Tagespresseschau

Ursula Baus
5. Oktober 2011
Ganzseitig: Winfried Nerdinger in der Süddeutschen Zeitung vom 10./11. September 2011.  

Die Fachpresse kann schreiben, was sie will – ein breites Publikum erreicht sie nicht. Was "man" so in Sachen Architektur denkt, lässt sich stattdessen der Tagespresse entnehmen. "Das Kartell der Mittelmäßigkeit. Warum sind neue Gebäude in München oft so belanglos? Architekturhistoriker Winfried Nerdinger fällt ein hartes Urteil" – so betitelte die Süddeutsche Zeitung ihr langes Interview mit dem Leiter des Architekturmuseums in der Wochenendausgabe 209/ 2011, leider nicht online. Winfried Nerdinger geißelt die Gegenwart allerdings nicht so sehr wegen ihrer Architekten, sondern systematisch wegen ihrer Politiker, Behörden und Bauherren. Sein Anspruch: "… wenn sich mit Bauten bestimmte historische Zusammenhänge verknüpfen lassen, dann werden diese beim Sehen des Bauwerks wieder präsent. So erzählt eine Stadt ihre Geschichte durch Architektur". Kaum zu überschätzen ist Nerdingers Verdienst, in diesem Sinne auf Münchens Architektur der NS-Zeit hinzuweisen. Als Historiker vermisst er die Kontinuität gewagter Gegenwartsarchitektur vor allem nach 1972, als mit den Olympiabauten weltweite Aufmerksamkeit geweckt wurde: Couragiert und mit deutlicher, gesellschaftlicher Aussage wurde, so Nerdingers Analyse, in München seitdem nicht wieder gebaut. Gründe dafür seien der Druck des Kapitals und die typische Münchener Vorsicht, die er beispielhaft an der gescheiterten Werkbundsiedlung beklagt. Was nun weiß der (fachfremde) Leser nach der Lektüre des ganzseitigen Gesprächs mehr? Nicht viel, aber er wird motiviert, mit genau hinschauenden Augen durch die Stadt zu gehen. Es schwingt bei Winfried Nerdinger Einiges an Meinung mit – analytisch motiviert, aber nicht als wegweisende Proklamation.

Ist München eigentlich Provinz? Oder die "heimliche Hauptstadt"? Von der "Provinz" lesen wir in der von Giovanni di Lorenzo (Chefredakteur) inzwischen weichgespülten "Zeit", genauer: in Nr. 39/2011 (online hier). Friedrich von Borries – Architekt, Kurator, Romanautor, Design-Dozent – hat sich aus dem piefigen Berlin (Kiez neben Kiez; Sammelbecken derer, die eine Hauptstadtadresse für ihr Geltungsbewusstsein brauchen) ins fränkische Herzogenaurach zum neuen Adidas-Gebäude von Kada Wittfeld aufgemacht. Schon der Weg scheint das Ziel zu sein: Von Borries qualifiziert alles ab, was nicht Berlin ist und sieht in dem Adidas-Produktionsort schon wieder den Gesamtgestaltungsanspruch à la Nazis. Man muss hier einwenden, dass der Markenkult – um den geht es bei Adidas – nicht in Herzogenaurach, sondern von Geschäftsmännern wie Pierre Cardin & Co. schon vor Jahrzehnten in Paris gepflegt worden ist. Und ganzheitliche Gestaltungsansätze gibt es in der Kulturgeschichte ohnehin schon viel länger. Jeder, der im Lifestile was verdienen will, macht es heute so, egal wo. Nebenbei: Paris ist eine Hauptstadt, neben der Berlin stets nach Provinz müffelt. Es begegnet uns in der "Zeit" eine arg kurzgedachte These. Provinz: engstirnig, öde, totalitär, größenwahnsinnig. Hauptstadt Berlin: ablenkend, tolerant, widersprüchlich. Von Borries sucht gern das breite Publikum, seit kurzem auch mit einer arte-TV- Sendung: "Problemzonengymnastik. Fit für die Verteilungskämpfe des 21. Jahrhunderts" – online hier. Es gehe nicht um "Bauch Beine Po, sondern um Wohnen, Mobilität und Ernährung". Achtung: Augenzwinkernd sendet von Borries aus Berlin, das sei der "Mittelpunkt der Welt", und er betont prophetisch, dass er "ganzheitlich denkt". "Den Größenwahn von heute gebiert eben nur die Provinz" notierte er über Herzogenaurach. ub

Mit der mal wieder populärpresseüblich blödsinnigen Formulierung "Schwebt scheinbar …" wird in der ZEIT ein Bild vom Adidas-Gebäude präsentiert: Was, bitte, scheint hier zu "schweben"? (Bild: Die Zeit, 39/2011, Adidas AG) 
Friedrich von Borries predigt im TV aus Berlin "ganzheitliches Denken". (Bild: Screenshot) 

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