hat sich verschärft, auch die Kluft zwischen Arm und Reich ist größer geworden. Seit der Jahrtausendwende ist die Zahl der Armen und der Sozialhilfeempfänger in der Stadt kräftig angestiegen. Profitiert haben die lokalen Eliten: Bauunternehmer und die Immobilienbranche sowie die kleine Gruppe der gut Ausgebildeten, die in den neu angesiedelten Technologiebranchen sowie bei Finanz- und Unternehmensdienstleistern einen Job gefunden haben.
 
Ob in Barcelona, Glasgow oder Paris, in nahezu allen Städten, die in den vergangenen Jahren für die kulturelle und städtebauliche Wiederbelebung ihrer Zentren gefeiert wurden, stellt sich die Situation ähnlich dar: Zu den Gewinnern zählen die gut verdienenden Mittel- und Oberschichten, Verlierer sind die Armen und Geringverdiener. Die New Yorker Soziologin Sharon Zukin spricht bereits von einem "universellen Effekt", der mit der Aufwertung der urbanen Zentren einhergeht: die Vertreibung der Armen an die Ränder der städtischen Gesellschaft.

Auch Glasgow ist heute eine tief gespaltene Stadt. Cappuccino-Kultur und bitterste Armut liegen nur einen Steinwurf auseinander. Vier von zehn Haushalten leben in Armut. Die Arbeitslosigkeit liegt bei fast 30 Prozent. Auf der anderen Seite hat die Zahl der gut dotierten Jobs im Bankensektor, bei den Finanzdienstleistern und Beratungsfirmen enorm zugelegt. Im boomenden Zentrum drängen sich moderne Bürohäuser neben neuen Museen und einer Konzerthalle für rund 30 Millionen Pfund. Im East-End dagegen und an den Rändern der Stadt gehören Bandenkriege, Raubüberfälle und Messerstechereien zum Alltag. Der Londoner "Guardian" bezeichnete Glasgow bereits als "Hauptstadt der Morde". Ganze Stadtteile sind abgehängt von der Entwicklung. Dort leben diejenigen, an denen der ökonomische und kulturelle Aufschwung der Stadt vorbeigegangen ist, weil ihnen die Qualifikationen für die neu geschaffenen Jobs fehlen, von denen laut OECD die Hälfte mit Auswärtigen besetzt wurden. Unterdessen setzen die politisch Verantwortlichen ihre Politik des Spektakels fort, die nach Meinung des Soziologen Gerry Mooney von der Universität in Edinburgh die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert hat: 2014 will sich Glasgow als Austragungsort der Commonwealth-Spiele präsentieren.

Barcelona rühmt sich heute seiner neu entstandenen kulturellen Zentren und der Konsolidierung als Wirtschaftsmetropole von europäischem Rang. An dieser Kultur aus Galerien, Designer-Läden, Cafés und schicken Restaurants haben die Geringverdiener, die dort einst lebten, keinen Anteil mehr. Altstadtviertel mit bezahlbarem Wohnraum mussten Platz machen für das neue Barcelona, das inzwischen als teuerste Stadt Spaniens gilt mit Durchschnittsmieten von mehr als zwölf Euro pro Quadratmeter. Auch im Olympischen Dorf, das mit enormen öffentlichen Mitteln errichtet wurde, können sich nur diejenigen eine Wohnung leisten, die über einen dicken Geldbeutel verfügen. Der Dienstleistungssektor, in dem inzwischen 84 Prozent aller Beschäftigten tätig sind, hält auch in Barcelona für das Gros der ehemaligen Industriearbeiter und Niedrigqualifizierten nur unsichere Jobs am unteren Ende der Lohnskala bereit.
 
Tom Cannon, Professor für Strategische Entwicklung an der Universität von Liverpool, warnte kürzlich davor, dass Städte zunehmend zu Opfern ihrer eigenen Attraktivität werden. Denn die Inszenierung des städtischen Raums zur Ankurbelung des Tourismus' und für die Wohnbedürfnisse einer neuen urbanen Bohème bezahlen die an den Rand der Gesellschaft Gedrängten mit einer Verschlechterung ihrer Wohn- und Lebenssituation. Im Wettbewerb um Standortvorteile nehmen die politisch Verantwortlichen diese soziale und räumliche Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen immer öfter bewusst in Kauf, indem sie die ohnehin knapp bemessenen öffentlichen Mittel primär auf den Stadtumbau zugunsten der Mittelschicht konzentrieren und die vom Niedergang der Industrie am meisten Betroffenen mit Almosen abspeisen. In Barcelona, wo der Mangel an bezahlbaren Wohnungen immer spürbarer wird, machen die Jüngeren inzwischen ihrem Unmut mit Hausbesetzungen Luft. Stadtteilgruppen und Bürgerinitiativen wenden sich gegen den offensiven Umbau ihrer Stadt zum touristischen Themenpark, hinter dessen ästhetisch geglätteten Fassaden die sozialen Probleme lediglich versteckt aber nicht beseitigt werden. Werner Girgert

Der Autor ist Journalist und Soziologe. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt im Bereich der Stadtforschung. Sein besonderes Interesse gilt den Folgen der Globalisierung und dem Thema Gentrifizierung.
Der Beitrag von Werner Girgert erschien am 8. Mai in der Frankfurter Rundschau. Wir danken der Redaktion der FR dafür, dass wir den Text veröffentlichen dürfen.

Die Bilder dieses Beitrags sind von Meike Fischer, mit denen sie beim Europäischen Architekturfotografie-Preis 2011 "Dazwischen" ausgezeichnet wurde.
Meike Fischer über die Bildserie "verschwinden": "Wer im Jahr 2011 durch Frankfurt fährt, wähnt sich in einer nicht enden wollenden Baustelle. Neue Wohnviertel, Bürogebäude und Hochhäuser entstehen, innerstädtische Brachen werden erschlossen, alte Gebäude überall in der Stadt abgerissen, um Platz zu machen für die Moderne. Dass Frankfurt dabei auch einen Teil seiner Identität verliert, weil viele Gebäude vorschnell abgerissen werden, ist Realität. Die fotografischer Serie 'verschwinden' befasst sich mit dem Wandel in Frankfurt, mit dem Verschwinden alter Viertel, dem Entstehen neuer Quartiere und mit der rasanten Veränderung der Stadtarchitektur. Mir erscheint wichtig, diesen einzigartigen Schwebezustand einzufangen."

Die Bilder von Meike Fischer sind im Rahmen der Ausstellung "In Between. architekturbild — Europäischer Architekturfotografie-Preis 2011" noch bis zum 19. Juni im Deutschen Architekturmuseum zu sehen.