Vom Zählen, Sparen und Träumen

Christian Holl
22. August 2010
Warner Bross

Das Bohrloch im Golf von Mexiko war noch nicht endgültig gestopft worden, da schickten die Agenturen Bilder von der "Volkszählung der Meere“ um die Welt. Da man sich lieber nicht zu lange damit aufhalten wollte, was das über 100 Tage ausströmende Öl im Meer und an den Küsten alles zerstört hatte, wurden die Bilder (die in solchen Fällen meist atemberaubend genannt werden) von seltsamen Meeresbewohnern dankbar aufgenommen – Botschaft: Es gibt sie noch, die schönen Fische. Genauso unangenehm unpassend diese Kampagne nach der Katastrophe der Deepwater Horizon waren, war der Begriff der Volkszählung wiederum angesichts der sich im Anschluss daran erhebenden Empörung über Google Street View. Hier werden zwar keine Meeresvölker gezählt, sondern Häuser fotografiert und ins Internet gestellt. Dass sich daraus für den Findigen trotzdem kommerziell verwertbare Sachverhalte ergeben können, ist nichts Neues. Vergleichbares geschieht mit allen möglichen Plastikkarten, Handys, Computern und GPS-Geräten schon seit Jahren, ohne dass sich jemand noch darum scherte. Und so fragt man sich, ob die Bedeutung von Architektur nicht doch unterschätzt wird, wenn das Bewusstsein fürs zu schützende Private ausgerechnet anhand von veröffentlichten Hausfassaden geweckt wird. Architektur und Intimität – dazu passte der Blockbuster des Sommers: Virtuos und (da ist es wieder) atemberaubend inszenierte Christopher Nolan in Inception, welche Kraft die Architektur auf unsere Träume und Emotionen hat, wie sie mit ihren Bildern unsere Unterbewusstsein prägt. Kindheit, Schuld, Verbrechen, alles, was den Menschen tief bewegt, lässt sich durch Architektur ins Bild setzen. Da wird das Erwachen mitunter zu einem erlösenden Moment. Unbedingt anschauen! So unbedingt anschauen, wie man nun, da es Weltkulturerbe geworden ist, auch die Oberharzer Wasserwirtschaft sollte. Genehmigt hat das UNESCO-Komitee übrigens auch die Brücke im Mittelrheintal.
Unangenehm war das Erwachen im Sommer hingegen für Planer, Städtebauer und Denkmalpfleger: Die Städtebauförderung soll rabiat zusammengestrichen werden. Gegenüber 2009, als es noch 569 Millionen waren, sollen 2011 nur noch 305 Millionen Euro fließen – erfolgreiche Förderprogramme wie Stadtumbau Ost und West, Soziale Stadt und städtebaulicher Denkmalschutz drohen abgeschafft zu werden. Immerhin, man kann noch protestieren – und sollte es hier schleunigst tun. Den Städten steht eh schon das Wasser bis zum Hals. In Heidelberg mag es ein Grund dafür gewesen sein, dass die Bürger sich gegen den Bau einer Stadthalle entschieden haben (Karl und Probst, München, hatten den Wettbewerb 2009 gewonnen) – sie bevorzugen wohl die Verbesserungen im direkten Wohnumfeld, anstatt auf sie zugunsten teurerer Prestigeprojekte zu verzichten.
Es gibt auch Stimmen, die recht plausibel argumentierten, dass die Konkurrenz unter den Städten, gesteigert durch deren klamme Finanzen, die Verantwortlichen in Duisburg so weit trieben, alle Vorsicht und Verantwortung für das Megaevent fahren zu lassen – die Tod bringende Panik, in der es endete, gehört zum Finstersten, was diesen Sommer passiert ist. Das war kein Traum mehr, aus dem aufzuwachen erlösend gewesen wäre. Um so bitterer, dass die Hoffnung gering ist, dass aus dem Unfassbaren von Duisburg tatsächlich die Lehren gezogen werden, die an den Ursachen statt an den Symptomen ansetzen. Die Ignoranz, mit der immer weiter die Gewinne Weniger zulasten des Gemeinwohls gesteigert werden, sie raubt einem nun wirklich den Atem. ch

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