Wissen und Denken

Ursula Baus
7. September 2011

Die Angst davor, dass die Generation Google durch den Wechsel vom Buch zum Bildschirm einen Großteil menschlichen Wissens außer Acht lässt – mehr noch: vernichtet, ist verbreitet. Inzwischen fährt die Angst als Schrecken in die Glieder derer, die Buch, Bibliothek und Archiv noch als einzigen Quell ihres Wissens kennen. So mag es sich erklären, dass in den letzten Jahren viele Anthologien erschienen sind, in denen wichtige Texte – meistens auszugsweise – zu bestimmten Themen versammelt sind, obwohl sie in Bibliotheken und auch via Buchhandlungen, ZVAB oder Amazon leicht zugänglich sind. Zu diesen Anthologien ist der Band 1 einer neuen Reihe zum Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften erschienen, der das weite Feld mit Texten zur Ästhetik des sozialen Raumes öffnet. Ein "erweiterter Architekturbegriff" wird in Aussicht gestellt, wobei es denn doch "nur" um interdisziplinäres Denken und Lernen geht. Die Autoren beklagen unter anderem, dass "rechtliche, ökonomische, politische und soziale Bedingungen des Bauens ... nicht ... zum Gegenstand expliziter Auseinandersetzungen werden". Dass nun in diesem Zusammenhang Texte in den Kategorien 1. Architektur als Kunst, 2. Techniken der Wahrnehmung, 3. Geschichte der Sinne, 4. Körper, Leib und Raum, 5. Lesbarkeit, 6. Praktiken und Situationen zusammengestellt werden, wundert als Einlösung des Versprechens. Die Einführungen zu den Kapiteln variieren in sprachlicher und inhaltlicher Qualität recht deutlich und überzeugen in ihrem Zusammenhang zum "sozialen Raum" nur mäßig – das schadet der Nützlichkeit der Anthologie grundsätzlich jedoch wenig. Die Literaturhinweise sind allerdings lückenhaft, so dass man gut beraten ist, sie mit anderen und eigenen Recherchen zu ergänzen. Es zeigt sich die Abhängigkeit von "Bezugs-Philosophen": Ohne Foucault, Bourdieu oder Lefèbvre als Kronzeugen eigener Thesen aufzurufen, scheint derzeit kaum eine Publikation auszukommen.
Grundsätzliches im Unterschied zwischen Theorie und Philosophie der Architektur nahm sich der Heidelberger Philosoph Ludger Schwarte vor - auf ihn kommen wir in den nächsten Wochen zurück.

Handfester scheint da eine europäische Architekturgeschichte, die nationale Perspektiven hinter sich lässt und die osteuropäischen Entwicklungen gleichberechtigt verfolgt. Der Autor – ehemals Direktor des NAI und jetzt Chefredakteur von A10, der einzigen europäischen Architekturzeitschrift – gesteht unumwunden ein, vom Osten nicht so viel in Erfahrung gebracht zu haben wie vom Westen. Trotzdem kündigt Ibelings keine internationale, sondern eine europäische Architekturgeschichte an, beklagt, dass es eine europäische Historiographie leider nicht gebe und rehabilitiert in diesem Zusammenhang den Begriff des "Stils". An fünf Kapitel mit geschichtsmethodischen Anliegen schließen sich die Architekturbeispiele an. Reich bebildert (Ibelings bediente sich bei Wikipedia und Wikimedia Commons, was Bilder in Briefmarkengröße und teilweise schauderhafter Qualität zur Folge hat), öffnet das Buch den Blick nach Osten; man wird mit Namen konfrontiert, die hierzulande kaum jemand kennen dürfte: Ödön Lechner, Bohdan Pniewski, Marke Leykam, Nikola Dobrovic und vielen anderen. Das Buch lädt zum Blättern ein, und wenn man in Ibelings' Texte hineinliest, ist man mit der weltläufigen Kenntnis des Autors konfrontiert, der – gut schreibend – versucht, die Fülle zu sortieren, Parallelen zu entdecken, einander Ähnliches auszumachen und den Blick auf ein europäisches Ganzes zu lenken. Man ahnt, was in der Architekturgeschichtsschreibung alles aussteht! ub

Hauser, Susanne, Christa Kamleithner und Roland Meyer (Hg.): Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Zur Ästhetik des sozialen Raumes. transcript Verlag, Bielefeld 2011, 366 Seiten, ISBN 978-3-8376-1551-7, 24,80 Euro.

Ibelings, Hans: Europäische Architektur seit 1890. Jovis Verlag, Berlin 2011, 240 Seiten, ISBN 978-3-86859-038-8, 39,80 Euro.

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