Verlorene Zukunft

Claudia Hildner
5. September 2012
Reconstructing Future in München: am Olympiastadion, ... 

Die "heiteren Spiele" in München waren ein mutiges Experiment: Sie sollten ein neues Deutschlandbild ohne Gewalt und ohne staatliche Selbstinszenierung vermitteln, waren geprägt von einer offenen Architektur und einem entspannten Umgang mit dem öffentlichen Raum. Das Sicherheitskonzept baute nicht auf Überwachung und Autorität, sondern auf die Zurückhaltung der Ordnungskräfte, vertraute auf die Vernunft und den guten Willen der Besucher.
Zuerst sah es so aus, als ob die Vision von Offenheit und Freiheit funktionieren könnte – mit dem Anschlag auf die israelischen Sportler am 5. September 1972 endete sie jedoch jäh. Der Versuch von München wurde nicht wiederholt, die Entwicklung ging in eine andere Richtung. Ihr vorläufiger Zwischenstand ließ sich in London 2012beobachten: Militärische Streitkräfte halfen dabei, den öffentlichen Raum zu sichern, Raketenwerfer auf Wohngebäuden sorgten für die Terrorabwehr – die Stadt verwandelte sich in eine militarisierte Zone.

... im Hofgarten .... 

Um eben das, was durch München 1972 hätte möglich werden können, geht es in dem Projekt "Reconstructing Future" der Künstler Dellbrügge und de Moll. Zum 40. Jubiläum der Spiele schicken die Berliner vierzig junge Akteure durch die Münchner Innenstadt, gewandet in Overalls und Kostüme, die als zeitgenössische Interpretationen der Outfits der damaligen Ordnungs- und Servicekräfte gelten können. Noch bis zum 11. September – ein Datum, das auch das Ende der Sommerspiele 1972 markiert – können die Performances der hellblau, gelb, orange, grün und silber gekleideten Gruppe an verschiedenen Orten in München erlebt werden. Je nach Kleidungsfarbe interpretieren die Akteure einen anderen Aufgabenbereich der Servicekräfte von 1972 künstlerisch um. Ihre Auftritte sind nicht streng durchchoreografiert, sondern vor Ort spontan an die jeweiligen städtebaulichen Gegebenheiten angepasst. Am Odeonsplatz etwa dienen kreisrunde Muster auf der gepflasterten Fläche als Ausgangspunkt. Die orangegekleideten "Platzanweiser" versuchen dann zum Beispiel, mit ihrem Körper den Raum zu vermessen, indem sie sich aus dem Kreis heraus gleichmäßig rückwärts bewegen. Für die umstehenden Passanten ist es eine interessante Erfahrung, plötzlich mitten in diese Performance zu geraten. Die häufige Frage "Wer seid ihr?" zeigt, dass die Verwechslungsgefahr mit einem außer Rand und Band geratenen Junggesellenabschied relativ gering ist.

... und am Max-Joseph-Platz. (alle Bilder: Reconstructing Future) 

Ob das, was München 1972 hätte bewirken können, durch die seltsam agierenden jungen Leute tatsächlich rekonstruiert wird, ob die "historische Distanzvermessung zwischen 1972 und 2012" gelingt, bleibt jedem selbst zu beurteilen. Wer den typisch Münchner Umgang mit dem Projekt beobachtet – in der Regel ein distanziertes Laissez-faire – mag sich vielleicht wünschen, dass die Truppe ihren Versuch an Orten oder zu Zeiten fortsetzt, an denen sie für eine größere Provokation sorgen kann: In Wohngebieten, in denen mehr Menschen leben, die kontroverse Erfahrungen mit der Staatsgewalt machen, oder im Rahmen der Münchner Sicherheitskonferenz, wenn sich die Stadt tatsächlich in ein Sperrgebiet verwandelt.

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