Der Mensch ist kein Seeigel

Autor:
ch
Veröffentlicht am
Juni 20, 2012

Die Diskussionen um das Urheberrecht im Frühjahr sind kaum von und mit Architekten geführt worden. Gebaute Häuser lassen sich eben nicht so leicht illegal kopieren. Ist es wirklich so einfach? Es könnte ja auch sein, dass die jüngste Urheberrechtsdebatte mehr mit der Arbeit von Architekten zu tun hat, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Eine kleine Polemik.
 
Es mag dem ein oder anderen ganz recht sein, dass die Piratenpartei inzwischen oft einer pubertierenden WG ähnelt und mehr durch Personalquerelen und alberne Skandälchen auf sich aufmerksam macht, als weiter an inhaltlichen Positionen zu feilen, die eine Chance hätten, tatsächlich in der Politik zu bestehen. So sind auch ganz schnell die Diskussionen um einen – den Realitäten des Internet entsprechenden – Umgang mit Autorenschaft und Urheberrecht wieder aus den Zeitungen verschwunden. Damit ist der wunde Punkt, an den die Piraten rührten, aber nicht verheilt. Architekten mögen sich schon während der Debatte entspannt zurück gelehnt haben. Zwar haben auch Architekten eine eigene Urheberrechtsdiskussion: Sie geht beispielsweise um sanierungsbedürftige Häuser und die Frage, wieweit Eingriffe in die Substanz vorgenommen werden dürfen, vor allem, wenn nicht der Architekt, der das Haus entwarf, selbst darüber entscheidet. Die Diskussion des Frühjahrs betraf doch vor allem die Frage nach den vervielfältigbaren Formen kultureller Äußerung: Musik, Texte, Bilder. Doch Häuser lassen sich nicht aus dem Internet runterladen. Gesetze regeln, wer eingabeberechtigt ist und wer nicht. Und überhaupt denken Architekten eher in Jahrhunderten und bekümmern sich nicht um neumodische Kommunikationsformen.

Wer nimmt wie am Diskurs teil?
Vielleicht wäre es aber doch nicht schlecht, sie täten es. Wird man es hinnehmen, dass die schöpferische Leistung von Autoren oder Musikern, von Fotografen oder Designern gering geschätzt wird, ist es vielleicht auch nicht mehr weit bis dahin, wo auch die schöpferische Arbeit des Architekten dieses Schicksal teilt.
Es ist zudem auch nicht nebensächlich, wer wie am Diskurs teilnimmt. Architekten darf nicht gleichgültig sein, welche Qualität die argumentative Vertiefung, ihre Verbreitung und die Zugänge zu Foren der Auseinandersetzung haben. Und wie Qualität differenziert werden kann. In einem Interview hat Neil Young darauf hingewiesen, wie wichtig sie ist: "Man findet ja alles, was im Radio längst nicht mehr läuft. Das Problem ist nur die Klangqualität (...) Selbst wenn Du im Internet alles findest, klingt es schlicht scheiße." (Das Interview erschien in der Süddeutschen Zeitung am 2. Juni und ist passenderweise nicht kostenlos im Internet zugänglich). Auch hierin lassen sich Parallelen zur Erwartung von Architekten formulieren: Dass sich Qualität in Intensität und Differenzierung in Details und Ausführung bewerten lassen müsse, in Feinheiten der Materialität und der Delikatesse der Raumproportionen. Derartiges muss weiter diskursfähig bleiben – auch wenn man im Internet über Architektur spricht.
Wenn man erwartet, dass die Argumente für Qualität Gewicht bekommen, muss man auch bereit sein zu unterstützen, was diese Qualität argumentativ fördert: Die entsprechenden Medien, die Ausbildung, die entsprechenden Veranstaltungen und eben auch die entsprechenden Diskussionen im Netz. Ich will nicht behaupten, dass Architekten das nicht tun und Qualitäten, die ihnen wichtig sind, nicht verteidigen.
Wenn man die Kreise aber etwas weiter zieht, dann stimmt es doch bedenklich, wenn in einem Land, in dem Bildung angeblich so wichtig ist, die Arbeit von Erzieherinnen abgewertet wird, indem man behauptet, sie könne auch von denen erledigt werden, die gerade noch an der Kasse eines Discounters saßen. Wenn man Bildung auf Tauglichkeit für den Berufsmarkt reduziert, die Qualität und Ausstattung von Hochschulen von deren Leistungen bei der Drittmittelakquise abhängig macht, werden Spielräume dessen eingeschränkt, was jenseits der Markttauglichkeit diese Gesellschaft prägen könnte, was für den sozialen Kitt wie für das kreative Potenzial einer Gesellschaft eine Rolle spielen könnte. Soll über Architektur irgendwann der entscheiden, der am meisten Freunde hat, dessen Portal die beste Werbestrategie hat, der die meisten "Gefällt-Mirs" bekommt, der einfach viel und immer und zu allem bloggt und postet?
 
Das Kreuz mit der Objektivität
Irgendwie scheinen Architekten oft zu denken, das alles gehe sie nichts an, weil sie sich so lange mit vermeintlicher Objektivität gegen Kritik immunisiert haben, dass sie selbst dran glauben. Architektur ist aber nicht objektiv. Sie ist im Sinne Rittels ein bösartiges Problem: Sie ist nie richtig. Das kann man nur glauben, wenn man Architektur auf einen Satz feststehender Regeln reduziert, die zu erlernen man eine Ausbildung hinter sich bringt. Wenn man meint, die Qualität von Architektur lasse sich in quantifizierbaren Größen erschöpfend erfassen – Energieverbrauch, Haltbarkeit, Kosten. Architektur lässt sich aber nicht in richtig oder falsch kategorisieren. Ihre Qualität kann man nicht abstrakt beschreiben, kann man nicht in Konstanten oder Gesetzmäßigkeiten dingfest machen, auch wenn man gerade mit den DGNB-Siegeln wieder einen Versuch unternimmt, Architektur in Tabellen zu pressen. Architektur ist auch nicht richtig, weil man sich die Natur, zum Beispiel Seeigel zum Vorbild nimmt. Der Mensch ist aber kein Seeigel, sondern ein kulturelles und gesellschaftliches Wesen. Und deswegen ist die Frage von guter Architektur immer auch Teil eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses, Teil einer komplexen Struktur, in der Werte, Symbolsysteme, Rationalitätsverständnis und Weltdeutungen auf den Bedeutungsgehalt Einfluss nehmen, den man ihr beimisst. Welche Bedürfnisse Architektur befriedigen soll, ist in einen gesellschaftlichen Diskurs über sie verflochten; es gibt diese Bedürfnisse nicht apriori. Die Formen, in denen man sich austauscht, sind schon selbst Teil dessen, was man verhandelt. Der Diskurs wird nicht nur auf respektheischenden Podien mit bekrawatteten und honorigen Herren in Amt und Würden jenseits der 60 geführt. Wir sind nicht nur keine Seeigel, wir sind auch keine Bürgergesellschaft mehr, die in exklusiven Salons auskungelt, Verzeihung, diskursiv ausficht, was guter Geschmack zu sein habe.
 
Multiple Autorenschaft und diffuser Werkbegriff
Richtig ist, dass jede Architektur Teil der Geschichte von Architektur ist. Diese Geschichte lässt sich nicht ignorieren, sie lässt sich aber auch nicht reduzieren, weder auf eine in ihr zur Erscheinung kommende Essenz noch auf eine Entwicklung hin zu einer Stadt, von der Auserwählte bestimmen, wo in ihr das Gute, Wahre und Schöne zu finden sei. Es gibt keine aus der Geschichte deduzierbare, folgerichtige Entwicklung, die durch "subjektive Vorlieben" oder "Individualismus", wie es dann heißt, gestört werden kann.
Das Erstaunliche ist, dass man auch für das vermeintlich objektiv Richtige den privilegierten Entwerfer fordert. Es gibt ihn eben doch: den subjektiven Entwerfer, sein Werk, und dessen Einzigartigkeit. Daran sieht man, dass es vielleicht noch einen Grund gibt, weswegen Architekten nicht so ganz unberührt davon bleiben sollten, welche Bedeutung Plattformen wie Facebook bekommen, wie Schwierigkeiten des Buchmarkts einzuschätzen sind, wie die Arbeit von Kreativen honoriert wird.
Es lässt sich beispielsweise auch anhand der aktuellen documenta in Kassel beobachtet, dass der Werkbegriff in der Kunst bereits reichlich diffus wird: wenn Guerilla Gardening und ein von arbeitslosen Künstlern und Handwerkern renoviertes Haus als Kunst eines anderen gelten, dann wird nicht mehr zuzuordnen sein, worin die originäre Arbeit des Künstlers noch bestehen könnte. Mit dem Internet und der anderen Logik, die die alleinige Autorenschaft zugunsten von gemeinsamen Arbeiten in Open-Source Projekten zum ersten Mal wirklich zu einem Erfolgsmodell macht, entstehen Texte und Arbeiten in der Zusammenarbeit vieler – wer mag dann ausschließen, dass auch der Architekturentwurf als Gruppenarbeit entsteht, in der die Baueingabe lediglich ein letzter Akt einer einzelnen Person besteht, die aber nicht mehr schöpferisch tätig gewesen sein muss? (Mal ganz abgesehen davon, dass auch jetzt schon vielen Baueingaben keine schöpferische Leistung des Einreichenden zugrunde liegen zu scheint – leider fehlt in diesen Fällen aber auch jede andere schöpferische Tätigkeit; aber das ist ein anderes Thema).
 
Wenn sogar schon die Fußballzeitschrift Kicker Kant darin zitiert, dass der Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils kein Erkenntnisurteil ist, sondern "nicht anders als subjektiv sein kann ...", dann dürfen sich auch Architekten die grundsätzliche Subjektivität jedes Entwurfs eingestehen und müssen sie nicht mit Objektivierungsstrategien vernebeln. (Wenngleich der Autor des Kicker auch aus Wikipedia abgeschrieben haben könnte). Die Anerkennung, dass das ästhetische Urteil keines der Erkenntnis ist, könnte helfen, zumindest für Neues und neue Arten der Arbeit an architektonischen Formen sensibilisiert zu bleiben, sich den Fragen ihres Ausdrucks, ihrer Bedeutung zu öffnen, ein Gespür dafür zu behalten, wie sich Repräsentanz, Bedeutung und Stadtnutzung neu aufeinander beziehen lassen könnten. Sich der Kultur des Kopierens und der multiplen Autorenschaft zu öffnen. Oder der Qualität von Architektur als Engagement. (Dazu nächste Woche mehr). Wenn man dies alles tut, ist man vielleicht auch darin überzeugender, für gute Arbeit anständige Honorare zu beziehen. Hoffe ich wenigstens.
In welche Richtung sich Architektur entwickeln könnte, wenn der Diskurs zeitgemäß und lebendig geführt wird, wenn sich neue Formen der Autorenschaft entwickeln, ist deswegen noch nicht abzusehen, es wäre auch seltsam, wenn sich dazu ein Autor verstiege, das prognostizierten zu können, der doch eben noch dafür plädiert hat, aus der Vergangenheit keine normativen Notwendigkeiten für den Entwurf abzuleiten. Mir scheinen nur weder parametrische Eigensinnigkeiten noch Rekonstruktionen und pseudogeschichtliche Kontinuitätsillusionen überzeugende Wege zu sein. ch
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... über Geschichte, Partizipation, die Kultur des Kopierens und Kreativität

Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution: Entwurf einer politischen Philosophie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1990

Karsten Michael Drohsel auf Urbanophil.net: Ohne Raum kein Diskurs!

Paul Feyerabend: Wissenschaft als Kunst. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003

Dirk von Gehlen: Mashup. Lob der Kopie. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011

Rittel, Horst W.J.: Dilemmas in einer allgemeinen Theorie der Planung. Mit Melvin M. Webber. In: ders.: Planen, Entwerfen, Design. Ausgewählte Schriften zu Theorie und Methodik. Herausgegeben von Wolf D. Reuter. Stuttgart, Berlin, Köln 1992, S. 13–36

Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1989